Kalendergeschichten

Inzwischen sind es wenige geworden, und die Verbreitung dieser wenigen steht mit dem früheren Interesse in keinem Vergleich mehr. Gemeint sind die Volkskalender, die es zahlreich gab und die auch viel gelesen wurden. Sie waren nicht nur der Bibliotheksersatz der einfachen Leute, sondern auch eine richtige Bildungsinstanz, wobei die Bildung noch selbstverständlich von der Religion her geprägt war. Es waren nicht selten katholische Priester, die sich dieser mühsamen Arbeit des Schriftenapostolats annahmen und das über Jahrzehnte hinweg.

In Deutschland ist Alban Stolz bekannt, den wir auch in unseren Sankt-Josefs-Blättern schon einmal in Zusammenhang mit dem hl. Rosenkranz erwähnt haben. Sein „Kalender für Zeit und Ewigkeit für das gemeine Volk und nebenher für geistliche und weltliche Herrenleute“, erlangte eine große Verbreitung. Alban Stolz war Bestsellerautor, so würde man heute sagen. Zu seinem beeindruckenden schriftstellerischen Werk zählen insgesamt 17 religiöse Volkskalender aus den Jahren zwischen 1843 und 1884, dazu Heiligenlegenden, Tagebuchaufzeichnungen und pastoraltheologische Schriften.

Ein weiterer Star unter den Volkskalendern war und ist der Reimmichl Volkskalender. Man kann es kaum fassen, aber seit über 100 Jahren ist dieser Kalender ein treuer Jahresbegleiter für viele Menschen. Der katholische Priester und Dichter, Sebastian Rieger, (geboren 28. Mai 1867 in St. Veit in Defereggen; † 2. Dezember 1953 in Heiligkreuz, Hall in Tirol) erwarb sich durch seine unermüdliche Arbeit den Namen: Reimmichl. Dieser Name ist eine Anspielung auf ein Original aus dieser Zeit, nämlich den in Sexten lebenden, äußerst begabten Geschichtenerzähler „Michl“, der von Beruf Schuster war.

Unser Reimmichl verfaßte im Laufe seines Lebens rund 60 Bücher, wobei seine Romane, Erzählungen und heitere Geschichten ein Millionenpublikum erreichten. Sein Gedicht „Tirol isch lei oans“ wurde – vertont von Vinzenz Goller – zur heimlichen Hymne Tirols. Es ist wohl kaum richtig abzuschätzen, welchen Einfluß diese Schriften vor allem auf die ländliche, bäuerliche Bevölkerung hatten und zu einer vertieften religiösen Bildung beitrugen.

Dabei boten die Volkskalender keinen rein theoretischen, für viele trocken wirkenden Unterricht, sondern weitgehend lebendiges Erfahrungswissen und einen gelebten und erlebten Glauben. Ganz besonders die Kalendergeschichten erfreuten Gemüt und Herz und zeigten den Lesern, was man in der Kraft des Glaubens alles vermag. Auch den heutigen Leser ergreifen diese Erzählungen unmittelbar, weil sie ihm letztlich aus dem Herzen gesprochen sind.

Wir beginnen unsere Kalendergeschichten mit einer an sich ungewollten Besinnung auf ein altes Schullesebuch. Wie vor allem die Eltern wissen, haben sich ja die Schullesebücher beachtlich verändert. Der erwachsene Leser denkt dabei oft willkürlich: Und mit diesen Texten, sollen die Kinder das Lesen lieben lernen? Da waren die alten Lesebücher doch ganz anders…

Das Schullesebuch meines Großvaters

Von Theodor Weißenborn

Am Nachmittag stand die Sonne ganz hoch über dem Wald, und es war sehr heiß auf dem Hof und im Garten. Da ging ich in das Haus, um mich oben ein wenig in die Eckstube zu setzen. Ich wußte, es war jetzt kühl auf dem Boden.

Auf der Treppe kam mir meine Schwägerin Sophie entgegen. Sie hielt ein Buch in der Hand. Ich blickte genau hin und sagte zu ihr: „Das ist ja Großvaters Schullesebuch!“

„Ja, ja“, gab sie mir zur Antwort, „das ist noch von Großvater. An der Schenke ist ein Mann aus der Stadt mit einem Wagen; der fährt überall umher und kauft die alten Bücher und Kalender. Ich habe schon alles zusammengesucht und in einen Korb getan. Die alten Sachen haben lange genug auf dem obersten Boden gelegen.“

Es war mir nicht recht, daß die Bücher aus dem Hause kommen sollten, und ich sagte: „Gib mir das Buch einmal her und warte noch mit dem Verkaufen! Ich will erst alles noch einmal durchsehen.“ Da gab sie mir das Buch, und ich stieg weiter hinauf auf den Boden. Ich wollte jetzt allein sein und ging daher nicht in die Eckstube, in der gerade die Kinder spielten, sondern in die kleine Kammer, die nach dem Hof zu liegt. Dort stand ich eine Zeitlang zwischen den goldenen Tüchern, die die Sonne auf den Boden gebreitet hatte, und hielt das Buch in der Hand, dann setzte ich mich an das Fenster, legte das Buch vor mich hin, legte meine Hände darauf und sah hinunter in den Hof. Das neue Dach des Schweinehauses leuchtete hell und rot in dem warmen Sonnenlicht, die Schwägerin wirtschaftete im Obstkeller, und an der Fachwerkmauer zum Nachbarhof lagen die Hühner und badeten in ihren Sandmulden. Das war alles so gut, ich saß da, ganz allein mit mir, und dachte nach.

Das ist seltsam, sagte ich zu mir, nun hast du dieses Buch wiedergefunden, und es ist dir so fremd geworden. Als du klein warst, hast du immer so gern darin gelesen, und jeder Satz war dir eine Offenbarung, ein Ding, das eine wunderbare Welt erschloß. Und heute, als du es wiedersahst nach so vielen Jahren, da hast du im ersten Augenblick gedacht: Nun ja, es ist ein altes Buch, mit sentimentalen Geschichten und schlechten Bildern. Was soll es mir! - Aber was hast du nun davon, daß du dies dachtest! Du bist arm geworden, weil du dieses Buch verloren hast, obwohl es doch vor dir liegt.

Du bist nicht besser als deine Schwägerin, dachte ich dann. Sie hat das Buch nur deshalb verachtet, weil sein Einband nichts mehr taugt; aber du hast seinen Inhalt verachtet. Du hast nur an die Eltern gedacht, die dieses Buch immer geliebt haben und denen es wehe getan hätte, daß man es verkaufte

Ich schlug das Buch auf, die Sonne schien auf das vergilbte Papier, und ich las:

Der Sommer

„Im Sommer scheint die Sonne heißer als im Frühling. Die vielen Blumen, welche noch blühen, das Gemüse in den Gärten und alles auf dem Felde schmachtet dann nach Regen. Alles bedarf der Erquickung. Da verdunkelt sich der Himmel, der Donner rollt, Blitze blenden das Auge, und ein wohltätiger Regen erfrischt die durstigen Bäume und Kräuter. Alles wächst nun noch einmal so schön und der Mensch freut sich darüber. - Aber die Hitze wird noch größer, das Getreide reift und es rötet sich die Kirsche. Sie wird den Wangen des munteren Knaben ähnlich und übertrifft sie bald an frischer Farbe. Die Stachelbeere reift mit der Johannisbeere, die Kinder pflücken sie jubelnd ab und löschen damit ihren Durst. Doch darf man nie unreines Obst essen, denn dies ist dem Menschen schädlich.“

Mir wurde so warm ums Herz, als ich das las. Ich erinnerte mich an einen Nachmittag, da ich als Kind bei Vetter Christoph in der Stube gesessen und zum ersten Mal diesen Aufsatz gelesen hatte. Die Fliegen hatten unter der niedrigen Stubendecke gesummt, die Sonne hatte vor den Fenstern in die Holunderbüsche geschienen und ich war so glücklich gewesen.

Da kam mir auch die Erinnerung an ein Lesestück, das der Großvater uns Jungen manchmal an Winterabenden vorgelesen hatte und das damals großen Eindruck auf mich gemacht hatte. Ich blätterte ein paar Seiten zurück und fand es in der Abteilung „Erzählungen, Gespräche, Parabeln und Fabeln“.

Da standen die Sätze, die ich als Kind so geliebt hatte und deren Klang mir seitdem immer verborgen in den Ohren gelegen hatte, bis er nun nach so vielen Jahren wieder in mir geweckt wurde. Ich las und hörte dabei wieder die Stimme des Großvaters:

Der arme Musikant und sein Kollege

„Eine schlechte Tat wird überall erzählt; aber wenn einmal eine gute geschieht, schweigt man davon. Drum mag ich nicht still bleiben, wenn ich eine gute Tat hier oder dort höre, und will gleich eine erzählen, die noch nicht gar alt ist.
An einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein großes Volksfest. Der Prater ist eine sehr große, öffentliche Gartenanlage, voll herrlicher Bäume, und der Hauptspaziergang der Wiener. Viel Volks strömte hinaus und Jung und Alt, Vornehm und Gering freuten sich dort ihres Lebens, und es kamen auch manche Fremde, die sich an der Volkslust beteiligten. Wo fröhliche Menschen sind, da hat auch der etwas zu hoffen, welcher auf die Barmherzigkeit seiner glücklicheren Mitmenschen angewiesen ist. So waren denn hier eine Menge Bettler, Orgel­dreher und dergleichen, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten…“

Ich war schon ganz vertieft und las immer weiter. Ich las, wie unter den Musikanten auch ein alter Invalide war, der die Violine spielte. Aber die Leute gingen an ihm vorüber, ohne sein Spiel zu beachten, und der Hut, den sein Pudel in der Schnauze hielt, blieb leer. Da setzte sich der alte Mann endlich erschöpft auf einen Stein, „stützte die Stirn in die Hand, und die Erde trank einige heimliche Tränen, und die sagt’s nicht weiter“.

Ein stattlicher Herr aber hatte den Musikanten schon seit einiger Zeit unbemerkt beobachtet und tiefes Mitleid mit ihm empfunden. Jetzt trat er an ihn heran, reichte ihm ein Goldstück und bat ihn, er möge ihm für eine Stunde seine Geige leihen. Das tat der alte Mann gerne. Der Fremde stellte sich nun dicht neben ihn und fing an zu geigen. Und er geigte so meisterlich, daß die Leute voll Andacht stehenblieben und daß sich bald eine große Menge Volks ansammelte. „Selbst die Kutschen der Vornehmen hielten an.“ Die Leute begriffen, daß der Fremde für den armen Invaliden neben sich spielte, und sie spendeten so viel Gold und Silber, daß der Hut sich rasch füllte. „Der Pudel knurrte. War‘s Vergnügen oder Ärger? Er konnte den Hut nicht mehr halten, so schwer war er geworden… Der Fremde stand da mit leuchtenden Augen und spielte, daß ein ,Bravo!’ über das andere schallte.“ Endlich aber, da der Hut sich schon zum zweitenmal gefüllt hatte und da alles in der größten Begeisterung war, legte er dem Invaliden die Geige rasch in den Schoß, „und ehe der alte Mann ein Wort des Dankes sagen konnte, war der Virtuose fort. ,Wer war das?’ rief das Volk. Da trat ein Herr vor und sagte: ,lch kenne ihn sehr wohl, es war der ausgezeichnete Geiger Alexander Boucher, welcher hier seine Kunst im Dienste der Barmherzigkeit übte. Er lebe hoch!’ ‚Hoch! hoch! hoch!’ rief das Volk. Und der Invalide faltete seine Hände und betete: ‚Herr, belohne du’s ihm reichlich!’ Und ich glaube, es gab an diesem Abende zwei Glückliche mehr in Wien. Der eine war der Invali­de, der nun weithin seiner Not enthoben, und der andere Boucher, dem sein Herz ein Zeugnis gab, um das man ihn beneiden möchte.“

Ja, das waren die Sätze, die mich als Kind so ergriffen hatten. Sie hatten mich auch jetzt wieder so bewegt, daß mir fast die Tränen in die Augen gekommen wären. Das war alles so gemütvoll geschrieben und so ehrlich empfunden, daß ich nun vollends erkannte, ich müsse alles tun, um dem nahezukommen; und ich schämte mich, daß ich es je geringgeschätzt hatte.

Ich blätterte noch ein wenig in dem Buch und fand all die Erzählungen wieder, die in meiner Kindheit immer so großen Eindruck auf mich gemacht hatten: „Der westphälische Hofschulze“, „Vater Gerhard; oder: Was Gott tut, das ist wohlgetan“, „Die gute Mutter“ und die schöne Geschichte „Kannitverstan“ von Johann Peter Hebel. Das Herz ging mir ordentlich auf, als ich so blätterte.

Endlich las ich noch einmal den Spruch, der auf der ersten Seite des Buches stand:

Mit Gott fang’ an

In Gottes Namen fang‘ ich an;
Gott ist es, der mir helfen kann.
Wenn Gott mir hilft, wird Alles leicht;
Wo Gott nicht hilft, wird Nichts erreicht.
Drum ist das Beste, was ich kann, -
In Gottes Namen fang‘ ich an.

Wie wahr und gut waren diese Worte! Wie war das etwas so Starkes, etwas so fest Gefügtes, etwas so Bleibendes! Es war das, wonach ich mich seit meiner Kindheit immer gesehnt hatte und was mir in meinen ersten Lebensjahren so selbstverständlich zu eigen gewesen war. Nun hatte ich es wiedergefunden. Ich sah seine Spuren vor mir, seine Macht ergriff mich, ich ließ es geschehen…

Da war ich dem Glück meiner Kindheit ganz nahe.

Ich saß noch eine Weile in der Kammer, hörte, wie die Vögel in den Gärten sangen, und sah durch das Fenster in das Land hinaus, wo die weißen Wege fern in den Himmel liefen; und ich dachte, wie mein Großvater in seinem ganzen Leben außer der Bibel nur dieses eine Buch gelesen hatte und ein so guter Mann gewesen war.

Dann bin ich hinuntergegangen zu den andern und habe ihnen gesagt, daß sie keines der alten Bücher aus dem Haus geben sollten. Das Lesebuch ist von da an immer in meiner Nähe gewesen, und ich wußte, ich könnte nie wieder ganz arm sein, wenn ich nur immer dieses Buch behielte und wenn ich nur weiterhin mit dem gleichen Vertrauen in ihm läse, mit dem mein Großvater in ihm gelesen.

So ist es in der Tat mit vielen alten Texten und Geschichten, sie sind noch voller Gemüt und sprechen uns spontan an, weil sie voller Wahrheit sind. Denn letztlich ist es die Wahrheit, die uns ergreift, weil die Wahrheit immer die richtige Deutung unserer Wirklichkeit ist. Diese richtige Deutung zu finden, ist letztlich das Wichtigste in unserem Leben. In einer weiteren Kalendergeschichte werden wir darauf aufmerksam gemacht, was ein wahrer Weiser ist. Die Weisheit ist nicht abhängig von der Intelligenz, sondern vielmehr von einem guten, einem reinen Herzen. Früher hat es öfter solch Weise gegeben, die durch ihre Lebenserfahrung einen ganz tiefen Glauben erwarben.

Der Weise aus dem Walddorf

Drei Weise kamen aus dem Morgenland hinter dem Sterne her, der ihnen den Weg zur himmlischen Wiege wies. Und sie beteten an … Das waren die ersten Weisen, die ich als Kind schon kannte. Und es waren wirkliche Weise, wie ich heute weiß, denn sie waren klug und suchten nicht Erdentand, sondern das Himmelshöchste, den menschgewordenen Gott. Ich habe später noch allerhand Weise kennengelernt, eine ganze Menge sogenannter Weltweiser. Die meisten von diesen waren aber bloß Weltkluge, die durch das Feuerwerk ihrer sprühenden Geistesfunken eine Weile zu blenden wußten. Ihre Klugheit war gegen die wahre Weisheit etwa wie das Licht einer Taschenlampe zur allbelebenden Weltensonne.

Heute ist mir ein Weiser aus dem Walddorf daheim eingefallen, den ich über den Weltweisen längst vergessen hatte. Zu meiner Schande muß ich es gestehen. Denn das war ein Weiser von so hohem Rang, daß ich mich wundere, wie ich dazu kam, ihn nicht längst den Wirbeln der Vergessenheit entrissen zu haben. Es war der Häuslsepp, meiner Ahne nachgeborener Bruder.

Sein Lebenslauf ist leicht erzählt: Bauernkind, Hirtenjunge, Kleinknecht, Großknecht daheim auf dem Vaterhofe bis zu den Tagen der Gebrechlichkeit. Dann kam er aufs Gnadenbrot ins Nebenhaus, weshalb wir Kinder ihn nur den Häuslsepp nannten. Da es ihm im kleinen Stübchen wohl zu langweilig war, saß er immer auf der Herdbank in unserer Stube und stieß mit seinem steifen Fuß die Kinderwiege, daß sie hin- und herschaukelte. Sein großes, blaues Schnupftuch, das ihm aus der Zwilchjacke hing, pendelte mit im Wiegentakt. So weiß ich den Unberühmten, Vergessenen. Und ich erinnere mich der großen Leere, die ich empfand, als der Häuslsepp nicht mehr auf seinem Ofenbankplatz zu sehen war. Eine Kindsmagd er­setzte die Stelle des Heimgegangenen.

Was aber ist es mit der Weisheit des Häuslsepp?

Wenn wir Kinder morgens aus den Schlafräumen in die Stube kamen, saß der Häuslsepp schon an seinem gewohnten Platz, stieß die Wiege, darin das Jüngste lag, und ließ das blaue Schnupftuch baumeln. Und wenn wir uns tunlich um ihn drängten, war sein Morgengruß an uns Tag für Tag: „Brav, brav! Hab’ schon gebetet für euch!“

Wenn der Leichenbitter, der Metzger, der Kaminfeger, der Hochzeitlader, der Gemeindediener oder sonst jemand in die Stube kam, war des Häuslsepp steter Gruß: „Hab’ schon gebetet für dich!“ Auch wenn es widerwär­tige und selbst feindselige Leute waren wie Bettler, Schnapsbrüder, Land­streicher oder Gerichtsboten, der Häuslsepp hatte für jeden den gleichen Willkommgruß: „Hab’ schon gebetet für dich!“

Ich kann mir nicht vorstellen, für wen der Häuslsepp nicht gebetet hätte. Seinem zuvorkommenden Gebete war keiner zu hoch, keiner zu gering, keiner zu sündhaft, keiner zu heilig. Er betete für Kaiser und Papst, für Minister und Bischöfe, für Offiziere und Amtsleute, für Großbauern und Armenhäusler, für Handwerker und Holzknechte, für Wildschützen und Botenweiber. Sein Gebet umspannte wie der blaue Himmelsbogen die ganze Menschheit, Gute und Böse, Christen und Heiden, Ehrliche und Lumpen, Alte und Junge, Deutsche und Franzosen, Chinesen und Botokuden, Last­träger und Leichtsinnige. Und was das Schönste war: Er hatte für jeden und jede, die mit ihm in Berührung kamen, immer schon im voraus gebetet, nicht erst hintennach, wenn es vielleicht schon zu spät war.

Was sagt man also zur Weisheit des Walddörflers, des heiligen Häuslsepp? Es ist die höchste Weisheit, die ich mir denken kann: für jedermann beten, für alle beten, für Freund und Feind, für die ganze Menschheit, für alle und alle schon im voraus gebetet haben. „Hab’ schon gebetet für dich!“ Es ist die Weisheit, die entwaffnet, die jedem Stachel die Spitze abbiegt, die Frieden bringt, die Berge versetzt, die Täler einebnet, die die Welt in einen Garten Gottes verwandelt, wenn — ja wenn jeder Mensch ein Häuslsepp wäre in Wort und Werk, in Gesinnung und Tat.

Diese Weisheit ist ganz aus dem Herzen Gottes gewachsen, ganz aus dem Heiligen Geiste geboren und zuckt wie weiland die Flammenzungen über die Menschheit hin, Herzen suchend, die sie ergreifen und entzünden möch­te: „Bruder Mensch, hab’ schon gebetet für dich!“

Die unbewußte Weisheit des Häuslsepp hat die Kraft in sich, die Welt so zu wandeln, wie es alle Guten wünschen, wie es Gott selber will. Es ist die Weisheit von Bethlehem, es ist die Weisheit Golgothas, es ist die Weisheit des Ostermorgens, es ist die Weisheit der Pfingstflammen.

Diese Weisheit könnte und möchte das Antlitz der Erde erneuern.

Wie, wenn hadernde Eheleute sich den Morgengruß des Häuslsepp sagten: „Hab’ schon gebetet für dich!“ — Wie, wenn Prozeßgegner, bevor sie zu den Anwälten liefen, sich die ehrliche Versicherung gäben: „Bruder Gegner, hab’ schon gebetet für dich!“ — Wie, wenn ein Begleiter, ein Verleumder, ein Ehrabschneider, dem Geschädigten die Hand zum Gruße böte: „Verzeih mir, ich will alles gut machen. Und — ich hab’ schon gebetet für dich!“ — Wie, wenn Staatsmänner, Kriegsherrn, Parteigewaltige sich zusammentäten und jeder von ihnen bekennen würde „Mit Haß geht es nicht weiter. Laßt uns in Liebe walten. Und sieh, Bruder Feind, ich hab’ schon gebetet für dich!“

Das Sätzlein des Weisen aus dem Walddorf entwaffnet alle Welt. Was keine Konferenz, kein Schiedsgericht, kein Völkerbund vermag, der arme Häuslsepp könnte es mit seinem kurzen Gesätzlein: „Hab’ schon gebetet für dich!“

Wie tief enthüllt das Wort alle Aufgeblasenheit, allen Standesdünkel, allen Machtkitzel, alle Armseligkeit, alle Hilfsbedürftigkeit der Weltmenschen und Gewalthaber. Wenn die Weisheit des Walddörflers auf Erden zur Macht käme, würden die Weltreiche wie Seifenblasen zerplatzen, würde ein einziges Friedensreich Gottes, würdig des menschlichen Namens. Böses könnte nicht mehr aufkommen, es würde im Keime erstickt. Aber das Gute würde in Herrlichkeit erstehen, und seine Fülle würde erquicken und beglücken von Mensch zu Mensch, von Land zu Land, von Volk zu Volk. Himmelsluft würden wir atmen, und das Leben wäre erst lebenswert, wenn es aus der Weisheit des Häuslsepp gelebt würde, ein Leben so unvorstellbar schön und beseligend, daß uns, glaube ich, die himmlischen Heerscharen darum beneiden würden, wenn der Neid im Himmel eine Stätte hätte.

Darum sei die Weisheit des armen, unberührten, vergessenen Häuslsepp aller Welt kundgetan, auf daß sein Gruß die große Wandlung wirke: „Hab’ schon gebetet für dich!“

Franz Schrönghamer-Heimdal

Der Autor dieser Geschichte, Franz Schrönghamer-Heimdal, hatte die Begabung dem Volk nicht nur auf den Mund zu schauen, sondern auch ins Herz. Wobei das Menschenherz etwas ganz und gar Außergewöhnliches ist, wird doch in diesem der Geist, der Verstand, der Intellekt mit dem Gemüt verbunden – oder sollte man sagen vermischt oder vermengt? Der moderne Mensch versteht diese Vermengung nicht mehr, weil ihm die Religion, der göttliche Offenbarungsglaube fehlt. Folgende Geschichte, die von einer recht kuriosen Ehe handelt, gibt so ganz nebenbei einen tiefen Einblick in diese Vermengung von Verstand und Gemüt beim Menschen.

Die Himmelsleiter

Die Pfandlin ist eine Lange und Dürre, schaut aus wie die teure Zeit, und man sieht’s der von weitem an: das ist eine ganz Ungute und Gott gnade dem Mann, der die haben muß! Der sie haben muß, ist der Pfandl, ein kreuzbraver Kamerad. Ist’s nicht meistens so, daß die schlimmsten Frauen die bravsten Männer haben? Aber eigentlich recht ist ihm geschehen, dem guten Pfandl, daß er in ein solches Fegfeuer geraten ist. Hat ihn nicht die ganze Welt gewarnt, wie er damals das Heiraten im Sinn gehabt hat? Aber nein, nichts hat er drum gegeben, und gerade die hat er haben müssen, von der ihm die ganze Welt abgeraten hat. — Es wird nicht soweit gefehlt sein, in Gottes Namen, hat er auf solche Einwände erwidert und ist richtig hineingefallen. Jetzt hat er’s! Den ganzen Tag schinden und rackern wie ein Ochs, kein gutes Wörtl hören Tag und Nacht, aber ungute mehr als genug und einen schlechten Fraß jahrein, jahraus, den nicht einmal ein Bettelmann anschauen tät. In ein Wirtshaus oder auf eine Lustbarkeit ist er die zwölf Jahre noch nicht gekommen, die er in dem Fegfeuer sitzt. Ja, und wie oft sieht man den armen Tropf mit einem blauen Aug, mit einem verbundenen Gesicht oder mit einem Pinkl auf dem Kopf. Fragst ihn, was ihm fehle, sagt er, der Imm habe ihn gestochen, oder er habe sich angestoßen im finstern Stall. Die Leute wissen gar wohl, wer der Imm ist, denn die Pfandlin ist mit den Händen grad so grobauf wie mit ihrem Maulwerk.

Wie wundert sich der Leitenwirt, daß der Pfandl heut einmal sein Gast ist! Wie sich der Leitenwirt genug gewundert hat, gibt er dem seltsamen Gast die Ehre und setzt sich hin zu ihm auf ein Pläuscherl: Wie’s geht und steht, vom Wetter und Weltlauf. „Und geht’s der Pfandlin alleweil gut?“ fragt der Leitenwirt. „Alleweil“, sagt der Pfandl. „Aber heute ist sie wallfahrten auf Mariahilf, weil wir heute grad zwölf Jahre verheiratet sind. Sie geht wallfahrten und ich tu wirtshäuseln. Sie hat das geistliche und ich das weltliche Trumm von unserem heutigen Ehrentag. Sie trinkt beim Lebzelter in der Stadt ein Kaffeesüpperl, und ich kauf mir bei dir eine Halbe. In einer richtigen Ehe ist’s wie bei einer Uhr: Jeder Teil tut was anderes, das eine Rad läuft so hin und das andere so her, und auf die Letzt’ stimmt doch alles zusammen. Jawohl“, sagt er wie zur Bekräftigung, und dabei stopft er sich ein neues Pfeiferl. Und tut so still zufrieden, als wäre in seiner Ehe alles eitel Glück und Wohlsein gewesen. Und man weiß es doch ganz anders.

„Da sieht man’s wieder, wie schlecht die Leute oft reden“, fährt es jetzt dem Leitenwirt heraus. „Warum?“ fragt der Pfandl. „Na, ja, wie man halt hört“, sagt der Wirt, „die Leute reden, deine Alte ist ein richtiges Fegfeuer, und wenn man dich hört, ist’s wieder ganz anders. Die Welt ist halt schlecht.“ Der Pfandl pafft ein paarmal, daß die Rauchschwaden wie Gewölk am Stubengebälk hängen, und schaut den Leitenwirt ruhig und gelassen an. „Paß auf, Wirt“, sagt er dann feierlich wie ein Prophet. „Das Ding hat zwei Seiten, wie alles auf der Welt. Es kommt bloß darauf an, wie man’s anschaut. Ich schau’s so an, und die Leute schauen es anders an. Darfst mir’s glauben, wie ich die Pfandlin geheiratet habe, habe ich gewußt, was sie für eine ist. Daß ich nur Maulschellen und Rippenstöße krieg von ihr, habe ich von eh’ schon gewußt. Siehst, Wirt, und deswegen reden die Leut von der Pfandlin so ungut. Die schauen sie halt von einer andern Seite an wie ich. Aber mir ist die Pfandlin gerade so recht, wie ich sie gekriegt habe. Ich habe mir die Meine grad deswegen so ausgesucht, weil ich’s eh’ schon gewußt habe, daß ich bei der ein Leben krieg wie ein Hund. Ich will keinen Himmel auf der Welt. Ich will, daß es mir recht schlecht geht auf der Welt, weil ich gewiß bin, daß mir nachher in der andern Welt der Himmel sicher ist. Wenn mir meine Alte recht ungute Worte gibt, höre ich die Engel singen. Wenn sie mir einen Fraß hinstellt, freue ich mich auf die himmlischen Weintrauben. So habe ich auf Schritt und Tritt schon einen Vorgeschmack von der himmlischen Seligkeit. Siehst, das sind die zwei Seiten: Die Leute heißen die Pfandlin ein wahres Fegfeuer, für mich aber ist sie, wie sage ich nur, eine wahre Himmelsleiter!“ Der Pfandl vergräbt sich hinter einer Rauchwolke, daß man nicht sieht, ist’s ihm Ernst oder Spaß. Und der Leitenwirt weiß nicht, wie er dran ist. Er hat auch nicht mehr lange Zeit zum Nachdenken, denn es geht die Türe auf. Wer ist’s? Die Pfandlin! „Habe ich mir’s doch gleich gedacht, daß er heute sauft, derweilen ich wallfahrten bin“, sagt sie und haut mit ihrem handfesten spanischen Rohrschirm in die Rauchwolke, daß man den Pfandl seufzen und stöhnen hört.

„Du Höllenteufel“, denkt sich der Leitenwirt, wie die Pfandlin ihren Eheherrn aus dem Winkel holt und heimstampert. Denn er schaut das Ding von der andern Seite an, wie die Leute alle. „Du Himmelsleiter!“ denkt sich der Pfandl, denn er schaut das Ding auf seine Art an.

Dem Leitenwirt geht die Unterhaltung mit dem Pfandl lange im Kopf herum. Und er erzählt die Geschichte von der Himmelsleiter einmal dem Lindenmüller. Der lacht sich den Hals voll und erzählt sie gleich der Seinen. Die Lindenmüllerin hat ein Maulwerk wie ein Mühlrad — und die Geschichte gefällt ihr so gut, daß man nach drei Stunden in vier Pfarreien die Pfandlin nicht mehr Pfandlin, sondern Himmelsleiter heißt. — Die Steinbergerin, eine alte Base der Pfandlin, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und bringt die Geschichte gleich ans richtige Örtel, nämlich an die Himmelsleiter. „Hauskreuz“, sagt der Steinberger, denn er hat eine andere Weltanschauung wie der Pfandl.

Die Pfandlerin hört die Geschichte von der Himmelsleiter einmal, zweimal, dreimal. Meint ihr wohl, sie fährt jetzt dem Pfandl mit dem Schürhaken übers Maul? Oder sie wirft ihm die Suppenschüssel an den Kopf? Oder sie pelzt ihm den Stiefelzieher zwischen die Beine, daß er hinfällt und die Engel wieder singen hört? Da kennt ihr die Pfandlin schlecht. Sie ist drei Tage sprachlos, und der Pfandl will ihr schon um den Doktor schicken, ob ihr etwas fehle. Am vierten Tag findet sie endlich den Verstand wieder und auch die Sprache. In mutterseeleneinsamer Stunde tut sie einen Schwur: Nein, Pfandl, so wahr ich die Pfandlin bin, ich gebe dir keine Himmelsleiter ab. Schau nur zu, wie du sonst in den Himmel kommen magst, ich baue dir keine Staffel mehr da hinauf, ich nicht! So wahr ich die Pfandlerin bin!“

Wie der Pfandl an dem Abend heimkommt, stellt sie ihm mit dem freundlichsten Geschau der Welt einen Eierschmarren hin mit einem Weitling voll Sauermilch mit fingerdickem Rahm obenauf und wünscht ihm einen gesegneten Appetit. Der Pfandl tut, als hätte er um die Zeit nie eine magere Molkensuppe mit einer schwarzspindigen Brotrinde darin gegessen, und als wär’s alle Tage so gewesen wie heute. Wie der Pfandl dann ins Bett geht, findet er statt dem Strohsack ein mollweiches Unterbett, und der Pfandl legt sich hinein und sagt: „Ah!“ als wär’s alle Tage so gewesen. Und die Pfandlin wünscht ihm eine gute Nacht, als hätte sie früher nie ein unrechtes Wörtl gesagt.

Am andern Tag träumt der Pfandl noch in den mollweichen Federn, da werkt die Pfandlin schon in Stube und Stall und macht alles fertig, bis er aufsteht. Er sieht’s und setzt sich gleich zur Morgensuppe, als hätte er nie eine Stallarbeit getan. Und zur Suppe ißt er die flaumigsten Kräpflein, als hätte er nie einen erfrorenen Kartoffel hinuntergewürgt.

Beim Wiesenräumen in der Leiten singt und pfeift die Pfandlin und ist flink wie ein Wiesel, als wäre sie dem Pfandl nie mit dem Rechen über den Rücken gefahren. Um neun Uhr dann sagt sie: „Mir ist, der Leitenwirt hat gerade frisch angestochen!“ Nimmt den Krug, springt fort und bringt dem Pfandl eine frische Maß, und der trinkt, als hätte er nie mit einem Strohhalm traniges Wasser aus dem Wiesengraben gesogen.

Am Abend sagt sie dann: „Du bist ein Mann und mußt mehr unter die Leute. Grad sehe ich den Steinhübler und den Pöck zum Leitenwirt gehen. Dir könnte auch eine Maß nicht schaden. Und da habe ich dir einen Rauchtabak, einen guten, laß ihn dir schmecken!“ Sie schiebt ihn sanft zur Tür hinaus, und fünf Minuten drauf sitzt er beim Leitenwirt am Ofentisch und tut, als wär’s alle Tage so gewesen.

So geht’s jetzt Tag um Tag, und niemand ist glücklicher wie die Pfandlin, weil es ihr so ausnehmend gelingt, ihrem Eheherrn die „Himmelsleiter“ zu verderben. Die Dinge gehen ihren Gang, und im Pfandlhaus ist alles wie ausgewechselt seit derselben Himmelsleitergeschichte beim Leitenwirt. Die Pfandlin ist jetzt eine Hausfrau wie Gold, und das Geschäft kommt in die Höhe, daß es nur so eine Freude ist. Das Gutsein und das Schöntun mit ihrem Mann ist ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen, und sie weiß selbst nicht mehr recht, tut sie’s noch zum Trotz wegen der „Himmelsleiter“ oder weil’s auch so geht — ja besser und schöner wie früher.

Und wie der Pfandl wieder einmal beim Leitenwirt sitzt und sein Feierabendpfeiferl raucht, da spielt der wieder auf die Himmelsleiter an und meint, jetzt gehen die Gänge umgekehrt wie von eh’. „Ist’s, wie’s ist“, sagt der Pfandl. „Wie’s ist, ist’s recht! Ja, jetzt habe ich den Himmel auch schon auf der Welt. Und da kann man sehen, daß eine Ehefrau eine Himmelsleiter ist so oder so.“ Und er bläst wieder eine Rauchwolke um sich her, eine von dem neuen Tabak, den ihm die Pfandlin gekauft hat, daß man wieder sein Gesicht nicht sieht und nicht weiß, was für Geister darauf spielen. Aber mir scheint, es sind rechte Schelmengeister!

Franz Schrönghamer-Heimdal

In der heutigen Psychologie – was eigentlich Seelenkunde heißt, aber da die modernen Psychologen gewöhnlich die Existenz einer Geistseele leugnen, sind sie Seelenkundige ohne Seele – spricht man sehr oft vom Unterbewußten. Irgendwie hat man aber den Eindruck, der Weg dorthin ist der Erkenntnis verbaut, weil man sich doch fragen muß: Was ist Unterbewußtes, wenn es gar keine geistige Seele gibt? Natürlich wissen wir, in jedem Leben gibt es Vergessenes, Verdrängtes, Verletzungen usw. Aus unserem katholischen Glauben wissen wir zudem, daß es Schuld gibt, weil es die Sünde gibt. Vergessene oder verdrängte Schuld liegt aber wie ein Alptraum auf unserer Seele – davon erzählt unsere nächste Kalendergeschichte.

Der Alpdruck des Gewissens

Ich fragte den Bergbauern Peter Christian einmal: „Wie ist das möglich und woher kommt es, daß Sie, noch auf dieser Welt lebend, die Strafen im Reinigungsort wahrnehmen können und fühlen müssen?“ Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, antwortete er mir: „Ein ganzes Jahr lang sah ich mich im Traume jede Nacht in der Ewigkeit. Es wurden mir dort Fehler, Vergehen und Versäumnisse vorgeworfen, die ich im Leben begangen hatte. Das versetzte mich jedesmal in einen solchen Schrecken, daß ich schweißgebadet erwachte und die Gewissensangst wie eine zentnerschwere Last durch den Alltag trug.

Meinen Gewissensängsten lag folgendes zugrunde: In meiner Jugend hatte ich mich sehr oft durch Notlügen aus der Patsche gerettet. Unsere Eltern — ohne Zweifel gut und wohlmeinend — erzogen uns sehr streng und griffen sofort zur Rute, wenn wir in jugendlichem Leichtsinn Streiche verübt oder Fehler begangen hatten. Aus Furcht vor der Strafe gewöhnte ich mich daran, alles abzuleugnen; ja, ich wurde im Erfinden von Ausflüchten und Lügen so gewandt und abgefeimt, daß mir die Eltern alles aufs Wort glaubten. Ich sah nichts Schlimmes dahinter, nur kluge Gefitztheit.

Einmal schlug ich beim Viehhüten durch einen unglücklichen Steinwurf einer unserer Kühe das linke Auge aus. Ich hatte sie mit dem Wurf nur in den Grenzen des Weideplatzes halten wollen, aber unglücklicherweise das Ziel verfehlt. Schluchzend erzählte ich meiner Mutter, ein Stein sei vom Berge herabgerollt und habe das Tier getroffen. Natürlich erbarmte mich das leidende Tier sehr, aber es erholte sich erstaunlich schnell und lebte noch viele Jahre. Damit fand auch ich wieder meine Ruhe.

Nach einigen Jahren kam mir dieses Ereignis aufs neue zum Bewußtsein und plagte mich Nacht für Nacht in meinen Träumen. Ich sah mich den Stein werfen und weinend zur Mutter eilen. Sie aber nannte mich einen gemeinen Lügner und drohte mir mit der Birkenrute. Bevor sie mich schlug, erwachte ich, geweckt von meinem eigenen Angstschrei. Einst hatte ich mit andern Schulbuben ein Fenster unseres Nachbarhauses zertrümmert, wodurch zwischen den 2 Familien ein großer Streit entstanden war. Ich log mich wieder heraus. Oft erschlich ich mir mit Lügen Erlaubnisse und erfand alles mögliche, um die Eltern irre zu führen.“

Doch dieses böse, mutwillige Treiben rächte sich, wie gesagt, später. Christian wurde Nacht für Nacht von furchtbaren Träumen gequält, und diese verfolgten ihn in den hellichten Tag hinein. Zweifel, Furcht, Gewissensnot bemächtigten sich seiner Seele. Er verlor die Freude an der Arbeit, am Leben. Ängstlich mied er die Menschen und verkroch sich in ein finsteres Brüten.

Er war aber doch zu christlich erzogen, als daß er sich ganz der Verzweiflung überlassen hätte. Er suchte Frieden in der hl. Beicht. Wie hatte er sich früher ohne Reue und Vorsatz seiner Fehler angeklagt und sich um kein Haar gebessert! Jetzt war es anders. Die Träume hatten ihm die ganze Verworfenheit seines Wesens aufgedeckt; er fand in reuigem Bekennen den Frieden der Seele. In der Kraft des Bußsakramentes begann er den Armen zu helfen, gab Almosen, und setzte sich für die andern ein. Unermüdlich arbeitete er auch auf seinem eigenen Hof und allmählich kehrten Freude und Zufriedenheit zurück. Er gab Gott die Ehre und suchte von jetzt an, Ihm durch pflichtbewußte Arbeit und Nächstenliebe zu dienen.

Zufolge der Wandlung, die in Peter Christian vor sich gegangen war, änderten sich auch die Träume. Nach wie vor beschäftigten sie ihn, waren jetzt aber mehr eine Begegnung mit den Verstorbenen. Er fürchtete sich nicht mehr. Im Gegenteil. Sie hinterließen in ihm ein Gefühl des Beheimatetseins in der jenseitigen Welt. Er wertete es nun als große Gnade des Himmels, daß er durch die quälenden Träume seinen gefährlichen Zustand erkannt hatte und rechtzeitig für das Böse sühnen konnte. Sein Leben war ganz Bereitschaft geworden.

P. Beat Steiner

Über den Tod und das Leben nach dem Tod gibt es viele Geschichten, weil es viel Erlebtes gibt. Der Unglaube will das einfach nicht wahrhaben, aber es ist dennoch ganz und gar wahr: Es stimmt nicht, daß noch niemand von drüben, also dem anderen Leben nach dem Tod, zurückgekehrt ist. Folgende Geschichte erzählt von den seltsamen Umständen eines Unglücks in den Bergen.

Das Licht auf dem Gletscher

Hüttenwart Donat Tannenritz sah seit einer Woche jede Nacht ein Licht auf dem Brunnengletscher. Es wanderte hin und her, bald oben am Gletscher, dann wieder zu unterst, verschwand für Augenblicke, und leuchtete gleich wieder auf, heller und eindringlicher als zuvor.

Hüttenwart Tannenritz war nicht ängstlich. Er glaubte nicht an Geister, viel weniger noch an Gespenster. Das Licht auf dem Gletscher konnte er nicht deuten. Er überlegte genau: „Auf dem Gletscher hat es nur Moränen, die keine Mineralien enthalten, welche bei Mondschein aufleuchten. Auch gibt es unter dem Eis keine Wurzeln von Bäumen, welche beim Verfaulen kleine elektrische Lichtblitze erzeugen. Also kann es nur ein menschliches Wesen sein, das jede Nacht dort drüben sein unsinniges Spiel treibt. Oder es sind Lichtreflexe, welche von irgend einer Gegend oder einer Militärübung herrühren.“ Um in das Geheimnis einzudringen, beschloß Hüttenwart Tannenritz, eines Nachts auf den Gletscher zu gehen. Von Zweifeln geplagt und etwas unsicher über den wahren Grund der Lichterscheinung, wagte er es nicht, allein zu gehen. Er bat zwei kräftige Sennen der Alp Gratwies, mit ihm zu kommen, gab ihnen aber den Grund seines nächtlichen Gletscherbesuches nicht bekannt.

Die Nacht war gewitterhaft und beinahe von undurchdringlicher Finsternis. Das war dem Hüttenwart Donat Tannenritz gerade recht. Er kannte den Gletscher besser als seine eigene Hosentasche, was die Gefahr, in eine Gletscherspalte zu stürzen, ausschloß. Auch konnte er sich in der Finsternis besser und ungesehener an das Licht heranschleichen. Die Sennen hatte er sicherheitshalber angeseilt. Auch verbot er ihnen zu reden und bat sie zugleich, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, um nicht durch etwelchen Lärm sein Vorhaben zu zerstören, worüber er sie nach getaner Arbeit aufklären werde.

Als sie geräuschlos und still in den Gletscher einstiegen, leuchtete zu ihrer großen Überraschung das Licht wieder auf. „Es sind noch andere Leute auf dem Gletscher. Ist etwa ein Unglück geschehen?“ fragten die Sennen. „Möglich, wir werden sehen“, gab Tannenritz zur Antwort. Das Licht bewegte sich dieses Mal nicht. Es stand hell und still an der gleichen Stelle. Vorsichtig, mit angehaltenem Atem, schoben sich die drei Kundschafter vor, bereit, bei der kleinsten Gefahr in Deckung zu gehen. Noch bevor sie jedoch zum Licht herangekommen waren und die Art und Form seines Trägers erkennen konnten, verschwand es in eine Spalte. Tannenritz kannte die Spalte. Sie war nicht tief, höchstens drei bis vier Meter, oben und unten gleich breit. Tannenritz leuchtete in die Spalte und erklärte den Älplern: „Es ist doch ein Unglück geschehen, da drunten liegt ein toter Mensch.“ Ist das die Lösung des Geheimnisses? dachte er. Er ließ sich von den Sennen in die Spalte seilen. Dort stieß er auf einen jungen Menschen, der noch nicht lange tot sein konnte. Sie kannten ihn nicht. Doch der Taschenkalender des Toten gab die erwünschte Auskunft. Es war ein junger Theologiestudent von Südfrankreich, der einzige Sohn einer Witwe.

Wie die Ärzte feststellten, war nichts an ihm gebrochen. Die Todesursache musste also Kälte und Erschöpfung gewesen sein. Obwohl die Spalte nicht tief war, war es dem Studenten nicht gelungen, sich allein zu befreien. Stundenlang musste er mit dem Tode gerungen haben. Das war bei allem Unglück wohl noch eine große Gnade von Gott gewesen, und Charles Allet hatte sie gut und tapfer ausgenützt. In seinem Taschenkalender, worin Adresse und Personalien angegeben waren, stand geschrieben: „Denjenigen, den Gottes Güte zu meiner Leiche führt, bitte ich, er möge meine arme, liebe Mutter benachrichtigen und sie trösten und ihr auch sagen, dass ich ergeben in Gottes heiligen Willen sterbe und im Reiche ewiger Freude für sie beten werde, damit sie alle Prüfungen des Lebens recht mutig und geduldig ertrage, bis wir alle, wieder vereint, Gottes Herrlichkeit und Liebe für immer erleben dürfen.“

Dem Hüttenwart Donat Tannenritz war es sehr daran gelegen, die Leiche persönlich nach Marseille zu begleiten, um so dem letzten Wunsch des Toten nachzukommen. Er wollte damit nichts anderes tun, als eine Pflicht erfüllen, die er christlich nannte, und zu der er auf wunderbare Weise von Gott selber geführt worden war.

Die große Belohnung dafür, die ihm Dank und Ergriffenheit zuteil werden ließen, verteilte er gerecht. Die beiden Sennen und seine Familie erhielten ihren Anteil, und das übrige schenkte er für die Rettung der Armen Seelen im Reinigungsort.

P. Beat Steiner

In einen Volkskalender gehören neben den Geschichten auch immer wieder Texte über die Glaubenslehre. Denn diese muß das ganze Leben lang aufgefrischt und vertieft werden. Manches hat man schon öfter gehört, aber doch noch nicht so ganz verstanden. Dann ist es notwendig, weiter darüber nachzudenken. Lassen wir uns darum einmal „Das ‚Wie‘ der Läuterung“ im Fegfeuer erklären, und zwar die Läuterung der Sinne.

Das „Wie“ der Läuterung

Die Strafe der Sinne. Die erste und hauptsächlichste Strafe des Jenseits ist also die Versagung der Gottanschauung in der Hölle oder deren Verzögerung im Fegfeuer. Das ganze alte Heidentum kannte, wie wir früher darlegten, Jenseitsstrafen, aber von der Entziehung der Gottanschauung wußte es gänzlich nichts. Es wußte eben nichts von der hohen übernatürlichen Bestimmung der Seele zur Teilnahme am Leben Gottes selbst. Und wie der Inhalt seines Jenseitslohnes in einem mehr oder weniger gesteigerten fortgesetzten Genuß der Diesseitsgüter bestand, so auch der Inbegriff der Jenseitsstrafen in einer Summe von erdachten sinnlichen Strafen.

Hören wir nur, was Plato in seinem Gorgias schreibt: „Es bestand unter Kronos das Gesetz für die Menschen — und es gilt, wie immer, so auch jetzt noch bei den Göttern —, daß derjenige, der sein Leben in Frömmigkeit und Gerechtigkeit vollbracht hat, nach seinem Tode auf die Inseln der Seligen versetzt wird und dort in voller Glückseligkeit wohnt, fern von allem Leid, während derjenige, der ein ungerechtes und gottloses Leben geführt hat, in die Gefängnisstätte der Buße und Strafe kommt, die man Tartarus nennt.“ „Hier werden sie wegen ihrer Sünden die schwersten, schmerzhaftesten und furchtbarsten Leiden die ganze unendliche Zeit hindurch ausstehen.“

Die Phantasie der alten Heiden hat all ihre Kraft angestrengt, um die schmerzlichsten und seltensten Strafen zusammenzustellen, wodurch die jenseitigen Sünder gestraft werden konnten. Eine reichliche Menge solcher Reinigungsmittel fand man in der nächsten Umgebung im Diesseits vor. Man verlegte sie einfach ins Jenseits. Und dies geschah um so leichter, als auch die jenseitigen Wesen, Götter wie Menschen, noch in einer gewissen Körperlichkeit gedacht wurden. So konnte man ohne Schwierigkeit die ganze Skala der irdischen Züchtigungsmittel auch auf die jenseitigen Menschen anwenden. Nirgends ergaben sich Probleme aus der geistigen Natur der Gestraften.

Es ist nun nicht zu leugnen, daß ganz derselbe naive Standpunkt der materiellen Strafmöglichkeit der jenseitigen Seelen auch vom späteren Judentum wie vom Christentum eingenommen wurde. Und wie auf beiden Seiten das Jenseits mit denselben Lokalnamen, wie Tartarus, Orkus, Hades, bezeichnet wurde, so operiert man auch in der Straftheologie vielfach mit denselben Peinigungsmitteln. Das hervorstechendste, meistberufene war das Feuer. Wir hörten bereits, daß es schon Zarathustra kennt, 1000 Jahre vor Christus, in seiner wirklich bedeutsamen Eschatologie. Von ihm kam es zu den Orphikern, von denen es dann Plato übernahm und später Virgil, der Lieblingsdichter Augustins. So hatte das Feuer als Straf- und Läuterungsmittel schon eine sehr lange Geschichte im Heidentum durchlaufen.

Aber auch im Judentum. Sie beginnt schon beim Propheten Isaias, also vor dem Exil und also sicher unbeeinflußt von antiken Ideen. „Siehe, der Herr wird kommen in Feuer, um seinen Zorn walten zu lassen in Glut und sein Dräuen in Feuerflammen; denn durch Feuer wird Gericht halten der Herr.“ Dies „Feuer wird nicht erlöschen und der Wurm nicht sterben.“ In der apokryphen Literatur des Judentums zur Zeit Jesu ist das Feuer ein sehr oft genanntes Strafmittel des göttlichen Gerichtes. Maßgebend und einflußreich war auch die großartige Gerichtsschilderung bei Daniel: Des göttlichen Richters „Thron ist von Feuerflammen, und seine Räder sind loderndes Feuer“. „Ein feuriger und reißender Strom ging aus von seinem Angesicht: Das Gericht setzte sich, und die Bücher wurden aufgeschlagen.“ Auf diesen Ton sind fast sämtliche apokalyptischen Gerichtsbilder gestimmt: Der Herr richtet in Feuer. Johannes der Täufer droht in seiner Bußpredigt, daß der kommende Richter „die Spreu in unauslöschlichem Feuer verbrennen wird“. Und Markus wiederholt dreimal hintereinander Jesu Drohung von der Strafe „im unauslöschlichen Feuer“. Von Paulus hörten wir längst, daß er ein richtendes Feuer der Reinigung annimmt. Und Johannes nimmt, ganz entsprechend dem apokalyptischen Charakter der Geheimen Offenbarung, das altprophetische, danielische Bild des feurigen Gerichtes wieder auf. Feuer fällt vom Himmel auf die Erde; es verzehrt die Bösen und stürzt den Teufel samt dem Lügenpropheten, der sie verführt hat, „in den Pfuhl von Feuer und Schwefel, wo sie gepeinigt werden Tag und Nacht in alle Ewigkeit“. So hatte auch in der Bibel Alten wie Neuen Bundes das Gerichtsfeuer seine eigene Geschichte.

Im Alten wie im Neuen Bunde steht der dominierende Satz: „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“ für die Gottlosen.

Es ist nun nicht so, als wäre allein das Feuer als Strafmittel in der Bibel genannt. Noch manche andere ließen sich aufzählen, und wenn man die Apokryphen hinzunehmen wollte, so würde ihre Zahl noch bedeutend anschwellen. Sie alle sind dann auch später von christlichen Schriftstellern herbeigezogen worden, um die Jenseitsstrafen recht eindrucksvoll und abschreckend zu schildern. Dennoch stand das Feuer von Anfang an im Vordergrund und es hat bis heute seine prominente Bedeutung behalten. Ja es gibt christliche Eschatologen, welche von der früher erklärten Strafe der Versagung der Gottanschauung kaum etwas wissen, wenigstens nichts sagen. Freilich setzt diese Strafe eine viel höhere und geistigere Religion und Gottesauffassung voraus. Für die sinnlichen Strafen aber ist auch der Roheste und religiös Ungebildetste geistig empfänglich und zugänglich. Das ist sicher ein Grund dafür, daß diese im Volksunterricht fast allein erwähnt werden, mag man nun von der Hölle oder vom Fegfeuer handeln. Es ist auch keine Frage, daß zu der Darstellung der sinnlichen Strafe weit weniger homiletisches oder katechetisches Geschick erforderlich ist als zu der der geistigen Strafe.

(Aus „Das Fegfeuer“ v. Prof. Dr. Bernhard Bartmann Bonifacius-Druckerei. Paderborn)