Ende und Anfang

"Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende" (Offenbarung 22,13).



Das Ende

Es ist schon auffallend, während die Menschenmachwerkskirche die letzten Dinge fast ganz aus ihrem Predigtprogramm gestrichen hat, hat Hollywood eine fast schon unübersehbare Reihe von Katastrophenfilmen produziert, um den Zuschauer in Angst und Schrecken zu versetzen. Da erschüttern Erdbeben ganze Länder oder gar Kontinente, überfluten und verschlingen Tsunamis Millionenstädte oder es verzehren durch riesige Meteoriten ausgelöste Feuerstürme die ganze Welt: Es ist Weltende!

Da ist es für den ernsthaften Prediger schon recht schwer, gegen Inszenierungen solcher Art die einfache Glaubenswahrheit gebührend darzustellen. Denken nicht auch schon die meisten Zuhörer, ohne es womöglich selbst zu bemerken, in diesen Kategorien der Sensation? Denken nicht auch wir oft „wie im Film“?

Nun, manche Wahrheiten unseres hl. Glaubens sind durchaus so sensationell, so beeindruckend, so erschreckend, daß sie leicht mit jedem Hollywoodfilm mithalten können. Etwa die Wahrheit des Evangeliums vom letzten Sonntag nach Pfingsten: Der Weltuntergang und das letzte Gericht. Gibt es Großartigeres, Ergreifenderes, Erschreckenderes, Verstörenderes als diese Wahrheit unseres Glaubens? Da ist es wirklich wie im Film, die ganze Welt geht mit einem Male zugrunde. Wobei man hinzufügen muß: Im Film wird zwar der Weltuntergang dramatisch dargestellt, aber nicht das Letzte Gericht. Darüber gibt es keinen einzigen vernünftigen Film, denn das wäre dann doch zu aufregend und aufrüttelnd, wenn es plötzlich so ernst würde und alle vor ihrem göttlichen Richter stünden.

Das glaubt dann heute auch fast keiner mehr. Nach einer Veröffentlichung des Nachrichtenmagazins „Focus“ aus dem Jahr 1997 glaubten schon damals nur noch 24% der Gottgläubigen – also von Atheisten oder Agnostikern ganz zu schweigen – und selbst nur noch 34%, der Pfarrer, daß es ein „Jüngstes Gericht“ geben wird. Um diesem inzwischen fast allgemein verbreiteten Unglauben Rechnung zu tragen, hat die Anglikanische Kirche kurzerhand auf einer Synode beschlossen, daß es kein Letztes Gericht mehr geben werde. Ob sich Gott auch an diese Synodenentscheidung gebunden fühlt und das Weltgericht aufgrund des anglikanischen Mehrheitsbeschlusses ausfallen läßt? Nun, solche Angleichung an den Unglauben nennt man wohl moderne Glaubensfestigkeit! Der Glaube richtet sich nach dem Volk, dem man zuvor selber mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln jeglichen Glauben ausgetrieben hat. Ein echt teuflisches System!

Das Jüngste Gericht und…

Wir Katholiken glauben noch dem Wort Gottes, wie es uns in der Heiligen Schrift aufgezeichnet worden ist. Im Evangelium des letzten Sonntags im Kirchenjahr heißt es unüberhörbar: Die ganze Welt wird mit einem Mal bis ins Mark erschüttert werden, ganze Galaxienhaufen stürzen plötzlich mit unvorstellbarer Energie ineinander, alles in dieser Welt zerbricht: „Die Sonne wird verfinstert werden, der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.“

Sobald man das erwägt, kommt man zu einer ersten Einsicht: Es ist eine offensichtliche Lüge, die uns von der modernen Naturwissenschaft ununterbrochen vorgegaukelt wird – nein, die Welt ist nicht in Milliarden Jahren entstanden und sie wird auch keine Millionen Jahre mehr bestehen. Gott wird vielmehr dieser Welt ein Ende machen, ein jähes, unerwartetes Ende, wann Er will. Es wird keine tausend und abertausend Jahre mehr dauern, ehe die Welt vergeht. Mit einem Mal wird eine unglaubliche Katastrophe über die ganze Welt hereinbrechen. Dann wird sich zeigen, daß nicht alles ausschließlich Naturgesetz ist in dieser Welt, wie man uns inzwischen seit einigen Jahrhunderten weismachen möchte. Er, der dreifaltige Gott, steht über allem – natürlich auch über allen Gesetzen der Natur! – und Er setzt ganz souverän in Seiner göttlichen Weisheit der Weltzeit ein Ende, wie Er ihr auch ganz souverän mit der Schöpfung einen Anfang gegeben hat.

Eines muß allerdings jedem klar sein, ganz klar: Das, was dann folgt, werden alle miterleben. Alle Menschen werden beim Letzten Gericht dabei sein! Und es wird einfach unvorstellbar beeindruckend sein! Wenn man es nur einmal ernsthaft bedenkt: Alle Menschen aller Zeiten werden versammelt sein! Eine unüberschaubare Menge von Menschen! Da werden alle staunen! „Schau“, wird der eine zum anderen sagen, „da steht der Präsident Trump und Präsident Putin gleich neben ihm. Dort siehst du Michael Jackson und die vier Beatles und dort Gerd Müller, Franz Beckenbauer und Lady Diana ist auch da. Mensch, dort stehen doch tatsächlich Albert Einstein, Wernher von Braun und Werner Heisenberg! Und ist das dort hinten nicht Michelangelo und neben ihm Leonardo da Vinci? Und der Schumacher ohne Ferrari! Und Ludwig van Beethoven und Sebastian Bach! Schau nur auf die andere Seite, das ist doch der Napoleon und Voltaire. Ganz am anderen Ende sehe ich Kaiser Friedrich Barbarossa und Julius Caesar! Und alle ganz lebendig, wie im richtigen Leben!“

Aber nein! So wird es gerade nicht sein. Denn wir werden zweifelsohne nicht als Schaulustige beim Letzten Gericht dabeistehen, sondern als Mitbetroffene. Schließlich ist jeder Mensch auf die eine oder andere Weise eingewoben in das undurchschaubare Geflecht des Weltgeschehens. Eines kann man jedenfalls jetzt schon ganz sicher sagen: Beim Weltgericht wird die Ehre der Welt jegliche Bedeutung verloren haben. Die großen Namen der Weltgeschichte werden ganz klein geschrieben werden, die kleinen dafür groß. Denn über jedem Namen steht sodann vor den Augen aller die ganze Wahrheit, die unbestechliche göttliche Wahrheit über jede einzelne Menschenseele. Darum werden mit einem Mal ganz andere Menschen groß genannt werden, als wir gewohnt sind, groß zu nennen:

Etwa die Oma, die ihren Rosenkranz aus Sorge um ihre Kinder und Enkel nicht mehr aus der Hand gelegt hat. Der Opa, der noch zur hl. Messe ging, als ihn schon das Bein so schmerzte, daß jeder Schritt für ihn eine Qual war. Die Mutter, die ihre Kinder für Gott erzog und deswegen oft die ganze Nacht vor Sorge nicht schlafen konnte. Der Vater, der in der Arbeit verspottet wurde, weil er bei Tisch in der Kantine ein Kreuzzeichen machte und noch betete. Der Junge, der es den Kameraden verwies, wenn sie einen schlechten Witz erzählten und das Mädchen, dem der Glaube mehr wert war, als alle Komplimente dieser Welt.

So wird es beim Letzten Gericht sein, wenn alle vor dem göttlichen Richter erscheinen müssen: Alle Ehren der Welt zählen nichts mehr, aller irdischer Ruhm ist verblaßt – es zählt nur noch die Liebe Christi, die Liebe zu Seinem hl. Kreuz und die tätige Nächstenliebe, die sich durch nichts verbittern ließ.

…das Offenbarwerden der wahren Weltgeschichte

Sodann wird auch die wahre Weltgeschichte endlich allen offenbar werden. Jene Weltgeschichte, die ganz sicher nicht in den modernen Geschichtsbüchern steht. Sodann werden alle sehen, wer im Reich Christi Gutes gewirkt hat und alle werden zudem sehen, wer im Reich Satans Böses gewirkt hat. Allen wird der gewaltige geistige Kampf offenbar werden, die unerbittliche Auseinandersetzung zwischen dem Gottkönig Jesus Christus und dem Teufel, dem Fürsten dieser Welt. Und jeder wird erkennen, auf welcher Seite er gestanden ist und gekämpft hat. Wie viele werden in diesem Augenblick nochmals bis ins Mark erschrecken, wenn sie erkennen müssen: auch ich habe gedient! Meine Freiheit war ein Wahn! Gerade der moderne, „liberale“ Mensch, der sich so viel auf seine vermeintliche Freiheit einbildet, wird sich eingestehen müssen: Ich war gar nicht frei, sondern auch ich habe gedient, ob ich es wußte oder nicht, ob ich es wollte oder nicht – entweder Gott oder dem Teufel.

Jedem einzelnen wird bei dieser Weltgerichtsverhandlung vor allen anderen gezeigt werden, was sein Leben im Geflecht des Ganzen wirklich war. Und jeder wird noch einmal einsehen, wie viel Gutes oder Böses er in dieser Welt gewirkt hat. Denn jedes gute Wort, jede gute Tat und jeder gute Gedanke bleibt nicht für sich allein, sondern bringt Frucht, geheimnisvolle Frucht im ewigen Reich der Gnade. Und ebenso bringt jedes böse Wort, jede böse Tat und selbst jeder böse Gedanke Schaden im Reich der Gnade. Deswegen stehen wir beim letzten Gericht nicht allein vor dem ewigen Richter, ist doch jeder einzelne unlösbar verbunden mit einem ganzen Knäuel anderer Menschen – zum Guten oder zum Bösen. Die menschliche Gemeinschaft ist nämlich unsichtbar, aber durch die Erlösung am Kreuz ganz real zusammengebunden zum geheimnisvollen Leib Jesu Christi, dessen Glieder wir sind – oder aus eigener Schuld auch nicht sind. Denn: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, zerstreut“ (Mt 12, 30).

Wenn also die Gerichtsposaune erschallt, wird der göttliche Richter alles ans Tageslicht bringen, ist doch nichts verborgen, was nicht offenbar werden soll. Und anhand dieser vor allen offenbar gewordenen Wahrheit wird Er die Menschen in zwei Gruppen scheiden, die einen zu Seiner Rechten, die anderen zu Seiner Linken. Er wird sie scheiden, weil sie nichts miteinander gemein haben. Sie sind wesentlich verschieden voneinander, obwohl sie alle Menschen sind, eines Wesens in ihrer Natur! Denn die einen sind durch den Glauben und die Gottesliebe Kinder Gottes, wohingegen die anderen durch ihren Unglauben Kinder Satans geworden sind!

Die einen sind Kinder der Gnade, die anderen Kinder der Sünde! Die einen sind Kinder der Braut Jesu Christi, welche ist unsere heilige Mutter, die Kirche, die anderen sind Kinder der Hölle. Die einen sind erfüllt von der Liebe zu Jesus Christus und Maria, die anderen sind erfüllt von der Liebe zur Welt und vom Haß gegen Gott und Seine Heiligen. Darum sind die einen leuchtend in ihrer Heiligkeit, die anderen verfinstert im Gotteshaß. Die einen sind Bilder der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, die anderen Schreckensbilder der Unterwelt. Jetzt vor dem Richter wird alles allen sichtbar werden, denn die innersten Gesinnungen des Herzens werden nach außen gekehrt werden. Es gibt keine Verstellung mehr, keinen Betrug, keine Unterschlagung, keine Geheimbünde.

Das Entzweibrechen der Menschenwelt

Da wird sich zeigen: Durch die guten Taten werden die Menschen gut und durch die bösen Taten werden sie böse, weshalb beim letzten Gericht die Menschenwelt endgültig entzweibricht. Was wir jetzt noch nicht wahrnehmen können, weil es noch im Herzen der einzelnen verborgen ist, das wird beim Gericht vor aller Welt sichtbar, denn der Herr hält in Seiner göttlichen Allmacht und Majestät Gericht. Das wird überaus gewaltig sein! Er wird Seine Engel durch die unüberschaubaren Reihen der Menschen schicken, daß sie die einen hierhin, die anderen dorthin führen. Langsam entsteht eine Gasse inmitten der ungeheuren Menschenmenge; eine Kluft tut sich inmitten der riesigen Menschenmenge auf, eine Kluft, die unüberwindbar sein wird in alle Ewigkeit. Die Kluft zwischen Himmel und Hölle. Man muß nur die Worte des hl. Evangeliums genügend auf sich wirken lassen, dann werden einem diese Wahrheiten tief zu Herzen gehen.

Nochmals sei es betont: Wir werden alle beim Letzten Gericht, wenn all das geschieht, als Augenzeugen und Mitbetroffene dabei sein. Wir werden all das am eigenen Leibe miterleben und miterleiden müssen, keiner wird fehlen. Unerschütterlich fest muß darum unser Vorsatz werden: Ich will alles tun, um beim Gericht auf der rechten Seite zu stehen. Frage Dich darum jetzt schon ruhig und allen Ernstes: Auf welcher Seite stehe ich eigentlich? Gestern, vorgestern, wohin gehörte ich da? Wohin neigt sich mein Herz? Was wünsche ich mir im Leben am meisten? Was treibt mich Tag für Tag um?

Bedenke, jetzt ist es noch Zeit, die Seite zu wechseln! Jetzt ist noch Zeit, die Sünde zu lassen und ?uße zu tun. Fassen wir also den festen Entschluß: Ich will fernerhin mit der Gnade Gottes Jesus Christus aus ganzem Herzen dienen. Nicht mit Worten und schönen Gefühlen, sondern in der Tat und in der Wahrheit. Dementsprechend betet die hl. Kirche in der Postcommunio des letzten Sonntags nach Pfingsten: „Wir bitten Dich, o Herr; gewähre uns die Gnade, daß durch die heilende Kraft dieses Sakramentes, das wir empfangen haben, alles gesunde, was krankhaft ist in unserer Seele.“

Hoffnung oder Verzweiflung?

Gerade darin erweist sich die übernatürliche Kraft unseres hl. Glaubens, daß er uns befähigt, gefaßt und mit Ruhe auf die letzten Dinge unseres Lebens schauen zu können, auf Tod, Gericht, Himmel und Hölle. Wohingegen der gottlose Mensch ständig in Angst leben muß, ob er sich das nun eingesteht oder nicht. In seinem Aufsatz „Über die Kunst, nicht zu verzweifeln“ gibt Josef Pieper zu bedenken:

„Wenn man die Vorstellung vom innerzeitlichen Ende der Menschengeschichte akzeptiert oder auch nur ernsthaft bedenkt, wie sie im abendländischen Geschichtsdenken seit je lebendig gewesen ist, von Johannes auf Patmos bis zu Wladimir Solowjew, der im letzten Jahre des 19. Jahrhunderts seine Legende vom Antichrist publiziert hat – eine Vorstellung, die besagt, daß dieses [wohl zu bedenken: Innerzeitliche!] Ende keineswegs durch den Sieg der »Vernunft« oder der Gerechtigkeit oder gar des Christentums, sondern eher durch etwas gekennzeichnet sein werde, das man von einer Katastrophe kaum zu unterscheiden vermöge und für das einer der zutreffendsten Namen »Herrschaft des Antichrists« sei [soviel besagend wie: Weltherrschaft des Bösen, durch Gewalt aufrechterhaltene Pseudo-Ordnung; und so fort] — wenn man, sage ich, diese Geschichtskonzeption für etwas mindestens im Ernst Bedenkenswertes hält, dann stellen sich im weiteren sehr natürlicherweise mehrere Fragen, vor allem zwei. Die erste lautet so: Besitzt jene Vorstellung von einem innerzeitlich katastrophischen Ende der Geschichte auf Grund dessen, was wir empirisch vom Geschichtsverlauf und seinen Tendenzen wissen, irgendeine innere Wahrscheinlichkeit; »sieht es danach aus«, daß es so kommen könnte? — Antwortet man hierauf mit »Ja«, so ist die zweite Frage: Wie steht es mit den menschlichen Hoffnungen; ist dann nicht die Menschengeschichte einfach zum Verzweifeln?“
(Josef Pieper, Lesebuch, Kösel-Verlag, München 1990, S. 242f)

Jeder, der mit sich ehrlich ist und sich nichts vormachen will und vormachen läßt, der wird zugestehen, das ist wirklich die entscheidende Frage: Wenn mein Leben im Tod und unsere Welt in einer riesigen Katastrophe endet, ist dann nicht alles zum Verzweifeln? Rein menschlich gesehen, sicher! Wenn es über den Tod und das Ende der Welt hinaus nichts mehr gibt, dann ist unser Dasein sinnlos und daraus folgend vollkommen hoffnungslos. Josef Pieper gibt zu bedenken:

„Wir müssen es uns von der innewohnenden Weisheit der Sprache selber sagen lassen: daß Hoffnung immer auf etwas zielt, das wir gerade nicht selber machen können; wenn dies letztere der Fall ist, redet niemand von Hoffnung [was leicht durch eine Analyse der alltäglichen Menschenrede erweisbar ist]. Ferner und vor allem: die menschliche Hoffnung [nicht die Hoffnungen, sondern die Hoffnung, die es nur im Singular gibt] zielt auf die letzte vollkommene Stillung; was wir in Wahrheit erhoffen, ist, wie Ernst Bloch es völlig zutreffend beschreibt: volle Existenz; Wiederherstellung des Menschen; Heimat; Nach-Hause-Gelangen; Reich; »Jerusalem«; absolute Bedarfsdeckung; Seligkeit, die so noch nicht da war.“
(Ebd., S. 253)

Das Sehnen des menschlichen Herzens nach seiner Heimat

Sobald der Mensch nur ehrlich in sein Herz hineinhört, wird er das Gesagte bestätigt finden. Wobei die Bestätigung mehr oder weniger schwierig sein wird, je nachdem wieviel gewohnheitsmäßiger Lärm, wieviel an dauernder Zerstreuung und Ablenkung sich im Herzen des einzelnen findet. Aber grundsätzlich gibt das Menschenherz Zeugnis über diese Hoffnung, die über alles irdisch Vorstellbare hinausgeht. Der Mensch sucht nach Heimat, er möchte endgültig Nach-Hause-Gelangen, er erträumt ein himmlisches Jerusalem. Mit anderen Worten: In dieser Welt gibt es keine Erfüllung unserer Sehnsucht und kein letztes Glück, denn überall lauert der Tod – weshalb nochmals Josef Pieper anfügt:

„Was das Thema »Sterben« betrifft, so muß allerdings eines klar sein: gerade wenn die hiesige, geschichtliche Existenz ganz und gar Hoffnung ist und von innen her die Bauform des »Noch nicht« besitzt [in welcher rein phänomenologisch beschreibenden Kennzeichnung Pascal und Ernst Bloch und Gabriel Marcel völlig übereinstimmen mit der traditionalen abendländischen Anthropologie]; wenn wirklich der Mensch, bis in den Augenblick seines Todes hinein, als ein viator »unterwegs« ist und wenn selbst in seinem letzten Lebensaugenblick das Eigentliche, die Erfüllung, immer noch bevorsteht – dann ist diese mit unserem Dasein selbst identische Hoffnung entweder schlechthin absurd, oder sie findet ihre Stillung auf der anderen Seite des Todes! Wer also sein Blickfeld ausdrücklich einengt auf den Bereich diesseits der Todesgrenze, der sieht begreiflicherweise nicht viel anderes als Vergeblichkeit und Absurdität.“
(Ebd., S. 254)

Der Verlust der Hoffnung

Sobald der Mensch seinen Blick von Gott abkehrt und sein Leben ins rein Irdische verkehrt, verliert er die Hoffnung, sein ganzes Leben erscheint ihm als Vergeblichkeit und Absurdität. Darum ist der hl. Ambrosius überzeugt: „Der scheint überhaupt kein Mensch zu sein, der nicht auf Gott hofft.“ Auch der hl. Augustinus erklärt: „Diese beiden Dinge töten die Seele: Die Verzweiflung und die verkehrte Hoffnung.“ Weil nun aber der Mensch, auch wenn er nicht mehr an Gott glaubt, nicht einfach ohne Hoffnung leben kann, bemüht er sich, die Verzweiflung, die aus der „Traurigkeit der Welt“ (tristitia saeculi) hervorgeht, zu verbergen, oder besser gesagt: zu übertünchen! Wodurch kann man die Verzweiflung übertünchen? Durch das Vergnügen! Es ist sehr interessant zu hören, was Josef Pieper in seiner Abhandlung über die Tugend der Hoffnung dazu zu sagen weiß:

„Die evagatio mentis [Ausgegossenheit des Geistes] hinwiederum tut sich kund im Wortreichtum des Geredes [verbositas], in der Unersättlichkeit der Neugier [curiositas], in der ehrfurchtslosen Unbändigkeit, »sich aus der Burg des Geistes heraus in das Vielerlei zu ergießen« [importunitas], in der inneren Rastlosigkeit [inquietudo], in der Unstetheit des Ortes wie des Entschlusses [instabilitas loci vel propositi]: — Eine Zwischenbemerkung: Alle diese der »schweifenden Unruhe des Geistes« zugeordneten Begriffe kehren wieder in der Heideggerschen, freilich nicht zur religiösen Bedeutung der acedia hinabdringenden Analyse des »alltäglichen Daseins«: »Flucht des Daseins vor ihm selbst«, »Gerede«, »Neugier« als Besorgtheit um die »Möglichkeiten des Sichüberlassens an die Welt«, »Unverweilen«, »Zerstreuung«, »Aufenthaltslosigkeit«.“
(Josef Pieper, lieben, hoffen, glauben, Kösel Verlag München 1986, S. 231)

Der Geisteszustand der Moderne

Erwägt man nüchtern das Gesagte, so erkennt man darin ganz deutlich den Geisteszustand der Moderne. Durch die Zurückweisung Gottes verfällt der moderne Mensch einer verkehrten Hoffnung, mit der er seine latente Verzweiflung überspielen möchte. Er baut sich eine ganz eigene Welt der Unterhaltung und des Vergnügens auf, die ihn vom Ernst des Lebens ablenken und in der Selbsttäuschung festigen soll. Aber diese verkehrte Hoffnung ist recht zerbrechlich. Hinter jeder Enttäuschung lauert eine abgrundtiefe Traurigkeit und daraus folgend die Verzweiflung. Rastlos hetzt sich der moderne Mensch von Vergnügen zu Vergnügen – wenn nicht wirklich, dann virtuell, so muß man hinzufügen. Millionen versinken Tag für Tag in einer Spielewelt, in der sie stundenlang gefangen sind. Sie geben sich freiwillig dem Wahn hin und werden natürlich wahn-sinnig, d.h. der Wirklichkeit vollkommen entfremdet.

Die drei göttlichen Tugenden

Der Katholik hingegen weiß um seine geheimnisvolle und so wunderbare Bestimmung und Möglichkeit, ein neues Leben zu führen, das jetzt schon Anteil hat an der Ewigkeit. Sein Blick gleitet spielend leicht und vollkommen sicher über den Tod hinaus in jenes Reich, das Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben. Damit dieser Blick nicht zur Illusion sich verkehrt, sondern Wirklichkeit bleibt, hat uns Gott in den drei übernatürlichen oder göttlichen Tugenden ein Angeld gegeben: Glaube, Hoffnung und Liebe. Josef Pieper erklärt dazu so eindringlich und klar:

„Das übernatürliche Leben im Menschen ist dreiströmig: Im Glauben kommt die über alle natürliche Erkenntnis – »nicht nur des Menschen, sondern auch der Engel« – hinausragende Wirklichkeit Gottes in den Blick. Die Liebe bejaht – und um seiner selbst willen – das im Glauben verhüllt sichtbar gewordene Höchste Gut. Die Hoffnung ist die vertrauend auslangende Erwartung der Ewigen Glückseligkeit in der schauend-umfangenden Teilhabe am dreifaltigen Leben Gottes; die Hoffnung erwartet das Ewige Leben, das Gott selber ist, aus Gottes eigener Hand, sperat Deum a Deo.
Das existentielle Zueinander dieser drei – Glaube, Hoffnung, Liebe – läßt sich zusammengefaßt in drei Sätzen aussprechen:
Der erste Satz lautet: Glaube, Hoffnung und Liebe werden der menschlichen Natur als übernatürliche Seinsneigungen [habitus] alle drei zugleich eingesenkt; zugleich mit der Gnadenwirklichkeit, dem einigen Seinsgrund alles übernatürlichen Lebens.
Der zweite Satz: In der Ordnung der akthaften Entfaltung dieser übernatürlichen Seinshaltungen ist der Glaube früher als Hoffnung und Liebe, und die Hoffnung ist früher als die Liebe. Und umgekehrt: in der schuldhaften Unordnung der Auflösung geht zuerst die Liebe verloren, dann die Hoffnung, der Glaube zuletzt.
Und drittens: In der Rangordnung der Vollkommenheit hat die Liebe den ersten Platz, der Glaube den letzten, die Hoffnung steht zwischen beiden.“
(Josef Pieper, Über die Hoffnung, Kösel-Verlag, München 1977, S. 31f.)

Das Geschöpf kann die geheimnisvolle Wirklichkeit Gottes von Natur aus nur sehr bedingt erfassen. Darum kommt Gott dem Geschöpf mir Seiner Gnade entgegen, die alle natürlichen Fähigkeiten durchdringt und vollendet. In den drei göttlichen Tugenden spannt sich der Mensch mit allen Kräften seiner Seele nach Gott aus. Ja, er wird befähigt, am Leben Gottes teilzunehmen – aber noch nicht im Schauen, sondern im Glauben: „Im Glauben kommt die über alle natürliche Erkenntnis – »nicht nur des Menschen, sondern auch der Engel« – hinausragende Wirklichkeit Gottes in den Blick.“ Das Geschöpf kann nichts anderes, als auf diese Wirklichkeit – Gott ist das unendlich vollkommene, höchste Gut, über das hinaus es nichts Größeres zu erstreben gibt – bejahend zu antworten, d.h. Gott zu lieben. In der Hoffnung ergreift das Geschöpf schließlich das ewige Ziel im Voraus, es erwartet „das Ewige Leben, das Gott selber ist, aus Gottes eigener Hand, sperat Deum a Deo“.

Es zeigt sich also, wie abhängig das Geschöpf von Gott und Seiner Gnade auf seinem Weg zur ewigen Glückseligkeit ist. Und es zeigt sich zudem, wie notwendig die übernatürliche Tugend der Hoffnung ist, um auf dem Weg nicht müde zu werden und im Eifer nicht zu erlahmen. Denn während uns die Freuden dieser Welt so nahe sind, scheint die Glückseligkeit des Himmels zuweilen unerreichbar fern zu sein. Da ist schon eine starke Hoffnung notwendig, um nicht zu resignieren, eine in der göttlichen Gnade gegründete übernatürliche Hoffnung. Damit wir das Wesen dieser Hoffnung noch etwas besser verstehen lernen, lassen wir nochmals Josef Pieper zu Wort kommen:

„Es ist notwendig, das Verhältnis von Hoffnung und Liebe noch durch eine Unterscheidung aufzuhellen, durch die Unterscheidung nämlich zwischen vollkommener Freundschafts-Liebe [amor amicitiae] und unvollkommener, »begehrender« Liebe [amor concupiscentiae], das heißt: zwischen einer Liebe, die den Geliebten um seinetwillen liebt, und einer, die ihn um ihretwillen liebt.
Die Tugend der Hoffnung ist erstlich mit der vollkommenen Gottesliebe verbunden, die das Höchste Gut um ihretwillen begehrt. Hoffen kann einer nämlich nur für sich selbst [und für den Menschen, den er liebt, für das »andere Selbst«], das gehört zum Begriff und Wesen der Hoffnung. Diese unvollkommene Liebe der Hoffnung aber – amour d’esperance, sagt Franz von Sales – ist der natürliche, nicht zu entwertende Vor-Raum der vollkommenen Freundschaftsliebe [caritas], durch die Gott um seiner selbst willen bejaht wird. Und die vollkommene Gottesliebe, welche die theologische Tugend der Liebe ist und zugleich die Mutter und Wurzel aller christlichen Tugend, durchformt und erhöht rückflutend wiederum die Hoffnung.
»So strömen die theologischen Tugenden in heiligem Ring in sich zurück: wer durch die Hoffnung hineingeführt wurde in die Liebe, hat von nun an eine vollkommenere Hoffnung auch, wie er jetzt gleichfalls kraftvoller glaubt als zuvor«.“
(Ebd.)

Der Anfang

Mit dem ersten Advent beginnt das neue Kirchenjahr. Wer das liturgische Jahr anhand der Sonntage und Feste mitlebt, der ist jedes Jahr wieder in Erwartung, was denn nun kommen soll, nachdem das Weltende so eindringlich geschildert wurde, womit auch das liturgische Jahr zu Ende ging. Wie beginnt eigentlich die hl. Liturgie das neue Kirchenjahr? Wie findet sie vom Ende wieder zu einem neuen Anfang? Überraschenderweise klingt im hl. Evangelium des 1. Adventssonntags noch einmal dasselbe Thema an wie am letzten Sonntag nach Pfingsten: „Es werden Zeichen erscheinen an Sonne, Mond und Sternen, und auf Erden wird große Angst unter den Völkern sein wegen des ungestümen Rauschens des Meeres und der Fluten.“

Nochmals zieht das Grauen des Weltendes vor einem auf, aber das Evangelium hat – eingebettet in die Liturgie des 1. Advents – einen ganz anderen Unterton. Die Liturgie dieses Sonntages sieht nicht noch einmal auf das Ende, sie sieht vielmehr auf den neuen Anfang und sie zeigt uns somit ganz eindringlich das Wunder der Lebendigkeit der Gnade. Aus dem Ende wird unversehens, ganz überraschend muß man sagen, ein neuer Anfang: „…erhebet eure Häupter, denn es naht eure Erlösung“. Am Anfang des Advents steht also eine Wahrnehmung und damit verbunden ein Erwachen voll Erstaunen, verbunden mit einer unerschütterlichen Hoffnung: „… es naht unsere Erlösung“!

Das Kirchenjahr

Dom Prosper Guéranger schreibt in seinem Werk „Das Kirchenjahr“: „Aber wenn die Liturgie alljährlich unserem Auge in höchst dramatischer Form alles das vorführt, was einmal zum Heile des Menschen und seiner Vereinigung mit Gott geschehen ist, so ist es im höchsten Grade bewundernswürdig, daß diese beständige Aufeinanderfolge ihr an Frische und Kraft auch nicht das mindeste entzieht, daß die Andacht, die Aufmerksamkeit, die Erhebung, womit das Kirchenjahr geschlossen wird, in ganz gleicher Stufe wieder bei dem neuen Kirchenjahre beginnt.“ Die Gnade veraltet nie! Die Geheimnisse des Lebens Jesu und Seiner hl. Kirche sind immer lebendig, weil sie immer gnadenspendend sind. Darum ist es „im höchsten Grade bewundernswürdig, daß diese beständige Aufeinanderfolge“ der liturgischen Feier „an Frische und Kraft auch nicht das mindeste entzieht“.

Dom Prosper Guéranger erklärt weiter: „Die erneuernde Kraft des Kirchenjahres, auf welche wir zum Schluß hingewiesen, ist ein Geheimnis des Heiligen Geistes, der unaufhörlich das Werk befruchtet, das er der heiligen Kirche eingegeben; es soll die dem Menschen gewährte Zeit, sich Gottes würdig zu machen, heiligen“ (Ebd.). In diesem Sinne und in diesem Vertrauen sollen wir – erfüllt vom Heiligen Geist – jeweils das neue Kirchenjahr beginnen und wieder neu erwägen, was der Advent von uns fordert.

Die Zeit des Advents umschließt zwei große Gedanken: Einen neuen, erneuernden und einen alten, rückwärts blickenden. Neu ist die Zeit des Advents in der Erwartung der Gnade, die das ewige Heil unserer Seele wirkt. „Die Stunde ist da, vom Schlafe aufzustehen; denn jetzt ist unser Heil näher als damals, da wir zum Glauben kamen.“ So heißt es in der Lesung. Aber entspricht das auch der Tatsache? Ist das Heil uns jetzt wirklich näher? Ist unser Herz von der Gnade mehr erfüllt? Oder ist das Gegenteil der Fall? Bin ich von der Gnade viel weiter weg als noch vor einem Jahr? Weiter weg, weil ich womöglich sogar lauer, gleichgültiger, müder, mürrischer, träger, langweiliger, unzuverlässiger, mit einem Wort, weil ich sündhafter geworden bin? Dann ist es umso wichtiger, vom Schlafe aufzustehen und alles zu tun, daß es wieder neu Advent wird. Der Advent ist schließlich die Zeit, um nüchtern und wachsam zu sein, ist doch der Herr so nahe!

Er ist mir so nahe, weil Er mein Erlöser ist! Das erkennen zu dürfen ist schon sehr viel. Aber auch wenn wir das wissen, wissen wir immer noch nicht genau, wann Er kommt. Wir müssen Ihn also sehnsüchtig erwarten und immer bereit sein, wie es im hl. Evangelium heißt: „Eure Lenden sollen umgürtet sein, und brennende Lampen in euren Händen. Seid Menschen ähnlich, die auf ihren Herrn warten.“

Der Advent

Die besondere Bedeutung dieses Wartens zeigt uns der Advent durch die zweite Seite seines Wesens: Der Advent dauert vier Wochen, früher waren es 40 Tage. Diese verweisen auf die 4000 Jahre des Wartens und Vorbereitens der Menschen vom Sündenfall bis zur Geburt Christi. Nach biblischer Zeitrechnung dauerte es etwa 4000 Jahre, bis der Erlöser endlich erschienen ist. Der Advent zieht diese Zeit sinnbildlich zu 4 Wochen zusammen. Das bedeutet also: So wie Gott die Menschen in 4000 Jahren auf den Erlöser vorbereitet hat, ebenso sollen wir uns in 4 Wochen auf Weihnachten vorbereiten.

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache: Auf ein großes Fest muß man sich vorbereiten. Das gilt noch mehr für ein Gnadenfest, denn ohne entsprechende und gute Vorbereitung empfängt man nur wenig oder sogar gar keine Gnade. Es ist also ganz sicher so: Ohne entsprechende, innere Vorbereitung geschieht in der hl. Weihnacht nichts Gnadenhaftes, wie es wohl heute bei den allermeisten Menschen, ja auch den Pseudokatholiken ist: Es passiert nichts mehr, weil man gar nicht mehr versteht, was Weihnachten eigentlich ist – und was dieses Fest von uns fordert, ja fordern muß.

Wenn es also richtig Weihnachten werden soll, dann müssen wir heute mit der adventlichen Vorbereitung beginnen und ernst machen. Dabei ist zunächst einmal zu bedenken, der Advent ist eine ernste Zeit, eine Bußzeit. Er hat zwar einen etwas anderen Charakter als die Fastenzeit, der Advent ist viel sanfter, heimeliger als die Fastenzeit – dennoch ist der Advent eine Bußzeit, d.h. eine Zeit des Fastens, aber vor allem eine Zeit der inneren Sammlung. Eine Anregung dazu: Vielleicht ist es möglich am Mittwoch, Freitag und Samstag einen Abstinenztag zur besonderen Verehrung der Muttergottes vom Advent einzuhalten.

Die Stille des Advent

Nun, wie beginnt man diese Bußzeit vor dem hochheiligen Weihnachtsfest am besten? Das Grundlegendste, ja die notwendige Voraussetzung für einen guten, gnadenbringenden Advent ist die Stille. Denn ohne Stille kein Advent, ohne innere Stille der Seele keine adventliche Gnade. Wie wichtig ist es gerade heutzutage in dieser Welt des Lärmes, sich an diese Wahrheit immer wieder zu erinnern, um sich die inwendige Stille der Seele zurückzuerobern und sodann zu bewahren. Aber da begegnet uns schon eine erste Schwierigkeit: Geht uns die Stille überhaupt ab oder fühlen wir uns inmitten des Lärmes sogar wohl? Max Picard ist überzeugt:

„Nichts hat so sehr das Wesen des Menschen verändert als der Verlust des Schweigens. Die Erfindung der Buchdruckerkunst, die Technik, die allgemeine Schulpflicht, nichts hat den Menschen so umgestaltet wie dies, daß er keine Beziehung mehr hat zum Schweigen, daß das Schweigen nicht mehr da ist als etwas Selbstverständliches, selbstverständlich wie das Gewölbe des Himmels oder die Luft. Der Mensch, der das Schweigen verlor, hat mit dem Schweigen nicht nur eine Eigenschaft verloren, er ist in seiner ganzen Struktur dadurch verändert worden.“
(Max Picard, Wie der letzte Teller eines Akrobaten…, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1988, S. 155)

Der Verlust des Schweigens

Nur der schweigende Mensch kann zuhören, kann das Wort so in seine Seele aufnehmen, wie es gesprochen wurde. Ist es nicht eine sich ständig ausweitende Erfahrung, daß die meisten Menschen einander nicht mehr verstehen und zudem nicht mehr fähig sind, einen Text richtig zu lesen, d.h. das aus dem Text herauszulesen, was wirklich darin gesagt wird, weil sie nicht mehr zuhören können. Wie soll denn ein Mensch, der nicht mehr zuhören kann, noch auf die Wirklichkeit der Dinge achten können? Und vor allem, wie soll er auf Gott hören, wie Seine so leise Stimme im Herzen inmitten des Lärmes überhaupt noch wahrnehmen können? In seiner Abhandlung über „Die Welt des Schweigens“ macht sich Max Picard tiefgründige Gedanken über dieses Urphänomen menschlichen Lebens. In der Einleitung gibt er zu bedenken:

„Das Schweigen besteht nicht nur darin, daß der Mensch aufhört zu reden. Das Schweigen ist mehr als bloß ein Verzicht auf das Wort, es ist mehr als bloß ein Zustand, in den der Mensch sich versetzen kann, wenn es ihm paßt.
Wo das Wort aufhört, fängt zwar das Schweigen an. Aber es fängt nicht an, weil das Wort aufhört. Es wird nur dann deutlich.
Das Schweigen ist ein Phänomen für sich.
Es ist also nicht identisch mit der Aufhebung des Wortes, es ist nichts Reduziertes, es ist etwas Ganzes, etwas, das durch sich selbst besteht, es ist zeugend wie das Wort und es formt den Menschen wie das Wort, nur nicht im gleichen Maße.
Das Schweigen gehört zur Grundstruktur des Menschen. [...]“
(Ebd. S. 145)

Das Hineinhorchen in die Stille des Advents

In der Stille des Advents soll sich jeder Katholik dieser Grundstruktur seines Menschenwesens wieder inne werden. Je stiller er dabei wird, desto klarer wird ihm der unerschöpfliche Reichtum der inneren Welt der Seele vor Augen stehen – wo die Sehnsucht nach Gott ihren Ursprung hat. Er wird einsehen, was wahrhaft bedeutungsvoll ist und was bedeutungslos. Im Schweigen wird sich diese innere Welt zudem immer mehr als Wirklichkeit zeigen und als solche auch erfahren lassen. Vor allem im stillen Gebet offenbart sich Gott und spricht geheimnisvoll zur Seele. Max Picard weiß noch darum:

„Das Schweigen gibt den Dingen, die in ihm sind, von der Macht seiner Seinshaftigkeit ab. Das Seinshafte der Dinge wird gestärkt im Schweigen. Das, was entwicklungshaft ist an den Dingen, ist im Schweigen wie nicht vorhanden.
Durch diese Macht des Seinshaften weist das Schweigen auf einen Zustand hin, wo überhaupt nur das Sein gilt: auf den göttlichen. Die Spur des Göttlichen in den Dingen wird durch den Zusammenhang mit der Welt des Schweigens bewahrt.“

Damit ist eine Grunderfahrung des ganzen religiösen Lebens zum Ausdruck gebracht. In jedem Kloster – das Kloster sollte eigentlich eine Welt sein, in der das Gebet das Leben ganz und gar und durch und durch bestimmt – ist die Grundatmosphäre des Hauses das Schweigen. Ein Kloster, in dem es laut ist, in dem überall und immer geschwätzt wird, ist letztlich geistig tot. Denn nur das Schweigen weist dauernd und intensiv „auf einen Zustand hin, wo überhaupt nur das Sein gilt: auf den göttlichen“. Somit soll auch in der Stille des Advents, soweit es möglich ist, der göttliche Grund allen Seins wahrnehmbar werden. Und aus der Spur des Göttlichen in den Dingen, die allein durch den Zusammenhang mit dem Schweigen bewahrt wird, soll die Botschaft des Advents hörbar werden: „…erhebet eure Häupter, denn es naht eure Erlösung“. Oder noch etwas konkreter: „…erhebet eure Häupter, denn es naht eurer Erlöser“. Muß man da nicht Herzklopfen bekommen?

Sobald man in der Stille des Advents wirklich beginnt hinzuhorchen und das Geheimnis dieser Zeit wahrzunehmen, weiß man: Jetzt ist die Zeit der Gnade! Hören wir es – es ist Zeit der Gnade?! Hören wir die Stimme des Herrn, die zu uns spricht: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, werde ich bei ihm einkehren und mit ihm essen und er mit mir“ (Offb 3, 20). Bedenken wir nur, den ganzen Advent hindurch ist der göttliche Heiland auf Herbergssuche. Er geht von Tür zu Tür und klopft an: Leise – zögernd – schüchtern – demütig – mit klopfendem Herzen. Er, der Heiland der Welt, wartet und hofft, daß Ihm jemand öffnet und Ihn einläßt in sein Herz.

Wir können es nicht wirklich begreifen, welch eine Tragödie es wäre, wenn Er anklopft – wir aber hören Ihn nicht! Wenn Er anklopft und wir öffnen Ihm nicht die Türe unseres Herzens! Was für eine Tragödie wäre es, wenn Er schließlich an uns vorbeiginge und uns allein zurückließe. Denn, was ist denn unsere Seele ohne Jesus, unseren göttlichen Heiland und Erlöser? Nichts! Ja, weniger als nichts! Sie ist wie ein leeres Haus! Ist nicht ein Palast, in dem niemals jemand gelebt hat, noch viel trauriger als gar kein Palast?

Jetzt zu Beginn des Advents sollen wir es wieder bedenken, in aller Stille in unserem Herzen bedenken: Er, unser einziges, unser ewiges Heil kommt in meine Menschenwelt! Was für ein unscheinbares Wort für eine so große, ewig glückseligmachende Wirklichkeit! Wie still muß man darum sein, um dieses göttlichen Geheimnisses richtig inne zu werden. Weil Er also unser einziges Heil ist, dürfen wir Ihn auf keinem Falle draußen stehen lassen, wir müssen bereit sein auf Sein Kommen, um Ihm sogleich die Türe zu öffnen, sobald Er anklopft. Dementsprechend flehen wir im Tagesgebet der Vigil von Weihnachten:

„Gott, Du erfreust uns alljährlich durch die Erwartung unserer Erlösung; so gib denn, daß wir Deinen Eingeborenen, den wir freudig als Erlöser aufnehmen, einstens auch als Richter mit Zuversicht kommen sehen, unseren Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn, der mit Dir lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“