Vorsicht Sackgasse!

Auf unseren Straßen gibt es unterschiedliche Arten von Schildern, die uns helfen sollen, uns im immer dichter werdenden Verkehr zurechtzufinden. Da gibt es Wegweiser, Hinweisschilder und Warnschilder. Das Schild „Sackgasse“ wird wohl jeder spontan zu den Hinweisschildern zählen, denn eine Sackgasse ist einerseits kein Ort, zu dem man fahren möchte und andererseits auch keine Gefahrenstelle, die man meiden sollte. Es ist sicherlich nicht gefährlich, in eine Sackgasse zu fahren, es kann höchstens für einen LKW-Fahrer beengend werden, wenn er nicht rechtzeitig wahrnimmt, daß evtl. keine Wendemöglichkeit besteht – wobei selbst das meistens beim Hinweis auf eine Sackgasse noch vermerkt ist: Keine Wendemöglichkeit.

Es wird somit kein Autofahrer bei dem Schild „Sackgasse“ einen erhöhten Pulsschlag bekommen, weil er sich dadurch, daß er in eine Sackgasse fährt, in Gefahr begäbe, ganz anders als beim Schild „Lawinengefahr!“ - und das ganz besonders in den letzten Wochen dieses schneereichen Winters in Süddeutschland.

Merkwürdigerweise gilt nun im traditionalistischen Schilderwald das Schild „Sackgasse“ als ein Warnschild vor allerhöchster Gefahr. Man kann mit einem „Traditionalisten“ ganz unbekümmert reden und zuweilen sogar mit einem gewissen Ernst, wenn aber bestimmte Gedanken aufzukommen drohen, heißt es sofort: „Sackgasse!“ So als könnte einem im Leben nichts Bedrohlicheres, Schlimmeres, Beängstigenderes passieren, als in eine Sackgasse zu fahren. Diesem Empfinden entsprechend haben die Traditionalisten das Schild auch gleich verändert, es heißt bei ihnen immer gleich: Vorsicht Sackgasse!

Woher stammt denn diese ungewöhnliche Angst vor Sackgassen? Welche Gefahren sollen denn in der Sackgasse lauern, daß man sich gar so sehr vor ihnen ängstigen soll? Es ist wohl wert, dieser seltsamen Psychose auf den Grund zu gehen und das entsprechende traditionalistische Psychogramm zu erarbeiten.

Der Möchte-Gern-Katholik

Wir haben schon öfter darauf hingewiesen und auch detaillierter erarbeitet, daß der heutige Traditionalismus nichts anderes ist als eine moderne, ja modernistische Form, katholisch sein zu wollen. Die Betonung liegt hierbei auf „sein wollen“. Früher war man einfach katholisch – oder man war es nicht. Der moderne Mensch möchte besonders katholisch sein. Wie in allen anderen Bereichen des Geistes hat sich auch hier die Identität ins Subjektivistische verkehrt. Der moderne Katholik ist nicht dadurch Katholik, daß er all das zu glauben bereit ist und auch glaubt, was die hl. Kirche ihm zu glauben vorlegt, sondern dadurch, daß er katholisch sein will. Mit anderen Worten: Es kommt ihm nicht so sehr auf den Inhalt (des Glaubens) an, sondern auf eine rein äußerliche Zugehörigkeit zur sichtbaren Kirche, die man auch dann noch beanspruchen kann und darf und soll, wenn man inhaltlich nicht mit allem übereinstimmt. Damit ist in etwa die Grundhaltung des liberalen Katholiken des 19. Jahrhunderts und der späteren Modernisten des beginnenden 20. Jahrhunderts umschrieben, die ganz ausdrücklich in der katholischen Kirche bleiben wollten, obwohl sie keinen katholischen Glauben mehr hatten.

Das Erbe der „Aufklärung“

Dieser liberale, modernistische Katholizismus stellt seinerseits wiederum das Erbe der alles Übernatürliche verheerenden Zeit der Aufklärung dar und kann auch nur aus diesem Erbe heraus richtig verstanden werden. In seinem Handbuch der katholischen Dogmatik charakterisiert Matthias Joseph Scheeben diese theologische Epoche folgendermaßen:

„Die zersetzenden und antikirchlichen Elemente, welche während der vorigen Epoche sich allmählich gesammelt hatten, der Jansenismus, Gallikanismus und Regalismus (Anspruch der Könige und Fürsten auf ein Bistum zur Zeit einer Vakanz) im Bunde mit der flachen Zeitphilosophie und dem unter dem Namen der Toleranz sich bergenden jämmerlichen Respekt vor der damaligen protestantisch-rationalistischen Weisheit und Gelehrsamkeit, brachten seit dem Erscheinen des Febronius (ein vom Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim (* 1701, † 1790) unter dem Pseudonym Justinus Febronius veröffentlichtes Werk, worin dieser die Institution des Papsttums und seinen Anspruch auf den Jurisdiktionsprimat frontal angriff) besonders in Deutschland unter der Ägide der josephinischen Aufklärung eine Verwirrung und Auflösung in die Theologie, in welcher die wissenschaftliche Misere mit der Verdunkelung der katholischen Wahrheit ebenso wetteiferte, wie die Ignorierung der früheren katholischen Wissenschaft mit der Bewunderung der protestantischen und jansenistischen. Am meisten litt dabei natürlich die Dogmatik, welche zugleich durch die Schöpfung zahlloser neuer Fächer, mit denen man sie im josephinischen Studienplan in schlauer Berechnung auf eine Stufe stellte, ganz aus der ihr zukommenden Stellung gedrängt wurde. Anfangs verwandelte man sie offiziell, namentlich in Österreich, mit Hintansetzung aller tieferen Entwicklung, in eine schematische Zusammenstellung von positiven Notizen, die man aus einer besseren Zeit, oder vielmehr aus protestantischen und jansenistischen Quellen herholte. Wo man aber zu spekulieren anfing, trug man die protestantische Zeitphilosophie, besonders die Kantsche und Schellingsche, in die Dogmatik hinein. Nur hie und da zeigten sich noch bessere Reminiszenzen und Bestrebungen wirksam; aber selbst bei den Besten ist die Idee der übernatürlichen Gnadenordnung – und überhaupt der ganze übernatürliche Charakter des Christentums – in hohem Grade verdunkelt und geht in der Idee der ‚moralischen Ordnung‘ oder in der in diesem Sinne verstandenen Idee des ‚Reiches Gottes‘ auf, nach welcher dann auch die Theologie höchst nüchtern als ‚Religionswissenschaft‘ bezeichnet wurde“ (Handbuch der katholischen Dogmatik I, S. 457).

Die Verdunkelung des Wissens um die übernatürliche Gnadenordnung

Es ist kaum zu fassen, aber dennoch wahr, fast ein Jahrhundert lang wurde an den katholischen Hochschulen ein Klerus herangebildet, wo selbst „bei den Besten …die Idee der übernatürlichen Gnadenordnung – und überhaupt der ganze übernatürliche Charakter des Christentums – in hohem Grade verdunkelt“ war. Durch den um sich greifenden Rationalismus wurde jegliches Verständnis für die übernatürliche Welt der Offenbarung allmählich ausgelöscht und damit dem Aberglauben Vorschub geleistet. Davon wurde vor allem die Dogmatik in Mitleidenschaft gezogen, also die Glaubenswissenschaft im engeren Sinne des Wortes. „Anfangs verwandelte man sie offiziell, namentlich in Österreich, mit Hintansetzung aller tieferen Entwicklung, in eine schematische Zusammenstellung von positiven Notizen, die man aus einer besseren Zeit, oder vielmehr aus protestantischen und jansenistischen Quellen herholte.“ Was vom Glaubensgeheimnis übrig blieb, war eine Reihe von positiven Notizen, die zudem protestantisch und jansenistisch angefärbt waren. Das wesentlich Übernatürliche des katholischen Glaubens wurde kaum mehr thematisiert, weshalb die Glaubensunterschiede der verschiedenen Konfessionen immer mehr als Äußerlichkeiten erschienen.

Es ist leicht verständlich, daß auf diesem brüchigen Boden einer seichten Aufklärungsphilosophie der Modernismus als liberales Christentum schnell Fuß fassen und sich verbreiten konnte. Die Katholiken, inzwischen gewohnt, ihre Kirche mit recht protestantischen Augen anzusehen, waren immer weniger fähig, das übernatürliche Wesen der göttlichen Offenbarungsreligion richtig zu erfassen. Das Wissen über die allein von Gott gestiftete Kirche verflüchtigte sich in eine unverbindliche Idee vom Reiche Gottes, die übrigens auf dem „2. Vatikanum“ wieder neu aufblüht und als wichtige Grundlage zur Konstituierung der Menschenmachwerkskirche dient.

Freiheit zur Finsternis

In seinem Werk „Der Modernismus“ bemerkt Dr. Anton Gisler: „Daß diese Männer in jener glaubens- und willensarmen Zeit, in der Zeit des Illuminatentums und der ‚theologischen Hofdienerschaft‘ mit der Theologie und gelegentlich auch mit einem Dogma gründlich aufräumten, überrascht nicht allzusehr; denn nur zu gerne verwechselte man damals mattherzige Gleichgültigkeit gegen die katholische Wahrheit mit zulässiger Irenik (das Bemühen um eine friedliche interkonfessionelle Auseinandersetzung mit dem Ziel der Aussöhnung). Weniger begreift man, wie jene ‚Aufgeklärten‘ vorgeben konnten, sie wollten nur den scholastischen Quark und Reste der mittelalterlichen Finsternis beseitigen“ (Dr. Anton Gisler, Der Modernismus, Verlagsanstalt Benziger & Co A.G., Einsiedeln, 1919, S. 104 f).

Wenn der Glaubensgeist erst einmal verloren gegangen ist, haben es die Theologie und das Dogma schwer, scheinen sie doch vollkommen veraltet und somit jeglichem rein menschlichen Fortschritt hinderlich zu sein. Die Aufklärer haben das Jahrhundert des Lichts verheißen, aber in Wirklichkeit ein Jahrhundert der Finsternis heraufbeschworen. Man pries die Freiheit des Geistes mit lauten Worten, meinte aber zugleich, dem Volk sagen zu müssen, was es darüber gefälligst zu denken hat. Weil man eine Freiheit ohne Wahrheit lehrte, verwechselte man damals nur allzu gerne eine mattherzige Gleichgültigkeit gegen die katholische Wahrheit mit zulässiger Irenik. Der Gebildete war umso toleranter, je gebildeter er war. Auch die Katholiken ergriff diese geistige Seuche, und auf diesem Hintergrund gesehen überrascht es durchaus nicht, wenn den Aufklärern die mittelalterliche Theologie wie Finsternis erschein, denn im Mittelalter war man nicht in diesem modernen Sinne frei, man wußte sich vielmehr ganz und gar an die göttliche Wahrheit gebunden.

Die Minimisten

Diese im höchsten Maße trostlose Lage der katholischen Wissenschaft konnte nur noch durch den beharrlichen Einsatz des kirchlichen Lehramtes gebessert werden. Die Päpste verwiesen ganz vehement auf die Notwendigkeit, sich wieder an der „Philosophia perennnis“ zu orientieren, und hierbei ganz besonders den hl. Thomas von Aquin zum Mittelpunkt der Studien zu machen. Zudem schritten die Päpste gegen all die modernen Irrtümer entschieden und energisch ein und verurteilten sie aufs Schärfste. Darum war es selbst für einen liberalen „Katholiken“ nicht ganz einfach, diese Verurteilungen einfach zu ignorieren und zu übergehen. Weil aber die liberalen „Katholiken“ einerseits ihre Irrtümer nicht aufgeben, anderseits aber auch nicht aus der Kirche austreten wollten, gewöhnten sie sich gegenüber dem kirchlichen Lehramt die Haltung eines Minimismus an, womit sie es fertigbrachten, sich wenigstens immer noch als Katholiken zu fühlen, auch wenn sie es schon lange nicht mehr waren. Hierzu führt Dr. Anton Gisler folgendes aus:

„Die Wurzeln dieser Richtung liegen wohl in jener Theologenreihe des 17. und 18. Jahrhunderts, die wie Veronius († 1649), Holden († 1662), Chrismann († 1792) in der katholischen Lehre das ‚Notwendige‘ vom ‚Freien‘ mit größter Weitherzigkeit ausschieden, um die Protestanten desto leichter zur Kirche zurückzuführen. Dieses Bestreben, die Pflicht gegenüber dem kirchlichen Lehramt möglichst einzuschränken, wurde von den Jansenisten, Frohschammer und Döllinger hartnäckig weitergeführt und fand in England an Sir John Edward Dalberg, seit 1869 Lord Acton, einem persönlichen Freund und Bewunderer und Schüler Döllingers, einen eifrigen Vertreter, der die Zeitschriften ‚The Rambler‘ und ‚Home and foreign Review‘ bediente und beherrschte.
Die Grundlage der Minimisten zielen alle auf eine ‚attenuatio sensus catholici‘, auf eine Schmälerung und Beeinträchtigung des katholischen Gedankens und könnte etwa unter folgende Gesichtspunkte zusammengefaßt werden:
7. Schmälerung des Kirchengedankens, befürwortet besonders durch Chrismann; aber auch durch den Anglikaner Pusey, dem die anglikanische, griechische und römische Kirche nur als drei Zweige der einen katholischen Kirche galten, welche drei er zu einer ‚korporativen Vereinigung‘ (corporate union) zu führen gedachte. – Döllinger in seiner Rede auf der Gelehrtenversammlung zu München 1863 beanspruchte für die deutsche Theologie den Beruf, ‚die getrennten Konfessionen einmal wieder in höherer Einheit zu versöhnen‘. Die einheitliche Religion, die Döllinger suchte, bezeichnete er als die der ‚johanneischen Kirche‘. In seinen ‚Bonner Unionskonferenzen‘ forderte er nämlich zu Bildung einer wissenschaftlichen Internationale auf, um ‚auf Grund der Heiligen Schrift und der drei alten Glaubensbekenntnisse der ersten Jahrhunderte‘ die alten Lehren der Tradition von den künstlichen Erzeugnissen einer gewissen Theologie zu scheiden und die große Versöhnung des Orients und Okzidents, der Katholiken und Protestanten aller Schattierungen durch Stiftung der Johanneskirche zu schaffen.
8. Schmälerung des Objektes des unfehlbaren Lehramtes, befürwortet von den Jansenisten, von Frohschammer, Döllinger und den englischen Minimisten. Die Jansenisten bestritten der Kirche bzw. dem Papst die Unfehlbarkeit, besonders in den sog. ‚facta dogmatica‘ oder dogmatischen Tatsachen, solchen nämlich, die zwar nicht direkt geoffenbart, aber allgemeiner und lehrhafter Natur und zur Erhaltung des Glaubens notwendig sind. – Alle Minimisten beschränken die Unfehlbarkeit der Kirche auf den formellen und unmittelbaren Inhalt des Wortes Gottes, bestreiten sie in bezug auf die mittelbar geoffenbarten Wahrheiten. Nach ihnen stände es also der Kirche nicht zu, ein unfehlbares Urteil zu fällen über Gegenstände der natürlichen Wissenschaft, auch wenn diese mit dem Dogma zusammenhangen, sei es als historische oder philosophische Voraussetzung desselben, sei es als notwendige Folgerung aus der Offenbarungslehre sowohl für das intellektuelle wie ethische Gebiet.
9. Schmälerung des kirchlichen Lehramtes überhaupt.
Döllinger z.B. erklärte in der genannten Münchner Rede die Theologie als obererste Richterin in Glaubenssachen: ‚Die Theologie ist es, welche der rechten, gesunden öffentlichen Meinung in religiösen und kirchlichen Dingen Dasein und Kraft verleiht, der Meinung, vor der zuletzt alle sich beugen, auch die Häupter der Kirche und die Träger der Gewalt.‘ Das große Werkzeug der Theologie ist die historische Kritik; damit müsse insbesondere die Tradition gesichtet und endgültig entschieden werden, was daran bleibend oder vorübergehend, katholisch oder unkatholisch sei. Damit hat Döllinger das echt katholische Traditionsprinzip, die aktive Tradition – das Lehramt – zerstört, ihm das Recht, die Überlieferung unfehlbar zu hüten und zu übermitteln, genommen und der historischen Kritik übertragen. Nur eine Folgerung war es, wenn er zur Zeit des vatikanischen Konzils behauptete, die Bischöfe auf dem Konzil seien nicht Richter über den Glauben, sondern bloße Mandatare ihrer Diözesen, um den Glauben derselben rein historisch zu bezeugen.
10. Der dauernden und einmütigen Übereinstimmung der Väter und Theologen (unanimis et constans consensus patrum ac theologorum), ebenso sehr als den Entscheidungen der kirchlichen Kongregationen bestritten die Minimisten jede Verbindlichkeit; dem Profangelehrten wollten sie auf seinem Gebiete, dem Theologen überall wo kein Glaubensdogma vorliege, die vollste subjektive Freiheit gewahrt wissen.“
(Ebd. S. 105ff)

Die Schmälerung des Kirchengedankens

Es ist zu hoffen, daß dem Leser die Ähnlichkeit dieser Gedanken mit Gedanken der Mehrheit heutiger Traditionalisten sofort ins Auge gesprungen ist. Aber gehen wir die Ausführung Punkt für Punkt durch, um diese Übereinstimmung genauer aufzuzeigen.

Zunächst spricht Dr. Gisler von der Schmälerung des Kirchengedankens. Dieser Gedanke entsprang dem ökumenischen Wunsch der liberalen Katholiken, mit allen christlichen Kirchen wieder eine Einheit herzustellen – aber nicht durch Bekehrung, sondern durch gegenseitige Annäherung der Standpunkte. Nach der Theorie des Anglikaners Pusey, dem die anglikanische, griechische und römische Kirche nur als drei Zweige der einen katholischen Kirche galten, müßte man nur in der Vergangenheit weit genug zurückgehen, um den einen Stamm zu entdecken, dem die unterschiedlichen Kirchen entwachsen sind. Dasselbe formulierte letztlich auch Döllinger in seiner Rede auf der Gelehrtenversammlung zu München 1863. Wenn nämlich „die getrennten Konfessionen einmal wieder in höherer Einheit zu versöhnen“ sind, dann kann keine Konfession für sich den Anspruch erheben, die wahre Einheit des Glaubens schon zu verwirklichen. Auch Döllinger sucht den Einheitsgrund in der Vergangenheit, wenn er zur Bildung einer wissenschaftlichen Internationale aufruft, und zwar „auf Grund der Heiligen Schrift und der drei alten Glaubensbekenntnisse der ersten Jahrhunderte“. Damit ist immer ausgesagt, auch die katholische Kirche habe sich vom wahren, unverfälschten Glauben entfernt und müsse zu diesem zurückkehren – womit letztlich implizit die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes schon geleugnet wird.

Auch alle Traditionalisten, für welche die Menschenmachwerkskirche noch die Kirche Jesu Christi sein soll, müssen, wie die liberalen Katholiken, den Kirchenbegriff schmälern, sonst können sie unter diesen nicht die Menschenmachwerkskirche mit erfassen. Auch sie müssen von Verirrungen, Verarmungen und von Untreue sprechen – nicht von abgefallenen Gruppen, von Häretikern oder Apostaten, sondern von Männern der kirchlichen Hierarchie, ja von ihrem Papst, der sich solches zuschulden kommen ließ und läßt. Sie müssen von einer Kirche sprechen, die krank ist und der man die Tradition erst wieder zurückbringen muß, weil sie sie verloren hat. Döllinger wäre bei solch traditionalistischem Gerede begeistert gewesen.

Solches Reden über das Lehramt der Kirche ist nur möglich durch Schmälerung des Objektes des unfehlbaren Lehramtes. Denn solche Kritik stimmt mit der göttlichen Verfassung der Kirche nicht überein. Denn wenn Gott eine übernatürliche Kirche gestiftet hat, dann muß Er auch für den Fortbestand dieser Kirche sorgen – nicht nur dann und wann, sondern immer.

Letztlich ist gerade ein tiefes Verständnis für das unverlierbare übernatürliche Wesen der Kirche Jesu Christi entscheidend, um die Irrtümer der liberalen Katholiken und heutigen Traditionalisten zu durchschauen. Genauso wie jene müssen nämlich diese die Unfehlbarkeit des Papstes und des kirchlichen Lehramtes minimieren, damit sie lehrmäßigen Platz für ihre Irrtümer finden. Bei den allermeisten Traditionalisten kann man inzwischen einen richtigen Horror vor der Unfehlbarkeit feststellen, weshalb sie jeweils mit tiefer Erleichterung die verzerrenden und verfälschenden Darstellungen der Jansenisten, Gallikaner und Altkatholiken aufgreifen, um ihre irrigen Anschauungen zu stützen.

Wie froh sind sie immer, wenn sie wieder einmal beruhigt feststellen können, daß ihr Papst höchstens alle 100 Jahre einmal unfehlbar ist. Wobei sie jedoch auch bei diesem Urteil schon wieder einer Wahrnehmungsstörung erliegen, sind doch die 100 Jahre offensichtlich dem Zeitraum zwischen der Verkündigung der zwei Mariendogmen von 1854 und 1950 entnommen – dazwischen war aber immerhin noch das Vatikanische Konzil und die Verkündigung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes. Womit es also auf der einen Seite nur 16 Jahre und auf der anderen Seite auch nur 80 Jahre bis zum nächsten Dogma waren – und durchaus keine 100 Jahre!

Die Schmälerung des kirchlichen Lehramtes

Im Grunde geht es den heutigen Traditionalisten genauso wie den liberalen Katholiken des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts um Schmälerung des kirchlichen Lehramtes überhaupt. Sie gehen zwar in der Theorie nicht so weit wie die Altkatholiken 1870, sie leugnen die Unfehlbarkeit nicht direkt, aber sie leugnen sie indirekt, indem sie das Prinzip des freien Urteils über die Akte des Lehramtes eingeführt haben. Für ihren Glauben ist nämlich nicht das unfehlbare Lehramt der Kirche entscheidend, sondern ihre Tradition. Das ist inzwischen Allgemeingut der meisten Traditionalisten geworden.

In der Tat verhalten sie sich genauso wie die Altkatholiken: „Das große Werkzeug der Theologie ist die historische Kritik; damit müsse insbesondere die Tradition gesichtet und endgültig entschieden werden, was daran bleibend oder vorübergehend, katholisch oder unkatholisch sei.“ Angewandt auf die Tradition der Menschenmachwerkskirche trifft das eins zu eins zu. Die Traditionalisten beurteilen die Tradition ihrer modernistischen „Kirche“ auf Grund dessen, was sie daran als „bleibend oder vorübergehend, katholisch oder unkatholisch“ anerkennen. Mit einer nicht mehr zu überbietenden Naivität setzen sie dabei ihre eigene, gegen das Lehramt ihrer eigenen Kirche verteidigte Tradition (!), mit der Tradition der katholischen Kirche gleich. Was Gisler über die Altkatholiken feststellt, gilt somit auch gleichbedeutend für sie: „Damit hat Döllinger das echt katholische Traditionsprinzip, die aktive Tradition – das Lehramt – zerstört, ihm das Recht, die Überlieferung unfehlbar zu hüten und zu übermitteln, genommen und der historischen Kritik übertragen.“

Auch der letzte Hinweis Gislers trifft voll und ganz zu: „Der dauernden und einmütigen Übereinstimmung der Väter und Theologen (unanimis et constans consensus patrum ac theologorum), ebenso sehr als den Entscheidungen der kirchlichen Kongregationen bestritten die Minimisten jede Verbindlichkeit.“ Während es für einen Katholiken ganz und gar unmöglich ist, ist es für einen Traditionalisten vollkommen selbstverständlich geworden, etwa eine Enzyklika seines Papstes mit schulmeisterlicher Herablassung zu kommentieren, kritisieren, korrigieren oder verbessern. Damit wird jedem sichtbar, wer hier eigentlich – in der Tat, de facto! – das Lehramt innehat: Nicht der Papst, sondern der Traditionalist! Wenn aber schon den Verlautbarungen des Papstes keinerlei Verbindlichkeit mehr zukommt, dann natürlich umso weniger „den Entscheidungen der kirchlichen Kongregationen“.

Mit derselben schulmeisterlichen Herablassung werden auch die Texte der Väter oder kirchlich anerkannten Theologen kommentiert oder vielmehr meist verunstaltet und der eigenen Ideologie gewaltsam eingepaßt.

Theologischer Rigorismus?

Dieser allseits und inzwischen über Jahrzehnte geübte Minimismus gegenüber dem kirchlichen Lehramt hat natürlich seine Folgen auf das „sentire cum ecclesia“, auf das kirchliche Denken. Einige Beispiele mögen das aufzeigen.

Ein traditionalistischer Priester hatte einmal einen kurzen Aufsatz über die Neue Messe geschrieben, wobei er sich sehr viel Mühe gab, Klartext zu reden. Postum wurde er von seinem Oberen für seinen theologischen Rigorismus getadelt. Nun war dem Priester zwar ein Rigorismus in der Moral bekannt, aber nicht in der Theologie, weshalb ihn der Tadel doch sehr befremdete. Im Grunde zeigt dieser Vorwurf eines theologischen Rigorismus aber genau das, wovon wir die ganze Zeit gesprochen haben, nämlich den verinnerlichten, zur zweiten Natur gewordenen Minimismus, der nicht mehr fähig ist, eine theologische Frage sachlich ernst zu nehmen. Dem Minimisten geht es niemals um die Wahrheit, es geht ihm immer nur um sein System, um seine Ideologie. Eine Wahrheit, die seinem System widerspricht, kann er sich gar nicht mehr vorstellen, sie erscheint ihm rigoros, überzogen und übertrieben.

Einem Laien, der einmal mit recht großer theologischer Sorgfalt einen traditionalistischen Priester auf Irrtümer in einer seiner Schriften aufmerksam machte, antwortete dieser allein mit dem Vorwurf des bitteren Eifers. Der Priester hat niemals seine offensichtlichen Irrlehren in seiner Schrift korrigiert, aber immerhin den Laien des bitteren Eifers überführt – wenigstens in seiner irrationalen Tradiwelt. Auch hier zeigt sich derselbe Geist des Minimismus. Was sind schon ein paar kleine Glaubensirrtümer, wenn man nur nicht in einen bitteren Eifer verfällt und plötzlich wieder die Theologie ernst nimmt. Wo kämen wir denn da hin?!

Als ein Priester einmal eine umfangreichere Arbeit über die Frage der Gültigkeit der modernen Bischofsweihen schrieb, sandte er diese mehreren höheren Oberen seiner Gemeinschaft zu. Von einem bekam er wenigstens eine Antwort, die einerseits sehr belobigend ausfiel, was den Inhalt betrifft, aber anderseits auch mit der ausdrücklichen Warnung versehen war, die Sache nicht „zu übertreiben“.

Es ließen sich noch eine ganze Reihe von ähnlichen Beispielen finden, die letztlich immer auf eines hinauslaufen, eine psychotische Angst vor „Vorsicht Sackgasse!“ Diese Warnung wird jeweils dann ausgesprochen und eindringlichst eindringlich gemacht, wenn es ernst wird mit der Wahrheit! Nun geht man bei einem Katholiken spontan und grundsätzlich davon aus, daß er die Wahrheit ernst nimmt, wieso also: Vorsicht Sackgasse!? Anstatt daß man sich darüber freut, weil wieder jemand die Wahrheit ernst nimmt, wird dessen Engagement sofort madig gemacht und zudem unter einen Generalverdacht gestellt: Vorsicht Sackgasse!

Die Wahrheit als Sackgasse, das ist doch etwas merkwürdig – oder doch wieder auch nicht? Für einen traditionalistischen Minimisten gibt es offensichtlich nichts Schlimmeres als das: Jemand fängt plötzlich an, die Wahrheit ernst zu nehmen. Man stelle sich einmal vor, welch unangenehmen Konsequenzen sich aus der neu gewonnenen Wahrheit ergeben könnten! Könnte man aufgrund der erkannten Wahrheit etwa gar gezwungen sein, seine eigene Ideologie zu hinterfragen und eventuell etwas ändern zu müssen?

Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Im konservativen Blätterwald der Menschenmachwerkskirche ist es jederzeit erlaubt, Kritik zu üben. Man darf sich jederzeit über Mißstände beklagen, etwa über Ehrfurchtslosigkeiten oder sogar Sakrilegien bei der Neuen Messe jammern, man darf modernistische Bischöfe angreifen oder neuerdings sogar über Bergoglio schimpfen – man darf jedoch nicht sagen, daß die Bischofsweihen nach dem Ritus von Montini ungültig sind. Bei solcher Kritik wird einem sofort die Warnung aller Warnungen entgegengehalten: Vorsicht Sackgasse! Denn wie verheerend wäre das, wenn all diese Apostaten keine gültig geweihten Bischöfe wären! Was für ein Drama und was für ein Dilemma, oder etwa nicht?!

Was aber, wenn es ganz einfach stimmt, wenn es ganz einfach die Wahrheit ist? Was, wenn der Teufel dabei ist, sein Ziel zu erreichen „wie dies Daniel vorherverkündigt hat. Er wird die Weihen verhindern, die Priester aussterben lassen, und so der Darbringung des großen Opfers immer engere Grenzen ziehen. Dann aber kommen die Tage des Unglücks“, wie es Dom Prosper Guéranger in seiner „Erklärung der Messe“ beschreibt?

In der Menschenmachwerkskirche darf man jederzeit progressiv oder konservativ oder traditionell denken und sein und kritisieren und schimpfen, solange man nicht die grundlegende Frage stellt, ob denn diese Irrlehrer in Rom überhaupt noch legitime Päpste der katholischen Kirche sein können. Sobald man solch verwegene Gedanken äußerst, wird einem sofort entgegengeschleudert: Vorsicht Sackgasse! Denn wie verheerend wäre das, wenn wir keinen Papst mehr hätten? Man bedenke einmal: Eine solch irrationale Angst mit einem Bergoglio in Rom! Eine Karikatur, die sich über alles lustig macht, was heilig ist, erscheint diesen Minimisten besser als gar kein Papst! Da hat der über Jahrzehnte geübte Minimismus inzwischen auch noch das letzte Wissen über die göttliche Institution Kirche mit Stumpf und Stiel ausgerissen.

Hier kann man nun wirklich nichts mehr machen. Diese Traditionalisten haben sich selbst in ihrer ideologischen Sackgasse so sehr verfangen, daß es für sie vollkommen unmöglich geworden ist, wieder herauszufinden. Damit auch ja keiner ihrer Anhänger doch noch aus der Sackgasse herausfindet – er müßte sich eigentlich nur umdrehen! – haben sie jede geistige Wendemöglichkeit so weit wie irgend möglich verunmöglicht. Sie schreien nämlich jedem, der es noch wagen sollte, Wahrheit ernst zu nehmen und so aus der Sackgasse herauszukommen, ihre panische Angst ins Gesicht: Vorsicht Sackgasse!