Fußnotentheologen - 1. Teil

Der moderne Mensch der westlichen Welt fällt besonders durch seinen Subjektivismus auf. An sich werden wir Menschen seit der Erbsünde sowieso schon ständig dazu versucht, uns eine Welt nach unserem eigenem Gustus zusammenzureimen, also die Welt nicht so zu sehen, wie sie wirklich ist, sondern so, wie wir sie gerne hätten, dennoch wurde diese Neigung in den letzten Jahrhunderten nochmals vehement dadurch verstärkt, daß man den Menschen ständig einredete, sie wären nicht einfach nur frei, sondern vollkommen frei, weshalb jegliche Bindung sogar schädlich sei und letztlich immer eine Unterdrückung. Seitdem der Mensch auf diese Weise durch eine ganze Reihe von Revolutionen befreit wurde, bemüht er sich ständig um möglichst viel Selbstverwirklichung, ohne überhaupt noch zu wissen, wer er eigentlich im Grund und zu guter Letzt ist und was er somit verwirklichen soll.

Darum ist wohl auch das befremdliche Phänomen entstanden, daß man diesem so überaus freien Wesen Mensch ständig sagen zu müssen glaubt, was er denn nun eigentlich – ganz frei versteht sich! – denken und wollen und tun soll. Eine riesige Meinungsmachindustrie kümmert sich um die freie Meinung des Menschen, und wehe einer meint, etwas anderes als das, was jeder zur Zeit gerade gemäß der Meinungsmacher meinen soll, seinerseits einfach frei meinen und äußern zu können, so wird man ihn sofort am Galgen der politischen Korrektheit aufhängen. Beim genauen Hinsehen ist das eine recht kümmerliche Freiheit – aber wie könnte es auch anders sein, sagt uns doch unser göttlicher Lehrmeister: „Wenn ihr in meiner Lehre verharrt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8,31f).

Wenn man also wirklich, wahrlich, echt frei sein möchte, kommt es auf dreierlei an: Zunächst gilt es, der Lehre des menschengewordenen Gottessohnes zu glauben. Sobald wir diese Lehre mit göttlichem Glauben für wahr halten, wird sie uns, weil wir sie als die Wahrheit erkennen, denn ER ist die Wahrheit, und als solche aneignen, frei machen.

Gerade dies ist jedoch heutzutage zugegebenermaßen äußerst schwer geworden. Nachdem nämlich das uns von Gott geschenkte kirchliche Lehramt, das uns im Auftrag und mit der Vollmacht Jesu Christi, gestützt auf den ständigen Beistand des Heiligen Geistes, unfehlbar in der Wahrheit befestigen sollte, durch die Zulassung Gottes zum Leeramt entartete – ist doch der Stuhl Petri leer und somit die Kirche Jesu Christi zur Zeit des obersten Hirten und Lehrers beraubt –, sind diejenigen „Theologen“, die dieses Faktum nicht anerkennen wollen, der Versuchung verfallen, dieses Fehlen mit Hilfe unerlaubter Mittel zu ersetzen.

Das gilt übrigens grundsätzlich für all jene, welche die evidente Tatsache des leeren Stuhles Petri nicht anerkennen wollen, aber selbst auch für nicht wenige von denjenigen, die sie anerkennen. Die Versuchung, sich selbst zum Lehramt zu erheben, ist nämlich eminent gefährlich, und es ist zudem eine Versuchung, die in vielen Nuancen den heutigen Theologen bedrängt. Während etwa die einen ihr eigenes Urteil inzwischen ganz gewohnheitsmäßig über ihr angeblich ständig irrendes Lehramt der Kirche erheben, weil sie meinen, sie könnten jederzeit frei über dieses urteilen, empfinden die anderen das Fehlen des unfehlbaren Lehramtes gar nicht mehr als besonderen Mangel und bilden sich ein, auch ganz gut ohne dieses zurecht zu kommen und, man möchte fast sagen, spielend leicht inmitten des allgemeinen Chaos katholisch bleiben zu können.

Dabei ist es immer nur allein das unfehlbare Lehramt, das uns die objektive Wahrheit unseres hl. Glaubens als solche über die Zeit hinweg verbürgen kann und auch verbürgt hat. Nur wenn ein unfehlbarer Lehrer existiert, kann die Wahrheit als solche, ohne subjektive Veränderungen und Verfälschungen im ständigen Auf und Ab der Geschichte bewahrt werden. Nun wissen wir nicht, wie lange diese göttliche Prüfung noch andauern wird, aber wir wissen, wie schwer es ist, in dieser Prüfung selbst nicht in die Irre zu gehen, weswegen selbstverständlich eine entsprechend große Sorgfalt im Umgang mit der göttlichen Wahrheit notwendig erscheint.

Es jedoch schon recht bedrückend, sehen zu müssen, wie in der Tat nicht wenige der Versuchung erliegen und die eigene erkannte „Wahrheit“ einfach apodiktisch zur Wahrheit der Kirche erheben – womit sie aus dem katholischen Glauben eine Ideologie machen. Da in der Tat keine lehramtliche Instanz mehr existiert – das müssen eigentlich alle zugestehen, hat doch das sog. moderne Rom nach Meinung der allermeisten schon seit Jahrzehnten keine unfehlbare Lehre mehr verkündet, jedenfalls interpretiert man so das Leeramt der Modernisten und meint dennoch, es sei im Grunde alles noch beim Alten geblieben –, weil aber tatsächlich jegliche lehramtliche Instanz fehl, fehlt auch jegliche unfehlbare und somit objektivierende Korrektur. Das müßte nun wiederum jeden ernsthaften Katholiken stutzig machen und sofort zum Weiterdenken zwingen. Wer dieses Weiterdenken verweigert, der wird sich notwendigerweise eine neue Lehre über das kirchliche Lehramt konstruieren, die den unleugbaren Tatsachen vermeint irgendwie noch zu entsprechen, sie aber in Wirklichkeit ins Gegenteil verkehrt.

Wie so oft in geistesgeschichtlichen Auseinandersetzungen treffen sich dabei die Extreme plötzlich wieder – hier der Modernismus und der Traditionalismus! Mit einem Mal fordern beide die Freiheit des Urteils gegenüber dem kirchlichen Lehramt, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Ein Modernist leugnet die Unfehlbarkeit mehr oder weniger ausdrücklich, für ihn hat der Papst nur noch einen Ehrenprimat inne. Der „Papst“ der Modernisten ist bloß noch der Manager der versöhnten Verschiedenheit, der modernistische Unglaube ist ja seinem Wesen nach inhaltslos und nur noch ein bloßes Gefühl. Darum ist der Modernist von seinem „Glauben“ her gegenüber dem kirchlichen Lehramt letztlich vollkommen frei.

Aber dasselbe gilt für die sog. Traditionalisten. Auch diese haben sich, zunächst eher in der Praxis, angewöhnt, frei über alle Akte des Lehramtes zu urteilen, weil diese doch überwiegend nicht mit unfehlbarer Gewißheit verbindlich seien. Wir haben zwar schon öfter darauf verwiesen, wollen aber dennoch in diesem Zusammenhang nochmals auf diesen Sachverhalt zurückkommen, ist dieser Perspektivenwechsel doch grundlegend und dieses vollkommen verkehrte Glaubensverhalten wurzelhaft in vielen vorhanden.

Die Wahrheit ist: Der Katholik ist nicht frei in seinem Urteil gegenüber dem Lehramt. Diese Aussage gilt nicht nur sporadisch und ab und zu, sondern grundlegend und immer. Die meisten Traditionalisten schränken ihren Glaubensgehorsam inzwischen grundsätzlich auf die feierlichen Akte des unfehlbaren Lehramtes ein und haben ein gewohnheitsmäßiges Mißtrauen gegenüber allem, was von Rom und somit von ihrem „Papst“ kommt. Da sie meinen, der Papst könne und habe und würde jederzeit die Kirche – solange er seine Unfehlbarkeit nicht ausdrücklich und in feierlicher Form in Anspruch nimmt! – in die schwersten Glaubensirrtümer stürzen und zudem selbst die schlimmsten sittlichen Verfehlungen für richtig und erlaubt halten bzw. erklären, müssen sie ihm mit einem ständigen Argwohn begegnen.

Man meint, es müßte jedem Katholiken spontan auffallen, daß so ein Verhalten dem kirchlichen Lehramt gegenüber unmöglich sei. Leider belehren einen die Tatsachen mit dem Gegenteil. Nicht nur, daß dieses Fehlverhalten in keiner Weise mehr eingesehen wird, es wird vielmehr mit Vehemenz verteidigt. Der Grund für die Verweigerung einer Korrektur liegt in dem inzwischen verfestigten Irrtümern über Papst, Lehramt und Kirche. Wer meint, einen Häretiker oder gar einen Apostaten als legitimen Papst der katholischen Kirche anerkennen zu können, kommt in unlösbare Konflikte mit der katholischen Glaubenslehre. Selbstverständlich kann kein Katholik einem Häretiker oder Apostaten einen unbedingten Glaubensgehorsam entgegenbringen, das wäre direkt irrsinnig. Wenn aber gerade dieser Irrlehrer oder Apostat der Papst sein soll, dann ist gerade dieser Glaubensgehorsam gefordert.

Nun sehen zwar diese Traditionalisten noch, daß der Mann in der weißen Soutane in Rom seine ihm von Jesus Christus anvertraute Herde zielsicher in die Hölle führt, weil er Glaube und Sitte systematisch zerstört, sie sehen aber nicht und wollen es unter keinen Umständen wahr haben, daß er das niemals als Papst machen kann. Darum konstruieren sie sich einen ständig irrenden „Papst“ und eine Kirche, die immer voller Irrtümer ist und deren moralischen Grundsätze inzwischen selbst dem natürlichen Sittengesetz widersprechen. Jeder Katholik müßte einsehen, dies ist nicht die Kirche Jesu Christi und kann es auch niemals sein, vielmehr muß es eine Pseudokirche sein, die den Beistand der Heiligen Geistes verloren hat und zum Tummelplatz für die Dämonen wurde. Es ist auffallend, wie sich auch hierin die Modernisten mit den Traditionalisten einig sind. Sowohl die einen wie auch die anderen sprechen ohne Hemmung von den Sünden der Kirche und sogar der sündigen Kirche. Wie auch soll die Kirche über Jahrhunderte hinweg die makellose Braut Jesu Christi sein und bleiben, wenn ihr der Heilige Geist nur alle 100 Jahre einmal bei einem außerordentlichen unfehlbaren Akt des Lehramtes zur Seite steht, sonst aber niemals in Erscheinung tritt und treten darf. Wenn es kein deistisches Kirchenbild ist! Es ist durchaus beachtenswert, daß sich der Dogmatiker Reginald M. Schultes O.P. bereits 1911 in seinem Buch über den Anti-Modernisteneid zu folgender Klarstellung veranlaßt bzw. gezwungen sah: „Von katholischer Seite wird vielfach der dem Papst resp. der Kirche verheißene Beistand des Hl. Geistes als nur in außergewöhnlichen, seltenen Fällen eintretend gedeutet, während er doch ein dauernder, mit dem Amt gegebener ist. Außergewöhnlich sind nur die Formen, in denen sich die Unfehlbarkeit des Papstes zuweilen äußert“ (R.M. Schultes, Was beschwören wir im Antimodernisteneid? Mainz 1911, S. 5).

Nur so kann und muß es sein, wenn die hl. Kirche wirklich eine göttliche Institution ist: Der „Beistand des Hl. Geistes ist ein dauernder, mit dem Amt gegebener“. Jedem Katholiken sollte das doch eigentlich ein außerordentlicher Trost sein. Aber was muß man bei vielen Traditionalisten sehen? Sie freuen sich jedesmal darüber, wenn ihr „Papst“ nicht unfehlbar lehrt, weil sie nämlich dann kein Problem mit dem Lehramt haben – so meinen sie wenigstens, denn solange der Papst nicht unfehlbar lehrt, meinen sie in ihrem Urteil vollkommen frei zu sein. Hierin erweisen sich diese Leute eindeutig als moderne Menschen mit einer modernen Freiheit, die den Anspruch der Autonomie des eigenen Urteils gegenüber jeglicher Autorität erhebt. Es ist schon ein Schauspiel ganz eigener Art, wenn man beobachtet, wie sich schon jedes Traditonalistenkind, das seinen Katechismus entsprechend ideologisiert gelernt hat, fest einbildet, es wüsste letztlich besser als der eigene Papst, was katholisch sei und was nicht. Denn, so hat es schließlich sicherlich tausendmal von den Verantwortlichen gehört: Wir haben die Tradition – worin unlösbar das Urteil eingeschlossen ist: Der Papst dagegen hat sie nicht! Der Papst muß sich ja erst noch bekehren, dann aber, wenn er sich bekehrt hat, ist er natürlich wieder ganz und gar für uns, weil wir ja katholisch sind, er aber zur Zeit noch nicht! Der eine oder andere meint nun womöglich, dies wären nun doch karikierende Worte, was aber leider nicht stimmt. Es ließen sich eine ganze Reihe von Sätzen zitieren, die genau das wieder und wieder sagen. Wir wollen jedoch den Leser damit nun nicht ermüden, oder sollte man besser sagen belästigen.

In der Zeitschrift „Der Katholik“ aus dem Jahre 1870 wird das rechte Verständnis der Unfehlbarkeit unserer hl. Kirche ausführlich dargelegt und gegen damals weit verbreitete Irrtümer verteidigt. („Der Katholik. Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirchliches Leben“ (Mainz, Jg. 50,1870, Bd. I, S. 689 ff und Bd. II S. 38 ff), herausgegeben und redigiert von C.H. Moufang und dem Dogmatiker J. B. Heinrich – zitiert in Kyrie eleison 11(1982) 23 – 28.) In dem Text wird die Möglichkeit eines „Mißbrauchs der kirchlichen Hirten- und Lehrvollmacht durch Kompetenz-Überschreitung“ erwogen, also genau das, was diese Traditionalisten dem Lehramt ständig zutrauen. Wie ist es wirklich? Kann die wahre Kirche Jesu Christi durch ihr legitimes Lehramt in die Irre geführt werden?

„...in Glaubenssachen kann die Kirche ihre Kompetenz nicht überschreiten; sie ist dagegen durch ihre Unfehlbarkeit gesichert. Wollte der Einzelne sich anmaßen, über die Lehrentscheidungen der Kirche zu urteilen, ob die Kirche nicht die Grenzen des depositum fidei überschritten (habe, d.Verf.), so hätte er bereits aufgehört, Katholik zu sein, indem er sein Privaturteil über das Urteil der Kirche setzte.
Da das depositum in der hl. Schrift und der Tradition enthalten ist, so ist die Kirche verpflichtet, ihre Entscheidungen aus diesen beiden Quellen des Glaubens, der hl. Schrift und Überlieferung, zu schöpfen. Daß sie dieses wirklich tut, und niemals eine Glaubensentscheidung erläßt, die nicht in den Quellen des Glaubens und der Überlieferung begründet wäre, dafür bürgt gleichfalls ihre Unfehlbarkeit und kann die autoritative Entscheidung darüber, ob eine Lehre in der Schrift und Tradition begründet sei, nur der Kirche selbst zustehen.
Diese Entscheidung dem Einzelnen anheimstellen, heißt das katholische Autoritätsprinzip zerstören. Ob die Heilige Schrift oder die Tradition und ihre Quellen dem Privaturteil unterworfen werden, ist eines und dasselbe.
Es wäre daher ein die Kirche und den Glauben umstürzendes Prinzip, wenn man die letzte Entscheidung darüber, ob die Lehrentscheidungen der Kirche gültig, weil der Überlieferung gemäß seien, der Wissenschaft zusprechen wollte...“

Wir haben diese Stelle schon einmal dem Leser zur Kenntnis gebracht, da sie aber den Sachverhalt so klar und unmißverständlich darlegt, kann man sie nicht oft genug überdenken. Die Kirche kann im Rahmen ihrer ordentlichen Lehrverkündigung niemals ihre Kompetenz überschreiten, d.h. sie kann niemals Irrtümer zur Lehre der Kirche machen, weil sie „dagegen durch ihre Unfehlbarkeit gesichert“ ist. Es ist evident: Das glauben heute weder die Modernisten noch die meisten Traditionalisten, wodurch allein sich schon zeigt, daß sie den eigentlichen Sinn der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes gar nicht mehr begreifen. Wer nämlich meint, gegen das unfehlbare Lehramt der Kirche auf die Tradition (das depositum, die Glaubenszeugnisse der Vergangenheit) zurückgreifen zu können, ja ständig zu müssen, weil er Angst davor hat, dem Lehramt voll zu vertrauen, obwohl ihm nicht nur der sporadische, sondern der ständige Beistand des Heiligen Geistes zugesichert worden ist, der hat gar keinen übernatürlichen Glauben mehr, erhebt er doch sein eigenes, privates und ständig irrtumsfähiges Urteil über das unfehlbare Urteil des Lehramtes: „Diese Entscheidung dem Einzelnen anheimstellen, heißt das katholische Autoritätsprinzip zerstören.“

Wenn aber das katholische Autoritätsprinzip einmal zerstört ist, dann regiert die Willkür und der Glaube wird zur Ideologie. Die Autoren des Artikel in „Der Katholik“, stellten damals ganz unmißverständlich fest: „Es wäre daher ein die Kirche und den Glauben umstürzendes Prinzip, wenn man die letzte Entscheidung darüber, ob die Lehrentscheidungen der Kirche gültig, weil der Überlieferung gemäß seien, der Wissenschaft zusprechen wollte...“ Heutzutage müßte man wohl noch ergänzend hinzufügen: der Wissenschaft oder irgendeiner religiösen Gemeinschaft zusprechen wollte. Denn das ist die Versuchung, der so viele unterliegen: Sie schaffen sich im Gegensatz zum sog. modernistischen Rom ein Ersatzlehramt, indem sie nämlich einer Person oder einer Gemeinschaft die Fähigkeit zuschreiben, den katholischen Glauben inmitten der vielen Irrtümer richtig (eigentlich müßte man sagen unfehlbar!) zu verteidigen.

In der Folge werden sodann Sondermeinungen der Gemeinschaft gleichsam dogmatisiert und diese vorgegebene „Wahrheiten“ gemeinschaftlich verteidigt. Je länger das dauert, desto größer werden die Wahrnehmungsstörungen der einzelnen Mitglieder. Keiner sieht mehr über den Tellerrand der eigenen Ideologie hinaus, und wenn man nur etwas genauer hinschaut, erkennt man sofort, es geht gar nicht mehr um die göttliche Wahrheit, die uns allein von der Kirche unfehlbar vorgelegt werden kann, es geht um die eigene „Wahrheit“, die stillschweigend und gleichsam apriori mit dem katholischen Glauben gleichgesetzt und entsprechend rigoros verteidigt werden muß. Diese blinden Blindenführer werfen sodann jedem Verteidiger der göttlichen Wahrheit blinden Eifer vor, den sie täglich selbst öffentlich zur Schau stellen. Die Folgen sind natürlich besonders weitreichend und schwerwiegend, wie wir noch sehen werden. Aber wenden wir uns vorerst einem anderen Thema zu.

Der 1870 in Frankreich geborene und 1953 in England verstorbene Hilaire Belloc war gleich seinem Freund Chesterton ein nicht zu überhörender Außenseiter, der mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen den geistlosen Materialismus, die Tyrannei der Schlagworte, die Demagogie und den Fortschrittsglauben kämpfte. In seinem Buch „Gespräch mit einem Engel“ macht er eine seiner etwas launigen Bemerkungen „Über Fußnoten“. Einleitend stellt er fest: „Es ist überaus anregend, die verschiedenen Formen und Gestalten der Lüge zu beobachten; eine solche Betrachtung gewährt uns nämlich einerseits Einblick in die schöpferische Erfindungsgabe der Menschen und bietet uns andererseits den unterhaltsamen Anblick der Gefoppten. Eine der milderen Arten der Lüge, die mir immer ganz besonderen Spaß bereitet hat, ist die Verwendung von Fußnoten in modernen Geschichtswerken“ (Hilaire Belloc, Gespräch mit einem Engel, Herold, Wien 1954, S. 177).

Wenige Menschen sind ganz und gar ehrlich, wenn es um ihre eigene Person geht, ihr Ansehen, ihr berufliches Fortkommen, ihren Erfolg. Da besitzt der Mensch nur allzu oft eine schöpferische Erfindungsgabe, um dem Ganzen etwas vorwärts zu helfen. Das gilt natürlich auch im wissenschaftlichen Bereich. Es geht im Namen der Wissenschaft nicht immer um die Wahrheit. Das zeigt sich etwa bei der Verwendung von Fußnoten in wissenschaftlichen Werken. Dem will Belloc in seinem Essay nachspüren.

„Die ganze Geschichte mit den Fußnoten hat sicher in der allerbesten Absicht angefangen. Die erste, bescheidene, kleine Fußnote diente lediglich der Unterstützung eines im Texte ins Treffen geführten Argumentes. Der Autor wollte irgendeine Behauptung, die außerordentlich oder befremdend erschien, ohne den Zusammenhang seiner Darlegungen zu unterbrechen, unterstützen und belegen; in der Absicht, den Leser zu überzeugen, gibt er in der Fußnote die Quelle oder die Belegstelle an, die seine Behauptung beweisen oder glaubhaft machen soll; er sagt gleichsam zum Leser: ‚Wenn Du mir nicht vertraust, schlage dieses oder jenes Werk nach, das mir als Autorität gilt.‘ Das war ganz unschuldig und ganz in Ordnung“ (Ebd.).

Jeder, der selber mit wissenschaftlichen Texten zu tun hatte oder hat oder womöglich selbst solche verfaßt hat oder noch verfaßt, weiß, ganz ohne Fußnoten kommt man nur in populärwissenschaftlichen Aufsätzen aus. In fachwissenschaftlichen Beiträgen sind Fußnoten eine Pflicht. Sie erweitern etwa die Möglichkeiten des Nachlesens für diejenigen, die sich in das Thema vertiefen wollen, sie schließen einen Gedanken ab, wofür in der eigenen Arbeit kein Platz mehr ist, sie verweisen auf grundlegende Literatur, die es zum Thema gibt, usw. Wie wir sehen ist das zunächst „ganz unschuldig und ganz in Ordnung“. Zunächst, aber wie geht es weiter?

„Dann aber kam die Schlange zum Vorschein, oder besser die ganze Schlangenbrut.
Der erste bedeutende Autor, der — soweit ich feststellen kann — eine recht ansehnliche Schlange einführte, war Gibbon [Gibbon Edward, Historiker, 1737 – 1794, sein berühmtes Buch, auf das hier Bezug genommen wird, ist „The Decline und Fall of the Roman Empire“]. Er verwendete zwar die Fußnote noch korrekt als gelegentliche Unterstützung irgendeiner fragwürdigen Behauptung; aber er bringt doch auch eine neue Note in die ganze Sache. Ich bin nicht ganz sicher, ob er dabei wirklich der erste ist. Ich möchte es beinahe bezweifeln, denn Gibbon war kein selbständiger Denker, sondern ein Nachbeter der zeitgenössischen französischen Schriftsteller der Aufklärung und ein Schüler Voltaires. Jedenfalls aber ist Gibbons Buch das erste bedeutende Werk, in dem die Anfänge der Mißbräuche und Fälschungsmanöver bei der Verwendung von Fußnoten festzustellen sind, und gerade die ersten sind die weitaus schlimmsten; niemand hat von diesen Methoden so ausgezeichneten Gebrauch gemacht wie Gibbon; er war auch darin genial, wie in vielen anderen Dingen. Es handelt sich um die Verwendung der Fußnote, um den einfachen Mann, den gewöhnlichen Leser zu täuschen und zu beeinflussen. Gibbon macht hiervon ausgiebigsten Gebrauch“ (Ebd. S. 177f).

In Zeiten, in denen ein Buch noch etwas relativ seltenes war, hatte dieses auch noch eine herausragende Stellung. Was man gelesen hatte, beeindruckte mehr als das, was man einfach hört. Man kann das heute wohl vergleichen mit dem Fernsehen. „Das habe ich im Fernsehen gesehen“, bedeutet bei vielen Menschen mehr als „Das habe ich selbst gesehen“. Die suggestive Macht der Medien kann man schwerlich überschätzen. Auch ein Buch besitzt diese suggestive Macht, vor allem natürlich ein wissenschaftliches Buch von einem Wissenschaftler ersten Ranges. Aber auch eines von einem weniger bekannten Mann übt schon diese Wirkung aus: Der einfache Mann, der gewöhnliche Leser, der Nichtfachmann läßt sich leicht beeindrucken und darum leicht beeinflussen und täuschen. Der einfache Leser urteilt ganz unbedacht so: „Der ist ein Fachmann, der muß es wissen.“ Mit diesem Vorschuß an Vertrauen läßt sich, wie man sich gut vorstellen kann, leicht Schindluder treiben. Überlassen wir dazu Belloc wieder das Wort.

„Seine Lieblingsmethode ist es, zunächst im Text eine falsche Behauptung aufzustellen und diese sodann in einer Fußnote in solcher Weise zu erläutern, daß er zwar gegen den Fachmann gedeckt erscheint, der Unwissende aber hinters Licht geführt wird. Er behauptet zum Beispiel im Texte in ganz bestimmter Form irgendeinen Sachverhalt — obgleich er selbst genau weiß, daß dies falsch ist, und daß jeder Nachweis dafür, wenn überhaupt erhältlich, höchst zweifelhaft wäre. Dann setzt er zu dieser Behauptung eine Fußnote, die einer Einschränkung seiner Feststellung im Texte gleichkommt, so daß ein Kritiker, der die Materie kennt, zugeben muß, daß auch Gibbon sie kennt. Es ist geradeso, wie wenn ich schriebe: ‚Im Jahre 1914 sind die Russen in Nordengland gelandet und durch England marschiert, um an der französischen Front eingesetzt zu werden‘, und dann eine Fußnote setzte: ‚Siehe aber spätere Kritiken dieses Berichtes von dem zwar sehr genauen, aber fanatischen X. Y.‘“ (Ebd. S. 178f).

Ein Sprichwort sagt: „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, womit eine Alltagserfahrung zum Ausdruck kommt, die einen öfter selbst überrascht. Manche Erlebnisse erscheinen so ungewöhnlich, daß man meint, sie gar nicht glauben zu können, wenn man sie nicht selbst erlebt hätte. Solche Erfahrungen machen sich auch manche Schriftsteller zunutze, sie wagen den Sprung ins Seltsame, Phantastische, Unglaubliche, das sie aber als Tatsache behaupten. So gibt es etwa inzwischen eine ganze Flut von Büchern über Außerirdische, die schon auf unserem Planet Erde gewesen sein sollen. Ein Autor könnte hierbei etwa als Fußnote auf die Werke von Jules Verne verweisen und würde damit sicherlich immer noch als sehr gelehrt gelten. Damit sind wir aber auch schon bei der zweiten Möglichkeit, mit Fußnoten in die Irre zu führen.

„An anderer Stelle führt Gibbon den einfachen Leser wieder durch Hinweise auf Belegstellen hinters Licht, die höchst gelehrt aussehen, tatsächlich aber völlig nichtssagend sind; der schlichte Leser sagt sich angesichts dieser Fußnoten: Ich kann natürlich nicht alle diese alten Bücher nachlesen, aber der gelehrte Mann, der das Buch schrieb, hat sie sicher alle gelesen.
Ein glänzendes Beispiel für die Kniffe, die Gibbon anwendet, ist seine berüchtigte Falschmeldung, die er über den hl. Georg in Umlauf setzte. Es ist, weiß Gott, wenig genug über diesen Heiligen bekannt, als daß auch noch falsche Berichte über ihn verbreitet werden müßten. Man findet die Stelle im dreiundzwanzigsten Kapitel seines Buches, in dem er die geradezu absurde Behauptung aufstellt, daß der hl. Georg identisch sei mit Georg von Cappadocien, diesem betrügerischen Schweinehändler und Gegner des hl. Athanasius.
Dieses geradezu klassische Beispiel für einen Fußnotenbetrug verdient festgehalten zu werden. Im Text heißt es wörtlich: ‚Der berüchtigte Georg von Cappadocien ist in den berühmten hl. Georg von England umgewandelt worden.‘ Die Fußnote hierzu lautet: ‚Diese Umwandlung wird nicht als absolut sicher behauptet, aber als außerordentlich wahrscheinlich. Siehe Longueruana, Band L, Seite 194.‘“ (Ebd. S. 179f).

Die Behauptung, „daß der hl. Georg identisch sei mit Georg von Cappadocien, diesem betrügerischen Schweinehändler und Gegner des hl. Athanasius“, ist nun wirklich recht abenteuerlich, ja geradezu absurd, was jedoch einen französischen Schriftsteller der Aufklärung und einen Schüler des Kirchenhassers Voltaire nicht hindert, sie aufzustellen. Der Grund für eine solchermaßen absurde Behauptung liegt offen auf der Hand, sie möchte die Heiligen der Kirche lächerlich machen. Und dazu war den Kirchenhassern immer schon jedes Mittel recht. Damit der Betrug nicht ganz so leicht ins Auge fällt und jeder Dummkopf ihn als solchen entlarven kann, dient die Fußnote, die sagt: Es gibt ein Buch, in dem das, wenn auch nicht sicher, so doch mit außerordentlicher Wahrscheinlichkeit behauptet wird. Um welches Buch es sich dabei handelt erklärt uns wiederum Belloc.

„Diese Fußnote verwässert also sofort die Behauptung im Text und gibt sich gleichzeitig den Anschein großer Gelehrtheit und Gründlichkeit. Die größte Überraschung aber ist es, wenn man erfährt, daß die zitierte Autorität mit dem klingenden Titel ‚Longueruana‘ ein alter Schmöker und ein Schundbuch ist, das allerhand abenteuerliche Tratschgeschichten, ohne den geringsten Anspruch auf irgendeine historische Richtigkeit zu erheben, erzählt und von einem sonst ganz obskuren Franzosen des 18. Jahrhunderts zusammengestellt worden ist; das ist nun die Quelle, aus der Gibbon seine Weisheit über den hl. Georg schöpft. Ich habe mich — wahrscheinlich als erster und sicherlich als letzter meiner Generation — der Mühe unterzogen, das Buch ausfindig zu machen und nachzuschlagen“ (Ebd. S. 180).

Wenn allein auf der Frankfurter Buchmesse jährlich etwa 400 000 Bücher gezeigt werden, kann man sich ausmalen, wie viele Schundbücher darunter sein müssen. Man kann wohl ohne Übertreibung für fast jede noch so absurde Meinung ein Buch finden, das diese vertritt und verteidigt. Noch unübersehbarer wird das Ganze heutzutage durch das Internet. Eine ganze Flutwelle von Informationen kommt einem da entgegen, der man, wenn man ehrlich zu sich wäre, gar nicht gewachsen sein kann! Man muß schon ein überdurchschnittliches Wissen zu einem Thema haben, um aus der Fülle der Möglichkeiten das Rechte herausgreifen zu können. So konnte auch Gibbon zu einer Zeit, als die Bücherzahl noch bei weitem überschaubarer was als heute, einen Autor finden, der die absurde These vertrat, daß „der hl. Georg identisch sei mit Georg von Cappadocien, diesem betrügerischen Schweinehändler und Gegner des hl. Athanasius“. Daß der phantastische Schreiber mit seinen Geschichten keinerlei Anspruch auf geschichtliche Wahrheit beanspruchte, störte Herrn Gibbon nicht, es ging ihm ja nicht darum, wahre Geschichte zu schreiben, sondern darum, die Heiligen der Kirche in ein möglichst schlechtes Licht zu stellen – und dazu ist ihm jedes noch so absurde Argument willkommen. Daran hat sich natürlich bis heute nichts geändert.

Damit haben wir freilich unser Thema immer noch nicht ausgeschöpft. Fußnoten eröffnen einen ungeahnt weiten Horizont der Täuschung, wie uns Belloc überaus gekonnt zeigt: „Der verstorbene Historiker Andrew Lang pflegte zu sagen, daß der Autor, der unter dem Pseudonym Anatole France schreibt, die Sammlung der Fußnoten zu seinem Buch über die hl. Jeanne d'Arc in Akkord vergeben haben müsse. Die Idee eröffnet interessante Ausblicke. Ein Mann mit einem Namen als Autor könnte sich einfach hinsetzen und eine historische Arbeit über ein Thema schreiben, von dem er gerade noch eine blasse Idee hat. Das Manuskript übergibt er dann einem armen Teufel, der für ihn schwitzend in der Bibliothek des British Museum die Bezugsstellen und Belege für jede Behauptung oder Feststellung, die dem Autor beliebte, heraussucht; mit einiger Mühe wird dies gelingen, denn man kann für alles, was man nur will, eine Belegstelle finden. Jedenfalls hat Andrew Lang in dem Falle des Buches über Jeanne d'Arc genau nachgewiesen, daß der Autor die Werke, auf die er sich beruft, niemals gelesen hat, obwohl er sie haufenweise zitierte“ (Ebd. S. 183f).

Bekanntlich ist ja Zeit Geld und wer hat schon genügend Zeit, wenn ihm das Geld fehlt? Wie sollte ein armer Gelehrter so viele Bücher lesen können, daß er selbst vor seinen Fachkollegen Anerkennung findet? Nun, wenn er die Bücher schon nicht lesen kann, dann kann er sie doch wenigstens in einer sehr gelehrten Fußnote erwähnen – und damit den Eindruck erwecken, er hätte dieses Werk natürlich, wenn er es schon zitiert, auch gelesen. Heutzutage, im Zeitalter des Internet, ist es noch viel leichter geworden, nicht vorhandene Gelehrtheit zu Schau zu stellen. Es ist damit aber „leider“ auch viel leichter geworden, solche Plagiate nachzuweisen. Dem einen oder anderen kommen bei diesem Thema womöglich gewisse Doktorarbeiten in den Sinn, wobei man sich doch auch die Frage stellen könnte, warum man immer nur gewisse Leute überprüft, andere offensichtlich ungeschoren davonkommen läßt? Das Ganze könnte man natürlich noch weiterspinnen und sich vorstellen, daß ein entsprechend bemittelter Doktorand einen sog. Ghostwriter engagiert, der für ihn die hauptsächliche Arbeit macht. Er selbst braucht dann nur noch kurz drüber gehen und somit alles zu seine Arbeit zu machen, womit die Doktorarbeit fertig wäre.

Hiermit – mit dieser sehr weitreichenden Möglichkeit des Abschreibens von anderen – sind wir auch schon bei unserm nächsten Fall angekommen. Da unser Autor diesen schon unübertrefflich zu Papier gebracht hat, wollen wir ihn darüber auch in einem Stück berichten lassen:

„Das bringt mich nun zu einem weiteren Unfug, der mit Fußnoten betrieben wird; es ist die verbreitete Gewohnheit, die Fußnoten anderer Bücher einfach abzuschreiben. Als Student in Oxford tat ich es selbst, und die Universität hat mich dazu verführt; heute noch bitte ich Gott und die Menschheit um Vergebung dafür. Es ist ein sehr weit verbreiteter Brauch, und ein klein wenig Findigkeit genügt, um die Spuren zu verwischen. Ein sehr gelehrter und weiser Mann erzählte mir einmal folgende amüsante Geschichte.
Er arbeitete an einem wirtschaftsgeschichtlichen Thema und fand in allen Werken, die er dazu benötigte, immer wieder Hinweise auf ein Buch aus dem Ende des XVII. Jahrhunderts, das einen ökonomischen Essay über die Frage, an der er arbeitete, enthielt. Ein Buch nach dem anderen nahm immer wieder Bezug auf diesen Essay und die darin enthaltene Theorie; meinem Gewährsmann, der, wie ich schon sagte, ein hervorragender Fachmann auf diesem Gebiete war und überdies (was bei hervorragenden Fachleuten gar nicht immer der Fall ist) über ein beträchtliches Allgemeinwissen verfügte, kam die Sache verdächtig vor. Er konnte nicht glauben, daß ein Buch aus dieser Zeit wirklich gesagt haben sollte, was in den Zitaten immer wieder behauptet wird.
Endlich versuchte er, sich dieses Buch, dessen Zitierung ihn überall verfolgte, selbst anzusehen und fand, daß nur zwei Exemplare davon auffindbar seien. Das eine war in einer öffentlichen Bibliothek und das andere in einer Privatbibliothek. Die öffentliche Bibliothek war in einer entfernten Provinzstadt, aber die private war leichter zu erreichen. Er schrieb also dem Besitzer einen höflichen Brief und bat, in das Buch Einsicht nehmen zu dürfen. Er erhielt pünktlich eine liebenswürdige Antwort mit der Mitteilung, daß die Bibliothek leider einem Brande zum Opfer gefallen und das Buch vernichtet sei. So blieb ihm nichts übrig, als sich zu der Reise zu entschließen, und in dieser öffentlichen Bibliothek machte er schließlich eine sehr interessante Entdeckung. 1. Daß das Büchlein, das er dort fand, noch nie benutzt worden war, weil es gar nicht aufgeschnitten war, und 2., daß die überall angegebenen Zitate aus dem Buch kaum irgend einen Bezug oder Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches hatten. Daraufhin unternahm er mit unendlichem Fleiß und größter Mühe genaue textkritische Untersuchungen und konnte schließlich einwandfrei feststellen, daß seit dem Jahre 1738 kein Mensch mehr die fragliche Stelle mit eigenen Augen gesehen haben kann. Seit dieser Zeit ist die Stelle erst verfälscht und sodann in der gefälschten Form abgeschrieben und immer wieder abgeschrieben worden“ (Ebd. S. 184ff).

Der Autor dieser Zeilen durfte in seinem Leben bisher zwei sehr gelehrte, inzwischen leider verstorbene Männer kennen lernen, welche genau aus diesem Grund alle für ihre eigene Arbeit evtl. in Frage kommenden Fußnoten auf ihre Richtigkeit hin überprüften. Solche Sorgfalt dürfte freilich die große Ausnahme sein, weshalb man bei Fußnoten allein deswegen schon immer sehr vorsichtig sein sollte. Man könnte es in geringfügiger Abwandlung eines gängigen Spruchs über Statistiken so ausdrücken: „Traue niemals einer Fußnote, die du nicht selbst aufs Genaueste überprüft hast.“

Nun wird sich der Leser womöglich schon gefragt haben, was denn eigentlich aus den Fußnoten werden soll, wenn sie solchermaßen mißbraucht werden? Soll man nicht lieber ganz auf sie verzichten, oder gibt es noch andere Möglichkeiten der Lösung? Unser Kritiker der Fußnoten, Hilaire Belloc, macht seine Gedanken abschließend folgenden Vorschlag:

„Natürlich wird man jetzt an mich die Frage richten, die jeder Reformator zu gewärtigen hat: Was wollen Sie also an die Stelle der braven kleinen Fußnote treten lassen, wenn Sie sie umbringen wollen? Wie kann man wissen, ob der Historiker die Wahrheit sagt, wenn er keinerlei Belege für seine Behauptungen erbringen kann? Es ist ja zuzugeben, daß die Fußnoten eine lesbare Geschichtsschreibung heute unmöglich machen. Es ist auch richtig, daß mit Fußnoten arger Unfug getrieben wird, so daß sie beinahe nutzlos geworden sind. Aber irgendeine Garantie für die Authentizität der Behauptungen muß doch gegeben werden. Wie ist eine solche zu erlangen?
Ich würde darauf folgendes antworten: Man setze die Fußnoten in kleinstem Drucke an das Ende des Buches, und der Autor eines Buches möge sich, soweit dies irgend geht, damit begnügen, lieber einzelne typische Belege zu geben, anstatt ganzer Listen. Lassen wir doch die Autoren die Geschichte so schreiben, wie sie geschrieben werden soll — mit eingehenden Detailschilderungen, lebendig und plastisch — zur Freude der Leser und nicht der Fachkritiker. Der Autor kann hier oder dort einen Abschnitt herausheben und im Anhange den Ansprüchen der Kritik Rechnung tragen und dieser in sein Quellenmaterial Einblick gewähren. Er soll aber seine genauen Aufzeichnungen für sich behalten und ruhig die Kritik herausfordern. Nie wird er sich vor dem Groll und dem Ärger aller jener schützen können, die selbst nicht klar, gar nicht zu reden von lebendig, schreiben können und die nie imstande waren, die Vergangenheit durch ihre Schilderung zu neuem Leben zu erwecken; aber er wird sicher sein vor ihrer zerstörenden Kritik“ (Ebd. S. 187f).

Irgendwie ist es beeindruckend und beängstigend zugleich, sehen zu müssen, mit welchen Tricks sich oftmals die Gelehrten behelfen, wenn es um die Verteidigung ihrer eigenen Meinung geht. So ist etwa Ernst Haeckel bedenkenlos soweit gegangen, sein „biogenetisches Grundgesetz“ – „Die Ontogenese (Individualentwicklung) ist eine Rekapitulation der Phylogenese (Stammesentwicklung)“ – das noch heute in den Lehr- und Schulbücher im Fach Biologie zu finden ist, einfach durch gefälschte Bilderreihen zu beweisen, die eine solche Entwicklungsreihe darstellen sollen. Der Lektor an der St. Georges Hospital Medical School in London, Michael Richardson, erkannte bei der näheren Untersuchung der Bilder viele Fehler und Mängel, so daß er zu dem Schluß kam: „Das ist einer der schlimmsten Fälle von Betrug in der Wissenschaft.“

Und wirklich, Haeckel hat absichtlich die Bilder gefälscht, um seiner Theorie nachzuhelfen. Nach Richardson soll Haeckel die Fotos der Embryonen in der früheren Embryonalentwicklung vertauscht, zugleich auch geschnitten und hinzugefügt haben. „Haeckel nahm den menschlichen Embryo, kopierte ihn und gab vor, dass Salamander, Schwein und andere (Wirbeltiere) in dem gleichen Stadium der Entwicklung auch gleich aussehen, das ist falsch. Außerdem vergrößerte er beim menschlichen Embryo den Kopf, die Augen verkleinerte er, die Länge des Hinterleibes wurde mehr als verdoppelt und mehr als die Hälfte der lebenswichtigen Organe ließ er weg oder veränderte sie vollkommen.“ Im Laufe der Jahre wurden immer wieder Fotos, die diese Fälschung bestätigen, von vielen Wissenschaftlern veröffentlicht. Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“ ist ein Schulbeispiel für eine ideologisierte Wissenschaft, die nicht nur Fußnoten fälscht, sondern Forschungsergebnisse und ganze Gesetze.

Er ist auch ein Beispiel dafür, wie wohlwollend solche Fälschungen interpretiert werden, wenn sie nur der vorgegebenen Ideologie entsprechen. Heute sind die Wahnvorstellungen Haeckels lange widerlegt. Einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Embryonalentwicklung war Erich Blechschmidt. Dieser war von 1942 - 1973 Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Göttingen. Dort hat er die nach ihm benannte Humanembryologische Dokumentationssammlung aufgebaut und mit ihr die Humanembryologie morphologisch begründet. Basierend auf dieser Sammlung mehrerer hunderttausend Schnitte menschlicher Embryos kam er zu dem Schluß, daß sich die menschliche Embryonalentwicklung von der tierischen schon vom allerersten Moment an grundlegend unterscheidet, so daß von einer „Rekapitulation“ im Sinne Haeckels niemals die Rede sein könne. Blechschmidt bewies: Der Mensch ist von allem Anfang an Mensch und unterscheidet sich grundlegend vom Tier.

L.F.C. Mees faßt die Sachlage so zusammen: „Heute wissen wir, daß das sogenannte Biogenetische Grundgesetz eines der ernstesten Irrtümer des vorigen Jahrhunderts in der Biologie war. Dieses Grundgesetz ist falsch. Das steht unumstößlich fest. Es ist auch nicht ein bißchen oder in irgendeiner anderen Weise richtig; es besitzt in keiner Weise auch nur die geringste Gültigkeit“ (L.F.C. Mees: Tiere sind, was Menschen haben, J. Ch. Mellinger Verlag, Stuttgart 1987). Daß es dennoch in allen Schulbüchern erwähnt und von den Schülern gelernt werden muß, zeigt, wie hartnäckig solche Fälschungen sind, wenn sie nur in den ideologischen Kram einer Gesellschaft passen. Sieht man, wie Geschichtsforscher und Biologen und Wissenschaftler aller Fachgebiete – wie man leicht zeigen könnte – gerne auch einmal schummeln, wenn es um ihre eigenen Ideen geht oder auch um den eigenen Erfolg, so wundert es einen nicht mehr, daß diese Untugend auch vor den Theologen keinen Halt macht.

Wie wollen in der Folge nur auf einige Fälle im Rahmen der sog. Traditionalisten aufmerksam machen, wohl wissend, daß es genügend Beispiele auch bei den Modernisten zu finden gäbe. Hilaire Belloc sprach von „verschiedenen Formen und Gestalten der Lüge“, wobei er damit keine Aussage über die moralische Verantwortlichkeit machen wollen. Der Mensch belügt sich ja bekanntlich sehr gerne selbst, ohne daß er es bemerkt. Damit ist natürlich nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß es sich auch um einen bewußten Betrug handeln könnte – siehe Ernst Haeckel.