Die Starwissenschaftler

1. Galileo Galilei

Sobald irgendwo das Thema Kirche und (Natur-)Wissenschaft angesprochen wird, wird sicherlich der Name Galilei fallen und sofort auf den „Fall Galilei“ verwiesen werden. Die mehr oder weniger offene Behauptung, die sich hinter dieser Erwähnung Galileis verbirgt, ist, die Kirche sei ganz besonders im finsteren Mittelalter, aber im Grunde immer schon wissenschaftsfeindlich gewesen, weil ihr allezeit daran lag, die Leute dumm zu halten, weshalb sie diese von einem Wissen, das ihr gefährlich werde könnte, versuchte, soweit wie möglich abzuhalten. Dieses Märchen hatte man in Laufe der letzten zwei Jahrhunderte von kirchenfeindlicher Seite so oft wiederholt, daß es auch die meisten Katholiken zu glauben begannen. Man kann darum mit Recht von einem Galileitrauma sprechen.

Walter Brandmüller erwähnt in seinem Buch über den Fall Galilei, wie das 2. Vatikanum sich aufgrund dieses Traumas dazu bewogen sah, in der sog. Konstitution „Gaudium et spes“ zu schreiben: „Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern.“ Man beachte den, dieser Versammlung „würdigen“, genügend vieldeutigen und den Irrtum fördernden Ausdruck „legitime Autonomie der Wissenschaft“. Brandmüller kommentiert die Aussage folgendermaßen: „Der Text war während seiner Entstehung heftig diskutiert worden. Dabei waren sowohl die Hinweise, man müsse den ‚Fall Galilei‘ doch in seinem historischen Kontext sehen, ebenso wenig beachtet worden wie die Empfehlung, sich dazu gar nicht zu äußern. Zwei Konzilsväter, die diesen letzteren Rat gegeben hatten, waren der Meinung gewesen, daß durch dergleichen Ausführungen nur ein Minderwertigkeitskomplex der Kirche gegenüber der Wissenschaft offenbar werde. Was in der Tat aus diesen Sätzen des Konzils sichtbar geworden ist, ist das Trauma, das der ‚Fall Galilei‘ auch in der Kirche hinterlassen hat. Dem entspricht seither eine neue Art von bemühter Apologetik, die nun freilich nicht mehr in der Verteidigung der einstmals Verantwortlichen besteht, sondern das Ansehen der Kirche von heute dadurch zu retten sucht, daß man die Kirche von damals anklagt und sich von ihr distanziert“ (Walter Brandmüller, Galilei und die Kirche, MM Verlag, Aachen 1994, S. 38f).

Wie wir wissen, hat sich diese Art der Vergangenheitsbewältigung in der sog. Konzilskirche in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt. Die vor der ganzen Welt zelebrierten Vergebungsbitten eines Karol Wojtyla alias Johannes Paul II. für die vielen „Sünden“ der Kirche in der Vergangenheit dürften den meisten noch in lebhafter Erinnerung sein – so ist wenigstens zu hoffen. Das Trauma aber und der Minderwertigkeitskomplex wurden damit freilich nicht beseitigt, vielmehr zeigen diese kindischen Zeremonien und Gesten, die Feinde der Kirche haben ihr Ziel weitgehend erreicht, denn die Katholiken haben sich aus der geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der atheistischen (Natur-)Wissenschaft verabschiedet. In der Folge des Galilei-Traumas haben sich auch die katholischen Forscher angewöhnt, autonom, d.h. gottlos zu forschen, wobei sie sich im Ernst einbildeten und einbilden, das sei die einzige Art und Weise, richtig und vorurteilslos (Natur-)Wissenschaft zu betreiben. Die Theologen haben sich ihrerseits auf ein Beschwichtigungsritual eingeschworen, das sich folgendermaßen anhört: Solange jeder in seinem Fachgebiet bleibt und keine grenzüberschreitenden Aussagen tätigt, gibt es auch keine Wissenskonflikte, denn der Naturwissenschaftler weiß nur über Naturwissenschaft Bescheid, wohingegen der Theologe nur im Bereich der Theologie richtige Aussagen machen kann.

Oberflächlich betrachtet hört sich das vielleicht ganz nett an, tiefer betrachtet ist es höchstens eine Halbwahrheit und erinnert doch sehr an die im 13. Jahrhundert diskutierte und verurteilte Lehre von der doppelten Wahrheit. Hat denn nun wirklich, hat denn tatsächlich die Naturwissenschaft und die Theologie jeweils ihre eigenen Wissensgebiete und ihre eigene Wahrheit, so daß es keinerlei Überschneidungen gibt und keine Wissenskonflikte geben kann? Gibt es nicht völlig legitime „Grenzüberschreitungen“, weil nämlich die Grenze gar nicht eindeutig zu ziehen, sondern z.T. wenigstens fließend ist? Wir werden später darauf nochmals zurückkommen.

Doch wenden wir uns kurz der doppelten Wahrheit zu. Im 13. Jahrhundert wurde auf der Universität in Paris heftig darüber diskutiert, wie man in der rechten Weise Theologie und Philosophie studieren sollte – also Glaubenswissenschaft und Vernunftwissenschaft, wie man es nennen könnte. Da waren nun solche, die „sagen, dies sei philosophisch gesehen wahr, nicht aber im katholischen Glauben, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe“. In Folge dieser Auseinandersetzung gab der Pariser Bischof Stephan Tempier am 7. März 1277 eine Liste mit 219 verurteilten Sätzen der mit dem katholischen Glauben nicht zu vereinbarenden Aristotelesinterpretationen heraus. In der Festausgabe für Ludwig Hödl „Welt-Wissen und Gottes-Glaube in der Geschichte und Gegenwart“ erklärt der Autor: „Der Syllabus von 1277 geht im Prolog von einer umfassenden und unaufgebbaren Einheit philosophisch-theologischen Denkens aus, wenn er feststellt, daß da einige so reden, als wäre das, was in der philosophischen Lehre wahr sei, theologisch falsch. Ferner geht der Syllabus von einem Zusammenhang der philosophischen und theologischen Argumentation aus, der bei aller Unterschiedlichkeit der Beweisgänge, Überlegungen und Aussagen um der einen und unteilbaren Wahrheit willen gewahrt werden muß“ (Ludwig Hödl, Welt-Wissen und Gottes-Glaube in der Geschichte und Gegenwart, EOS Verlag, Erzabtei St. Ottilien 1990, S. 46). Es ist leicht einsehbar: Der eine Gott und Schöpfer aller Dinge, die eine Wahrheit, durch welche man sowohl den Schöpfer als auch die Schöpfung richtig versteht und deutet, fordern eine Zusammenarbeit aller Wissenschaften. Nur wenn dieser Zusammenhang gesehen und gewollt wird, ist es auch möglich, „bei aller Unterschiedlichkeit der Beweisgänge, Überlegungen und Aussagen um der einen und unteilbaren Wahrheit willen“ eines Sinnes zu sein und zu bleiben.

Kommen wir nun zurück zu Galilei und seinem Fall. Wir dürfen nicht vergessen, Galilei war damals ein Starwissenschaftler. Als er am 29. März 1611 in Rom eintraf, war die ganze Gesellschaft begierig, den berühmten Erforscher des Sternenhimmels zu sehen und zu hören. „Eine nicht endenwollende Reihe von Einladungen, Empfängen, Gesprächen hub an, in deren Verlauf Galilei mit den Spitzen der römischen Gesellschaft zusammenkam. Und immer wieder versammelte man sich um das Fernrohr, suchte, fand, bewunderte Jupitermonde und Sonnenflecken und Milchstraße, so etwa in den Gärten des Quirinalspalastes, wohin Kardinal Bandini eine illustre Schar weltlicher und geistlicher Gäste eingeladen hatte. Den Höhepunkt bildete indes eine Audienz bei Paul V., der, obzwar er wegen seiner von der Entwicklung des Gnadenstreits verursachten theologischen Sorgen derzeit wenig Interesse für das gestirnte Firmament zeigte, dennoch aber den Gelehrten aus Florenz mit Zeichen außerordentlicher Hochschätzung ehrte. Entgegen allem Protokoll ließ er es nicht zu, daß Galilei gebeugten Knies mit ihm sprach“, so Walter Brandmüller in seinem Buch „Galilei und die Kirche“.

„Von noch größerer Bedeutung war indes, daß das Collegio Romano am 13. Mai zu Ehren Galileis eine wissenschaftliche Akademie abhielt, in deren Verlauf P. van Maelcote vor vielen und hohen Gästen eine Laudatio auf Galilei hielt, den er ihn als ‚hochberühmten und meistbeglückten Sternenforscher‘ feierte. Er bestätigte seine Entdeckungen, um dann der neuesten Ergebnisse - Sichelgestalt der Venus und Saturn - zu gedenken. Er las den Brief Galileis an Clavius über die ovale Form des Saturn wörtlich vor und damit auch Galileis Behauptung, daß die Entdeckung der Venusphasen das heliozentrische System als das einzig richtige beweise. Dabei bemerkte der Redner, er begnüge sich damit, die Tatsachen vorzutragen, daraus die Folgerungen zu ziehen, sei Sache seiner Zuhörer. Der Triumph Galileis war vollständig, so vollständig, daß Kardinal Del Monte am 31. Mai 1611 dem Großherzog von Toscana schrieb: ‚... lebten wir noch in den Zeiten der alten römischen Republik, ich glaube sicher, man hätte ihm zur Anerkennung seiner Leistung eine Statue auf dem Kapitol errichtet‘“ (Walter Brandmüller, Galilei und die Kirche, MM Verlag, Aachen 1994, S. 58f).

Galilei genoß es nicht nur, im Rampenlicht zu stehen, er war zudem recht eingebildet auf seine Pionierleistungen in der Wissenschaft. Hinzu kam noch, er liebte die Polemik, d.h., er liebte es, seine Gegner zu verspotten, was ihm natürlich nicht nur Freunde machte.

Obwohl die Arbeiten Galileis zum sog. heliozentrischen Weltbild damals solches Aufsehen erregten, waren seine Ansichten dennoch nicht neu. Daß nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt unseres Planetensystems stand, wurde vielmehr lebhaft diskutiert. Doch wurde diese Ansicht von den Gelehrten immer nur als Hypothese, also als eine bloße Denkmöglichkeit vertreten, weil nämlich die letztgültigen Beweise noch fehlten. Niemand gibt eine allgemein verbreitete, über Jahrhunderte geltende und der Alltagserfahrung entsprechende Ansicht ohne sichere Gegenbeweise auf. Als etwa die Jesuitenastronomen der römischen Universität mit Galilei aufgrund der Phasen des Venus erkannten, daß wenigstens ein Planet um die Sonne kreiste, womit das ptolemäische Weltbild in Frage stand, waren sie bezeichnenderweise in ihren Schlußfolgerungen viel vorsichtiger als dieser: „man wandte sich erst einmal Tycho Brahe zu und nahm hinsichtlich des Kopernikus eine vermittelnde Stellung ein. Galilei selbst machte hingegen aus seiner kopernikanischen Überzeugung kein Hehl. Wenngleich er auch in keiner seiner Schriften dieser Jahre sich ausdrücklich dazu bekannte, so ließ er doch keine Gelegenheit verstreichen, im Gespräch für Kopernikus zu werben. Dabei gab er sich wohl kaum Rechenschaft darüber, daß er sich zu der allgemein herrschenden Überzeugung vom Feststehen der Erde in Widerspruch begab und jeden, der diese auch wissenschaftlich verteidigte, provozierte“ (Walter Brandmüller, Galilei und die Kirche, MM Verlag, Aachen 1994, S. 59).

Was das Verständnis der damaligen Auseinandersetzung für uns moderne Menschen erschwert, ist, daß wir den innigen Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und Glauben nicht mehr verstehen. Wir haben uns schon so sehr daran gewöhnt, daß beide Bereiche nichts miteinander zu tun haben sollen, daß uns die Einmischung der Kirche in solche Fragen befremdet. Den damals lebenden Menschen war es noch selbstverständlich, daß eine neue wissenschaftliche Erkenntnis niemals mit dem göttlichen Glauben in Widerspruch stehen kann. Von daher läßt sich auch leicht begreifen, daß die Frage des Weltbildes nicht beliebig beantwortbar ist, denn diese Frage hat doch auf jeden Fall unmittelbar mit dem Glauben zu tun – nämlich mit dem Schöpfungsglauben!

In dem Buch von Pietro Redondi „Galilei der Ketzer“ wird zu zeigen versucht, die ursprüngliche Anklage gegen Galilei habe nicht dem heliozentrischen Weltbild gegolten, sondern diese richtete sich gegen seinen Atomismus. Mit Atomismus meint man eine Welterklärung allein und ausschließlich aus den Atomen, also aus der Materie. Auch wenn Galilei die Bedeutung und die geistesgeschichtlich weitreichenden Folgen dieser Lehre wohl kaum überschaut hat, so kann man doch rückblickend sagen, daß dieses Urteil das Entscheidende der damaligen Auseinandersetzung trifft. Es geht zunächst nicht um die Frage, ob sich die Erde um die Sonne dreht oder umgekehrt, es geht um das rechte philosophische Weltverständnis, es geht darum, ob zuerst der Geist oder die Materie ist, wobei hier „zuerst“ nicht zeitlich gemeint ist, sondern philosophisch, womit nach dem letzten Grund des Seins gefragt wird.

Die Anklage soll von den Jesuiten eingereicht worden sein, denen man durchaus einen solchen Weitblick zutrauen kann, auch wenn der Autor ihnen eher persönliche Gründe unterschieben möchte. Die von Galilei aufgeworfenen philosophischen Fragen waren damals überaus aktuell, weil die aufgrund des Protestantismus notwendige Verteidigung des Wunders der hl. Wandlung während des hl. Meßopfers sich auf Begriffe der aristotelischen Philosophie stützte. Bei der Beschreibung dieses Wunders sprach man und spricht man auch heute noch von „Wesensverwandlung“ – Transsubstantiation. Die Substanz von Brot und Wein wird in das Fleisch und Blut Christi verwandelt, wohingegen die Gestalten, die Akzidenzien bestehen bleiben. Nun leugnet der Atomismus aber die Substanz, denn wenn alle Dinge nur aus Atomen zusammengesetzt sind, dann ist die Substanz nur ein bloßes Gedankending und keine Wirklichkeit mehr. Wenn es aber gar keine Substanz gibt, was geschieht dann bei der hl. Wandlung? Hinzu kommt noch, daß auch die Gestalt, die sinnlich wahrnehmbare Seite des konkreten Dinges anders zu interpretieren ist, wenn es keine Substanzen gibt.

Die Gegner Galileis haben einen seiner Texte angeführt, der diese Ansichten ganz klar dokumentiert: „Daher sage ich, daß ich wohl die Notwendigkeit fühle, kaum daß ich eine Materie oder eine körperliche Substanz konzipiere, sie mir so vorzustellen, daß sie diese oder jene Gestalt besitzt, daß sie im Verhältnis zu anderen groß oder klein ist, daß sie sich an einem bestimmten Ort befindet, zu dieser oder jener Zeit, daß sie sich bewegt oder ruhig steht, daß sie einen anderen Körper berührt oder nicht, daß sie eines, wenige oder viele ist, und unter gar keinen Umständen kann ich mir vorstellen, sie aus diesen Bedingungen herauszulösen; ob sie aber weiß oder rot, bitter oder süß, tönend oder stumm, von angenehmem oder unangenehmem Geruch sei, das verleitet mich doch nicht dazu, anzunehmen, sie sei zwangsläufig von diesen Bedingungen begleitet: Nein, hätten die Sinne das nicht wahrgenommen, dann wäre die Rede oder die Vorstellung vielleicht niemals darauf gekommen. Daher denke ich, daß dieser Geschmack, diese Gerüche, diese Farben usw., soweit es den Gegenstand betrifft, dem sie scheinbar innewohnen, nichts weiter sind als reine Namen, während sie ihren eigentlichen Sitz im wahrnehmenden Körper haben; nimmt man nämlich das wahrnehmende Lebewesen fort, dann verschwinden auch all diese Qualitäten“ (aus: Piedro Redondi, Galilei – der Ketzer, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1989, S. 346).

Es kann hier nur angedeutet werden, welche erkenntnistheoretischen Folgen das Gesagte hat. Achtet man allein auf die Ausdrucksweise Galileis – „Daher sage ich, daß ich wohl die Notwendigkeit fühle, kaum daß ich eine Materie oder eine körperliche Substanz konzipiere, sie mir so vorzustellen, daß sie diese oder jene Gestalt besitzt...“ – so wird man hellhörig, nimmt man dazu noch seine Ansicht, die spezifischen Leistungen der Sinneserkenntnisse seien nur subjektive Eindrücke, subjektive Vorstellungen und deren Unterscheidungsleistungen seien „soweit es den Gegenstand betrifft, dem sie scheinbar innewohnen, nichts weiter … als reine Namen“, dann wird das nominalistische Fundament, auf dem diese Aussagen stehen, klar und außerdem ist der Weg zur Philosophie Kants frei.

Ein Text aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ soll das zeigen: „Die Möglichkeit der Gegenstände der Sinne ist ein Verhältnis derselben zu unserm Denken, worin etwas (nämlich die empirische Form) a priori gedacht werden kann, dasjenige aber, was die Materie ausmacht, die Realität in der Erscheinung (was der Empfindung entspricht), gegeben sein muß, ohne welche es auch gar nicht gedacht und mithin seine Möglichkeit nicht vorgestellt werden könnte. Nun kann ein Gegenstand der Sinne nur durchgängig bestimmt werden, wenn er mit allen Prädikaten der Erscheinung verglichen und durch dieselbe bejahend oder verneinend vorgestellt wird. Weil aber darin dasjenige, was das Ding selbst (in der Erscheinung) ausmacht, nämlich das Reale, gegeben sein muß (...), dasjenige aber, worin das Reale aller Erscheinungen gegeben ist, die einige allbefassende Erfahrung ist: so muß die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände, als in einem Inbegriff gegeben, vorausgesetzt werden, auf dessen Einschränkung allein alle Möglichkeit empirischer Gegenstände, ihr Unterschied voneinander und ihre durchgängige Bestimmung, beruhen kann. Nun können uns in der Tat keine andere Gegenstände als die der Sinne, und nirgend als in dem Kontext einer möglichen Erfahrung gegeben werden, folglich ist nichts für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt“ (Kant, KrV B 609f. [Sperrung, hier nicht-kursiv, von Kant, Fettdruck von uns]; aus: Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart · Weimar 2003, S. 177).

Was bei Galilei erst angedeutet wird, ist bei Kant inzwischen ausgefaltet. In der Philosophie Kants ist die metaphysische Grundlage bei der Wirklichkeitserklärung weggebrochen. Die Materie ist zur Möglichkeit aller Gegenstände geworden, die als Inbegriff der Dinge vorausgesetzt werden muß. D.h. allein aus der Materie läßt sich die ganze Welt erklären, über die Materie hinaus gibt es keine Erklärungsmöglichkeit und -notwendigkeit mehr. Kant wird daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß die ganze Welt aus einem Urnebel entstanden sein muß. In der Online-Enzyklika Wikipedia ist dazu angemerkt: „Die Hypothese solch eines Urnebels wurde erstmals 1734 von Emanuel Swedenborg aufgestellt sowie im Jahr 1755 von Immanuel Kant in seinem Werk Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels vorgestellt. Kant nahm an, dass sich in diesem Nebel durch die Wechselwirkung seiner Teilchen mit der Zeit ein anfangs schon etwas vorherrschender Umlaufsinn durchgesetzt hat und der Urnebel daher immer ausgeprägter und abgeflachter rotierte. Im Jahr 1796 stellte Pierre-Simon Laplace unabhängig davon ein relativ ähnliches Modell vor. Es erschien im letzten Band seines fünfbändigen Werkes Exposition du systeme du monde (Darstellung des Weltsystems) und ist heute unter der Bezeichnung Nebularhypothese bekannt. Laplace ging jedoch von einer bereits vorhandenen Sonne aus, deren erhitzte Atmosphäre aus analogen Gründen linsenförmige Gestalt annahm. Im Zuge der Abkühlung und entsprechenden Verdichtung der Gashülle überwog in ihrem äußersten Bereich mit der Zeit die Zentrifugalkraft und es lösten sich nacheinander mehrere Gasringe ab, die sich des Weiteren zu den Planeten verdichtet haben. Die Kosmogonie von Kant und die Nebularhypothese von Laplace werden oft vereinfacht zusammenfassend als Kant-Laplace-Theorie bezeichnet.“

Es zeigt sich also mit aller Klarheit, eine Frage der Kosmologie, also der richtigen Welterklärung, kann niemals nur ausschließlich eine Frage der Physik sein, sie ist immer auch eine Frage der Philosophie – und für den Katholiken zudem der Theologie! Das sahen die damaligen Gegner Galileis viel besser als seine späteren Verteidiger. Pietro Redondi erwähnt in seinem Buch eine Schrift, verfaßt unter dem Pseudonym Lotario Sarsi, in der dieser Sachverhalt thematisiert wird. „Sarsi wird dann lauter, wenn es um Naturphilosophie und um Fragen nach der physikalischen Natur der Kometen geht; das entspricht dem Abschnitt des Saggiatore, in dem die Philosophie von Cardano und Telesio verteidigt wird. Entschieden hatte Galilei das Ansehen dieser beiden ‚verehrungswürdigen Väter der Naturphilosophie‘ in Schutz genommen und Sarsis theologisches Mißtrauen gegen ihre Ideen als ‚abartiges Denken‘, Heuchelei und Unmoralität abgetan. Er hatte also atheistische, materialistische und von der Kirche offiziell verurteilte Autoren ‚verehrungswürdig‘ genannt, und nun antwortete Sarsi demjenigen, der ihm Lehren in christlicher Moral erteilen wollte, ‚sehr viel freier als das erste Mal‘: Was wäre das für eine Frömmigkeit, Galileo, diejenigen zu verteidigen, deren Philosophie von vielen Seiten verurteilt wurde als wenig übereinstimmend mit der katholischen Lehre und eher unter ewigem Schweigen begraben werden sollte. Menschliche und teuflische Lehren über die Macht des weltlichen Wissens - um es mit Tertullian zu sagen - für begierige Ohren, das hat Gott Wahnsinn genannt und auserwählt als weltlichen Irrsinn, um eben die Philosophie selbst durcheinanderzuschütteln: nämlich Argumente eines weltlichen Wissens, das die Gottesfurcht, die Natur und die göttliche Vorsehung interpretiert. Wer Cardano und Telesio loben will, der soll das tun. Ich ziehe eine religiösere Art des Lobes vor“ (Ebd. S. 197).

Eigentlich müßte man heute – 400 Jahre nach Galilei – zu der Einsicht kommen, daß die Einwände dieser Zeitgenossen gar nicht so verfehlt waren, sondern im Grunde des Pudels Kern trafen. Leider gelingt gerade das dem Autor des Buches nicht, d.h. er erkennt nicht die Brisanz und Aktualität des Themas, wie wir noch zeigen werden. Aber immerhin weist er auf diese, die Gemüter damals bewegenden Fragen hin und zeigt, daß die Anklage wegen des heliozentrischen Weltbildes ein Stellvertretungsprozeß gewesen ist, weil die Verflechtung des angeschnittenen Themas von Substanz und Akzidenzien mit der Eucharistielehre so eng war, daß man sie nicht einfach übersehen und übergehen konnte. Walter Brandmüller nennt zwar in seinem Buch „Galilei und die Kirche“ die These Redondis eine abenteuerliche Annahme, wobei seine Einwände jedoch recht dünn und nicht überzeugend sind. Er scheint übersehen zu haben, daß sich Redondi in seiner Argumentation durchaus nicht allein auf das von Brandmüller erwähnte Schriftstück aus dem Hl. Offizium stützt, sondern zudem eine Reihe anderer Dokumente beibringen kann, die seine Annahme untermauern. Für unsere Darlegungen ist der Anklagepunkt beim Prozeß Galileis sowieso nebensächlich, denn von der Sache her gesehen hat Redondi auf jeden Fall Recht. Die Frage des heliozentrischen Weltbildes ist gegenüber der Frage nach einer atomistischen Philosophie oder gar eines Irrtums in der Lehre über das allerheiligste Altarsakrament völlig zweitrangig und darüber hinaus von einer ganz anderen Qualität.

Hören wir hierzu nochmals die Ausführungen Redondis:

„Sarsi wendet gegen jene dunklen Ausflüchten und Rechtfertigungen ein, wenn man schon die Frage der Erdbewegung nicht frei interpretieren dürfe – ein im Grunde für den Glauben zweitrangiges Problem – , dann sei die Möglichkeit einer heterodoxen Interpretation des eucharistischen Dogmas noch viel weniger gestattet, denn hier handelt es sich um eine ungleich wichtigere Glaubensfrage als bei der Bewegung der Erde. Pater Grassi hatte vollkommen recht, auf diesem Punkt zu insistieren: das eucharistische Dogma bildete die Grundlage und das wesentliche Postulat des katholischen Glaubens.
Niemand konnte diesen Unterschied besser ermessen als derjenige, der Gelegenheit gehabt hatte, die Vorstellungen Bellarmins kennenzulernen.
Man konnte Katholik und Anhänger des Kopernikus sein, aber man war kein Katholik, wenn man nicht das eucharistische Dogma anerkannte.
Im Anschluß daran werden eine Reihe von Fragen logischer und physikalischer Art aufgeworfen. Sie beziehen sich auf die Unrichtigkeit der atomistischen Konzeption der Wärme und auf Galileis Anspruch, eine neue Auslegung für den Satz des Aristoteles zu liefern, daß die Bewegung die Ursache der Wärme sei.
Sarsi entlarvt die Behauptung im Ansatz, der Saggiatore habe nur in bezug auf die Wärme von Atomismus gesprochen. Die zweideutige und vorsichtige Terminologie des Saggiatore darf uns nicht täuschen, sagt Sarsi, denn der Atomismus des Demokrit, zu dem sich Galilei hier bekennt, gilt für alle Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung und nicht nur für die Wärme. Gestehen wir zu, daß die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten durch die Form der Atome der verschiedenen natürlichen Elemente erzeugt werden, dann, so kommentiert Sarsi, wird es undenkbar, daß eine Substanz auch nach gründlicher Zerkleinerung gleichbleibend geformte Atome behält und die ihr eigenen Charakteristika in Geschmack, Geruch und Farbe beibehält“ (Ebd. S. 199f).

In Rom gab es also durchaus Fachleute, denen die Theorien Galileis Kopfzerbrechen bereiteten, weil ihre Folgen in der Philosophie und Theologie gar nicht so harmlos waren wie es zunächst den Anschein haben mochte. Mit der Übernahme eines philosophischen Atomismus wird die ganze Welterklärung grundlegend verändert – wie wir übrigens heute leicht und auf allen Wissensgebieten feststellen können, was auch im zweiten Teil dieser Arbeit noch eigens gezeigt werden wird, wenn wir über Stephen Hawking sprechen werden. Leider wurde und wird diese Tatsache nur von den wenigsten wahrgenommen. Der Grund dafür dürfte wohl sein, daß dem modernen Menschen die Fähigkeit, Philosophie noch ernst zu nehmen, verloren gegangen ist. Für den modernen Menschen sind philosophische Gedanken bloße Gedankenspielereien, deren wirklichkeitserklärenden Anspruch man völlig übersieht. Der Wahrheitsgehalt eines solchen, immerhin welterklärenden Gedankensystems interessiert letztlich niemanden mehr, weil schon lange inmitten des überall herrschenden Relativismus fast niemand mehr an die Wahrheit glaubt.

Was geschieht aber nun wirklich, wenn man das „alte“ Weltbild über Bord wirft und meint, die ganze Welt allein aus den Atomen, d.h. aus der Materie erklären zu können? Die weitreichende Folge dieses Systemwechsels versteht man bezeichnenderweise nur mit Hilfe der „alten“ Philosophie. Die wahre, von der Kirche über Jahrhunderte gepflegte Philosophie erklärt, daß die Materie für sich und aus sich allein nicht bestimmt ist. Sie ist und bleibt in sich betrachtet immer beliebig, veränderungsfähig, endlos kombinierbar. Sobald man deswegen meint, man könne bei der Erklärung der Welt sich allein auf die Materie stützen, behauptet man, es könne aus völlig Unbestimmten einfachhin Bestimmtes werden – ohne daß zum Unbestimmten eine konkrete Bestimmung hinzukommen müsse. Sind also die konkreten Dinge allein aus der Materie erklärbar, so sind sie immer nur ausschließlich Zufallsprodukte der Materie. Ihre „Bestimmtheit“ ist nämlich allein aufgrund der rein natürlichen Wechselwirkungen der in sich völlig unbestimmten Materie entstanden. D.h. aber: Das konkrete Ding hat in Wirklichkeit gar keine Bestimmtheit, diese hat nämlich kein eigenes, kein konkret existierendes Sein, so daß wir sagen müssen, wir ordnen allein durch unser Denken den Dingen eine Bestimmtheit, nämlich ihr Eigensein zu.

In der Philosophie spricht man vom Wesen eines Dinges. In Wirklichkeit sind diese Wesen nach diesem Denksystem nur Namen, die wir Menschen aufgrund unseres Denkens den Dingen geben. Anders ausgedrückt: In dieser allein aus Atomen gewordenen Welt gibt es keinen Plan, kein Ziel, keinen Sinn, weil es nämlich in dieser allein aus der Materie konstruierten Welt gar keinen Geist mehr als Wirklichkeit gibt, einen Geist, der in dieser Welt sein könnte und auch müßte. Wir wissen noch, so ist zu hoffen, Plan und Ziel und Sinn sind geistige Wirklichkeiten. Woher aber sollten diese mit einem Mal kommen, wenn die Welt allein aus der Materie, aus Zufall und Notwendigkeit, aber ohne Plan und Ziel und Sinn geworden sein soll und alles, die gesamte Wirklichkeit, aus ihr allein erklärt werden kann? Wenn es so wäre, wie die Atomisten sagen und denken, dann wäre das, was wir „Geist“ nennen, immer nur ein bloßes Gedankending, ein bloßes Hirngespinst? Einem gläubigen Christen, so meint man, sollte doch sofort klar werden, daß mit einer derartigen Welterklärung der Schöpfer aus seiner Schöpfung eliminiert, ausgeschlossen wird. Eine atomistische Welterklärung ist notwendigerweise eine atheistische Welterklärung, eine Welterklärung ohne Gott, weil ohne Geist.

Während die Jesuiten noch diesen Zusammenhang erkannten, ging es Galilei zunächst nur um sein Ansehen. Dabei war Galilei offensichtlich ein unruhiger, ziemlich eingebildeter, leicht reizbarer und zudem gerne spottender Zeitgenosse. In ein Buch seines Gegners, des Jesuiten Grassi, machte Galilei eine Reihe von Randnotizen, wie etwa: „Du Stück Esel, Büffel, gemeiner Faulenzer, Dummkopf, elender Fälscher, gemeiner Kerl, Lügner, dummes Vieh, vernagelter Kopf, etc.“ Daraus ersieht man leicht die Art der Wertschätzung, die Galilei seinen Gegnern angedeihen ließ. Wenn es um seine eigenen Ideen ging, hatte Galilei offensichtlich keinen Rückwärtsgang.

Obwohl nun schon sein Buch „Saggiatore“ für einige Unruhe gesorgt hatte und ein Manuskript zum selben Thema, das er seinen Freunden in Rom zusandte, von diesen nicht veröffentlicht worden war, da Galilei damit gegen das Indexdekret von 1616 verstoßen hätte, drängte dieser weiter darauf, Kopernikus zum Durchbruch zu verhelfen. Er beschäftigte sich mit einem neuen Werk, das die Weltsysteme behandeln sollte, sein „Dialogo“. In diesem Zwiegespräch ließ Galilei in vier Tages-Gesprächsrunden fiktive Personen auftreten, die er seine oder die Argumente seiner Gegner vortragen ließ. Zwei der fiktiven Personen tragen Namen inzwischen verstorbener Freunde aus der Zeit seines Aufenthalts in Padua, Salviati und Sagredo. Ersterer war ein jung verstorbener, äußerst begabter Schüler Galileis, diesem legt er seine eigene Meinung in den Mund. Sagredo übernimmt die Aufgabe des intelligenten Fragers, der durch seine klugen und verständnisvollen Einwände den Dialog vorantreibt. Die generischen Argumente übernimmt der beschränkte Simplicio. Sein Name ist bewußt doppeldeutig gewählt, denn einerseits hieß ein berühmter Kommentator des Aristoteles so, anderseits klingt darin an, daß dieser Mann offensichtlich ein „Simpel“ ist, wie es ja auch in unserer Sprache heißt. Dabei war Galilei so unklug, von diesem Simpel ein Argument vortragen zu lassen, das Papst Urban VIII. gerne benützte – worüber sich Galilei nunmehr öffentlich lustig machte!

Für uns ist wiederum nur das in dem Buch interessant, was unser Thema betrifft. Folgen wir hierzu wiederum Pietro Redondi: „Auch im Dialog griff er zunächst die aristotelische Philosophie und das von ihr angenommene Prinzip einer Trennung von Substanz und Akzidentien an. Galilei war sich sehr wohl bewußt, daß er auf diese Weise Schwierigkeiten haben würde, der drohenden ‘eucharistischen Prüfung’ zu entgehen – die ja über ihm schwebte wie ein Damoklesschwert, seit Pater Grassi die häretischen Konsequenzen der neuen Philosophie im Saggiatore angezeigt hatte. Aber Galilei hatte in dieser heiklen Frage Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und, wie wir bereits wissen, die Autorisierung zu diesem Thema von Pater Riccardi erbeten; von ihm hatte er eine beruhigende Auskunft und die Zusicherung auf Unterstützung erhalten. Ein mündliches Versprechen, mehr nicht: Soweit bekannt, hat Pater Riccardi nichts zu Papier gebracht. Galilei wagte es. Er wagte es unter Einhaltung der Vorsichtsmaßregel, sich nur ‘in den Begriffen der Naturwissenschaft’ zu bewegen, ohne je das Wort Eucharistie auszusprechen. In dieser Hinsicht, und auch das ist uns bekannt, war Pater Riccardi ganz formell gewesen. So entwickelte auch der Dialog atomistische Ideen ausschließlich in der Naturphilosophie und sicherte sich zudem durch den ausdrücklichen Hinweis ab, es handle sich nicht um eucharistische Theologie“ (Ebd. S. 237).

Die Geister waren erhitzt, und die Auseinandersetzung um das wahre Weltbild war außerdem eng mit Glaubensfragen verbunden, weil in der Eucharistielehre jene Begriffe verwendet wurden, die Galilei angreifen wollte. Unter diesen erschwerenden Umständen bildete sich Galilei dennoch ein, er könne sich allein dadurch aus der Affäre ziehen, daß er betonte, er würde sich nur „in den Begriffen der Naturwissenschaft“ bewegen, was in der Tat unmöglich war, wie Redondi anmerkt: „Gleich zu Beginn des Dialogs, am leidenschaftlich erregten ersten Tag, an dem die Homogenität von Himmel und Erde verteidigt wird, kritisierte Galilei die aristotelische Vorstellung von der Erzeugung der Substanz. Es war keine Kleinigkeit, ‚Über Entstehen und Vergehen‘ von Aristoteles anzugreifen: Es hieß, die gesamte aristotelische Kultur in Frage zu stellen, und Galilei tat das mit großem Nachdruck, indem er dem Simplicio den entscheidenden Ausspruch in den Mund legte: ‘Diese philosophische Methode führt zur Untergrabung aller Naturphilosophie, zur Verwirrung und Erschütterung von Himmel, Erde und Weltall. Ich glaube’, so schließt wenigstens Simplicio, ‘die Zuverlässigkeit der Grundlagen der peripatetischen (d.h. einer auf der Lehre des Aristoteles beruhenden) Philosophie läßt die Besorgnis nicht aufkommen, daß nach deren Sturz ein neuer Aufbau der Wissenschaft möglich sei’“ (Ebd.).

Nüchtern gesehen war dies damals ein äußerst gewagter, wenn nicht sogar wahnsinniger Vorstoß. Wer meint, einfach die philosophischen Grundlagen einer ganzen Kultur in Frage stellen zu können, ohne sich dadurch selbst in Frage zu stellen, der hat letztlich schon erhebliche Wahrnehmungsstörungen. Galilei unterschätzte wohl aufgrund seiner Arroganz vollkommen die dazu notwendige, herculanisch zu nennende geistige Arbeit. Um einen völlig neuen Aufbau der Wissenschaft zu schaffen, welcher der Wahrheit entspricht und nicht in irgendwelche Illusionen abgleitet, braucht es schon mehr als einen Galilei. Und wenn man ehrlich ist, ist dies selbst bis heute nicht gelungen! Wie sollte man auch auf der Grundlage eines atheistischen Materialismus die Welt erklären können, welche der Dreifaltige Gott als Bild Seines geheimnisvollen göttlichen Wesens aus nichts erschaffen hat?

Auch Redondi gibt zu bedenken: „Wir wissen in der Tat, daß diese Fundamente auf festem Grund standen, daß sie eingebettet waren in Gewißheiten, die unzerstörbarer waren als die Gewißheiten der Naturwissenschaft. Das kümmerte Galilei nicht. Man meinte, den Saggiatore zu lesen: die philosophische Beweisführung entnimmt man den Büchern mit mathematischen Beweisen, nicht den Büchern über aristotelische Logik. Aristoteles war ein ‘ein großer Logiker, ohne genügende Fertigkeit in der Anwendung der Logik zu besitzen’. Und von der Kritik an Aristoteles‘ Idee von der Unzerstörbarkeit des Himmels ging Galilei zur Kritik am Allerheiligsten des Aristotelismus über – an der Theorie des Lebens auf der Erde aufgrund des Entstehens und Vergehens durch gegensätzliche Elemente: ‘Überdies habe ich niemals – ich spreche nur von Dingen, die innerhalb des Bereichs der Natur liegen – eine Umwandlung von Substanzen ineinander begreifen können, vermöge welcher ein Stoff derartig verwandelt wird, daß er notwendig als völlig vernichtet zu gelten habe, ohne irgendeine Spur seines früheren Wesens zu hinterlassen, und daß ein völlig verschiedener Körper aus ihm hervorgegangen sein sollte’. Nachdem Galilei, der offensichtlich glaubte, daß aus ‘nichts nichts entstehen kann’, die aristotelischen Vorstellungen vom substantiellen Vergehen als Zerstörung und Vernichtung kritisiert hatte, ließ er wiederum Salviati ausführen, es sei nicht unmöglich, daß die natürliche Veränderung ‘durch die bloße Veränderung in der Anordnung der Teile geschieht, ohne daß etwas vernichtet oder etwas Neues erzeugt würde; solche Verwandlungen sind ja etwas ganz Alltägliches’“ (Ebd. S. 237f).

Der große Galilei weiß offensichtlich nicht genau, was er sagt. Er spricht über die Umwandlung von Substanzen und meint mit der Bemerkung – „ich spreche nur von Dingen, die innerhalb des Bereichs der Natur liegen“ – sich aus der Verantwortung ziehen zu können, so als gehörte die Substanz des Brotes, welche in der hl. Messe in den Leib Christi verwandelt wird, nicht auch zunächst und zuerst zu denjenigen Dingen, die innerhalb des Bereichs der Natur liegen. Die Wahrheit aber ist, wer den Substanzbegriff auflöst, der löst letztlich die Wirklichkeit als Schöpfung auf. Leider ist es gerade diese Einsicht, die bis heute nur von wenigen gewonnen wurde. Es ist doch ohne Zweifel so: Konkret existierende Dinge sind als Geschöpfe Wirklichkeiten, denen eine von Gott bei der Schöpfung gegebene Bestimmtheit zueigen ist – in der philosophischen Sprache „Form“ genannt – und denen nur infolge dieser Bestimmtheit auch ein Selbststand (also das Substanz-sein) zukommen kann. Bei gewöhnlichen Veränderungen der Dinge bleibt dieser Selbststand (Substanz) erhalten und gleich, es ändern sich nur die äußeren Erscheinungen (Akzidenzien).

Bei wesentlichen Änderungen dagegen ist das anders. Die Veränderung ist eine qualitative, es ändert sich nicht nur die äußere Erscheinung, sondern der Selbststand, die Substanz. Galilei denkt hier anders, er übernahm den Standpunkt des Nominalisten Ockham. Redondi führt aus: „Er verwarf die Möglichkeit eines natürlichen Vergehens durch Zerstörung (der Substanz) und brachte demgegenüber die Hypothese einer Bewegung von Materieteilchen auf. Genau wie Ockham sah auch Galilei ganz offenkundig die körperliche Substanz und die Quantität als identisch an: eine Quantität geformter Materie. Und wie Ockham negierte Galilei die Scholastik und zog sich auf einen Atomismus im Stile Demokrits zurück. Es war genau wie im Saggiatore: Auch der Dialog begann mit der philosophisch-mystischen Idee einer ‘Beschäftigung mit dem großen Buche der Natur [...], dem Erzeugnis eines allmächtigen Künstlers’“ (Ebd. S. 238).

Mit letzterer Aussage täuscht sich Galilei gewaltig, denn wie will Galilei noch einen allmächtigen Künstler ausmachen, wenn seine Welt allein aus Atomen besteht und aus diesen alles erklärt werden kann? Wie wir schon angedeutet haben, werden die nachfolgenden Generationen Galileis die entsprechenden, aus dem Atomismus notwendig folgenden Schlußfolgerungen ziehen und Gott nicht nur zum Zuschauer bei der Entstehung der Welt degradieren, wie es Galilei macht, um ihn schließlich ganz aus dem System auszuscheiden, in dem ER letztlich nur ein Störenfried war.

Redondi merkt noch an: „Aus Vorsicht, oder weil es seine theologischen Ratgeber empfohlen hatten, hatte Galilei im Dialog nicht von Atomen gesprochen. Aber er hatte es sich nicht nehmen lassen, die aristotelische Physik vom Gesichtspunkt der Bewegung von Materieteilchen aus anzugreifen, die ihm als Erklärungsprinzip für Transformationsvorgänge in der Natur galt. Die vorsorgliche Präzisierung, es sei von ‘natürlichen Begriffen’ und nicht von der Eucharistie die Rede, offenbart, daß Galilei sich des Risikos bewußt ist, das er eingeht, wenn er in materialistischen Termini die substantiellen Transmutationen, also die Transsubstantiation oder etwas Ähnliches, erklärt. Aber trotz aller dialektischen Finesse Galileis war das kein besonders guter Kniff. Auch die Akzidentien der Eucharistie vergehen, sie verändern sich gemäß ‘natürlichen Begriffen’. Die scholastische Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidentien diente dazu, eine rationale Begründung für die Aussöhnung zwischen Transsubstantiation und Naturphilosophie zu finden. Hätte man dagegen auf dem Standpunkt beharrt, die natürlichen Veränderungen seien durch Bewegungen von Materie verursacht, dann wäre diese Aussöhnung nichtig gewesen“ (Ebd. S. 239).

Auch Redondi sieht also ein, daß es doch nicht gleichgültig sein kann, wie man die Wirklichkeit erklärt, wenn diese rechte Wirklichkeitserklärung einem ständig anhand eines Wunders vor Augen geführt wird, weil die Eigenart dieses Wunders in den Begriffen jener Philosophie erklärt wird, die über Jahrhunderte von der Kirche anerkannt wurde und die doch auch die Sache der Wahrheit gemäß beschreiben müssen. Aber leider nimmt Redondi seine eigene Einsicht letztlich gar nicht ernst, wenn er abschließend meint, sagen zu können: „Dieses Risiko mußte Galilei eingehen, denn um eine neue, kontemplative Allianz zwischen Vernunft und Glauben herstellen zu können, mußte er notwendig dort ansetzen und den Knoten durchschlagen, der bisher die peripatetische Philosophie mit der Theologie verband“ (Ebd.). Wie soll bitteschön eine „kontemplative Allianz zwischen Vernunft und Glauben“ aussehen? Worin soll eine solche „kontemplative Allianz“ genau und auf den Punkt gebracht bestehen, die auf dem Zerschlagen der Einheit von „peripatetische(r) Philosophie mit der Theologie“ fußt? Was bleibt von der einen Wahrheit übrig, wenn man meint, man könnte diese Einheit zwischen peripatetischer Philosophie und der Theologie einfach wie einen Gordischen Knoten auseinanderhauen? Was übrig bleibt, ist nichts anderes als der Irrtum von den zwei Wahrheiten, wie wir ihn eingangs dargelegt haben.

Lassen wir lieber solch pseudomystische Spekulationen und kommen wir noch einmal zurück zu unserem zentralen Thema. Galilei hatte geschrieben: „Die Philosophie steht in dem gewaltigen Buch geschrieben, das immerzu vor unseren Augen aufgeschlagen daliegt (ich sage das Universum), aber man kann es nicht verstehen, wenn man nicht zuvor seine Sprache zu verstehen lernt und die Buchstaben erkennt, in denen es abgefaßt ist. Es ist geschrieben in der Sprache der Mathematik, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren“ (Ebd. S. 347).

Mit diesen Worten beschreibt Galilei die eigentliche Wende, die seine neuen Erklärungen der kosmischen Phänomene bewirkt haben. Es geht also im Grunde gar nicht zunächst und zuerst um die Frage, ob die Erde oder die Sonne im Mittelpunkt unseres Planetensystems steht, es geht um eine Welterklärung mit Hilfe mathematischer Be- und Verrechnung der Wirklichkeit. In seinem Buch „Die Moderne und Platon“ stellt Arbogast Schmitt dazu fest:

„Die praktische Effizienz dieser neuen Mathematik überdeckte für Jahrhunderte ihre Begründungsdefizite und ihre unausdrücklichen, aber höchst spekulativen Basisannahmen: Denn wenn alle Realitätsbereiche durch, ja, nur durch diese Mathematik wissenschaftlich zugänglich werden, dann ist mit dieser Überzeugung vorausgesetzt:
1., daß in der Berechnung rein quantitativer Verhältnisse die Realität tatsächlich erfaßt werden kann, und
2., daß die Welt mathematisch berechenbar ist, d.h., daß sie immanent mathematisch strukturiert und von dieser Strukturiertheit vollständig und durchgängig geprägt ist.
Diese Annahmen enthalten (wenn auch nicht intendiert) erheblich mehr Metaphysik als die platonische Ideenlehre. Denn Platon behauptet zwar, Begriffe wie Einheit, Identität, Gleichheit, Linie, Kreis, Fläche, Dreieck, Würfel seien nicht nur subjektive Denkprodukte, sondern hätten eine einsehbare Realität, er behauptet aber nicht (wie z.B. Galilei), diese konkrete empirische Welt sei wie eine Art Uhrwerk eine exakte Verkörperung dieser intelligiblen Realitäten, so daß man diese Körper gleichsam nur aufschneiden müsse, um ihren immanenten Regelmechanismus zu entdecken“ (Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart · Weimar 2003, S. 238f).

Diese Worte treffen nun wirklich des Pudels Kern: Die Annahmen Galileis „enthalten (wenn auch nicht intendiert) erheblich mehr Metaphysik als die platonische Ideenlehre“. Das ist die wichtigste Einsicht, wenn man sich mit den Werken Galileis beschäftigt. Das Verheerende dabei ist aber, daß diese Metaphysik nicht nur nicht beabsichtigt war, sondern daß die fehlende metaphysische Begründung überhaupt nicht mehr wahrgenommen wurde – „Die praktische Effizienz dieser neuen Mathematik überdeckte für Jahrhunderte ihre Begründungsdefizite“. Jahrhundertelang erklärt man die Welt, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, welchen Erklärungswert diese Erklärung im Grunde, gemessen an der Wirklichkeit, hat – denn das heißt Metaphysik. Letztlich ist das bis heute so, denn die Bemühungen, die Begründungsdefizite zu beseitigen, werden nur von wenigen gesehen, weshalb die neu bzw. wiedergewonnenen Erkenntnisse weiterhin von den meisten ignoriert werden!

Wir können hier nur andeuten, welche metaphysischen Defizite sich hinter der Aussage Galileis, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, verbergen.
Wenn diese Annahme stimmen würde, so würde daraus, wie wir schon gehört haben, folgen, „daß in der Berechnung rein quantitativer Verhältnisse die Realität tatsächlich erfaßt werden kann“, und daraus würde wiederum folgen, daß es in der Wirklichkeit nur, allein, ausschließlich quantitative Unterschiede gibt und keine qualitativen. Alle qualitativen Unterschiede wären immer nur ein Produkt unseres Denkens, hätten also keinerlei Grund in der Wirklichkeit. Das würde aber bedeuten, im Grunde besteht die ganze Welt aus ununterscheidbaren Materiehaufen, wohingegen die Zuordnung von Wesenheiten zu den einzelnen Dingen nur im Kopf des Menschen existieren – sie sind also bloße Erfindungen unseres Menschengeistes.

Aber nicht nur die Interpretation der Wirklichkeit, auch die Mathematik hat sich durch Galileis Annahme geändert. Arbogast Schmitt erklärt dazu: „Die ,neue‘ Mathematik, wie sie vor allem von Stevin, Vieta und Descartes entwickelt wird, entsteht bereits im Gefolge der erkenntnistheoretischen Einebnung des der Sache nach und des für uns Früheren. In einer mustergültigen Untersuchung hat Jakob Klein schon 1936 aufgewiesen, daß in der ,neuen‘ Mathematik der Begriff der Monas (als Erkenntnisprinzip der Zahl) in einen Zahlbegriff verwandelt wird, für den Zahl nichts als symbolische Repräsentation von Zählhandlungen ist. Zahl wird, in der auch von Stevin, Vieta und Descartes noch verwendeten scholastischen Terminologie aus einer ,intentio prima‘, einer inhaltlich bestimmten Erkenntnisbedingung, zu einem Produkt einer ,operatio intellectus‘, einer Denkhandlung. Im Begriff der Zahl wird ihre methodische Konstitution in symbolischer Weise vergegenständlicht. Es gehört zu den Konsequenzen dieses neuen symbolisch repräsentativen Zahlbegriffs, daß die Allgemeinheit der Mathematik nicht mehr in ihrer Kriterienfunktion für die Beurteilung von Bestimmtheit gesucht wird, sondern in ihrer allgemeinen Anwendbarkeit: mathesis universalis wird zu einem allgemeinen, d.h. auf möglichst alles anwendbaren, normalen Rechenkalkül“ (Ebd. S. 238).

Hinter dem denkerischen Ansatz Galileis steht eine Verwechslung. Aus lauter Begeisterung darüber, daß sich die Bewegungen im Weltall so gut berechnen lassen, hat er ganz aus den Augen verloren, was denn nun eigentlich dadurch geschieht, wenn er nicht nur die Bewegung der Kometen oder Planeten etwa berechnet, also ihre Bahnen mathematisch bestimmt, sondern zudem behauptet, dadurch würde die ganze Wirklichkeit rechnerisch erfaßt.

Wie sich also zeigen läßt, war die Durchtrennung des Gordischen Knotens, durch den die peripatetische Philosophie mit der Theologie verbunden war, die Tat eines zumindest halbblinden Gelehrten, der sich einbildete, besser sehen zu können als alle anderen. Wie Arbogast Schmitt betont, hatte Platon, einer der Meister der peripatetischen Philosophie, noch gewußt: „Das einsehbar Wirkliche ist im Bezug auf die empirische ,Realität‘ vielmehr etwas nur Mögliches, es sind Vorgaben für mögliche Prozesse, die mehr oder weniger von diesen Vorgaben bestimmt sein können. Es gibt nach platonischer Lehre keine konkreten Einheiten, die exakt und nur zwei sind, keine exakten Relationen oder Proportionen unter konkreten Einheiten, es gibt keine Punkte, Geraden, Ebenen, keine rechten Winkel, keine Dreiecke mit der Innenwinkelsumme von 180 Grad, keine platonischen Körper usw. Die euphorische Überbewertung der ,Wirklichkeit‘, als sei sie ganz und gar von Regel und Gesetz durchdrungen und daher - prinzipiell - ohne Rest mathematisch berechen- und rational erklärbar, könnte Platon nicht teilen. Er denkt unter diesem Aspekt erheblich moderner“ (Ebd. S. 239).

Die Wirklichkeit, das wirklich existierende Ding ist niemals eine Ver-wirklich-ung eines einzigen bestimmten, rational einsehbaren Sachverhaltes, sondern es ist immer eine Verwirklichung von mehreren Sachverhalten, die man in der Erkenntnis erfassen und unterscheiden muß. Die sog. platonischen Ideen „sind Vorgaben für mögliche Prozesse, die mehr oder weniger von diesen Vorgaben bestimmt sein können“. Wenn man darum meint, man könnte die Wirklichkeit einfach berechnen, so berechnen, daß kein Rest des nicht Verrechneten zurückbleibt, dann ist das eine „euphorische Überbewertung der ,Wirklichkeit‘“, oder man könne auch sagen, eine äußerst kurzsichtige und naive Fehlbewertung der „Wirklichkeit“ als solcher. Wirklichkeit hier in Anführungszeichen gesetzt, weil doch gerade das in Frage steht: Kann ich die gesamte Wirklichkeit durch mathematische Berechnungen überhaupt adäquat erfassen? Läßt sich die ganze Wirklichkeit restlos quantifizieren, also einfach als Kombination von Materie erfassen? Ist das, was man mathematisch-quantitativ erfaßt, nicht vielmehr nur ein Aspekt von Wirklichkeit – und zwar ein untergeordneter, nachgeordneter Aspekt?

Damit das noch etwas besser faßbar wird, lassen wir uns das Ganze von Arbogast Schmitt nochmals in einem Beispiel erklären: „Aristoteles dagegen wird nicht müde zu betonen, daß man ,sein‘ in mehrfacher Bedeutung gebraucht, und daß es dabei vor allem darauf ankomme, ob man vom Sein dessen spricht, das selbst etwas Bestimmtes ist, oder ob ,(dies oder jenes-)sein‘ nur einen Aspekt an etwas bezeichnet, das von sich her etwas anderes ist. Das ,Sein‘ des Kreises ist von sich her durch die Identität der Abstände vom Mittelpunkt bestimmt. Das ,Sein‘ eines kreisrunden Kreidestrichs hat nicht von sich her diese Bestimmtheit, sondern ist nur Kreis, sofern Kreissein ein Aspekt an ihm ist. Von diesem konkreten, ,wirklichen‘ Kreis gilt daher nicht: ,Er ist entweder Kreis oder nicht Kreis‘, denn er ist in vieler Hinsicht etwas anderes als Kreis und selbst sein Kreissein ist, je genauer man mit dem Mikroskop prüft, desto anschaulicher erkennbar, etwas Unbestimmtes“ (Ebd. S. 249f).

Im alltäglichen Leben werden die Begriffe meist ungenau gebraucht. Wenn der Lehrer einen Kreis an die Tafel malt, dann sagen die Schüler, wenn sie der Lehrer danach fragt, was das ist: „Das ist ein Kreis.“ Die Antwort ist richtig, aber ungenau, nicht vollständig. Genau, vollständig müßte der Schüler antworten: Das ist eine mit Kreide an die Tafel gemalte Linie, die eine Kreisform hat. Denn der „Kreis“ an der Tafel ist ja nicht nur und allein Kreis, er ist auch Kreide, Fläche, usw. D.h. aber: Das Kreis-sein ist nicht ideal verwirklicht, weil das in dieser materiellen Welt gar nicht möglich ist. Sobald eine „Idee“ wie das Kreissein – das gedanklich erfaßt wird als eine Linie, die immer den gleichen Abstand von ein und demselben Mittelpunkt hat – in die Wirklichkeit tritt, also in unserer materiellen Welt verwirklicht wird, kommen andere, von der Materie kommende Elemente hinzu notwendigerweise hinzu.

Folgen wir hierzu weiter den Gedanken von Arbogast Schmitt:

„Für Platon und Aristoteles haben diese Möglichkeiten ihre ,Existenz‘ darin, daß sie aus dem obersten Unterscheidungskriterium des Denkens, dem Kriterium, daß alles, was gedacht wird, immer etwas Bestimmtes, von anderem Unterscheidbares sein muß, abgeleitet werden können, wie ich oben in den Grundzügen zu skizzieren versucht habe: Was etwas ist, ist immer auch ein Eines, Identisches, Verschiedenes, ein Ganzes aus Teilen usw., es ist diskrete oder kontinuierliche Einheit, und, wenn kontinuierlich, gerade oder kreisförmig usw. Daß alle Teile eines Selben sich zu einem Selben in derselben Weise verhalten können, ist nichts als eine als etwas Bestimmtes unterscheidbare und daher denkbare Möglichkeit. Realisiert im Verhältnis einer Linie zu einem Punkt und als Qualität an einem wahrnehmbaren Körper ergibt sich daraus ein als Einzelding oder einzelne Vorstellung vorhandener Kreis.
Wenn verstanden werden soll, wie z.B. ein konkreter Kreis, etwa ein Rad entstehen kann, müssen nach Aristoteles folgende zu unterscheidende Bedingungen gegeben sein: Es muß den erkennbaren Sachverhalt ,Kreis‘ geben, durch den die Möglichkeiten, die bedingen, daß etwas Kreis sein kann, gegeben sind. Es muß das Material, in dem er realisiert werden soll, vorhanden sein, und es muß jemand oder etwas dieses Material im Sinn der vom Begriff ,Kreis‘ vorgegebenen Bedingungen (einförmige Linie, gleiche Abstände usw.) formen. Nur diese letztere Ursache, die Aristoteles Wirkursache (griech. aitia poietike; lat. causa efficiens) nennt, kann auch ,der Zufall‘ sein (bzw. genauer: das, was die Zusammensetzung herstellt, kann zu dem, was zusammengesetzt wird, in einem nicht-notwendigen Verhältnis stehen), der Gesamtprozeß dagegen nicht, denn er kann nur stattfinden, wenn die beiden anderen Ursachen: die Sache ,Kreis‘ und das Material schon da sind“ (Ebd. S. 476f).

Ein konkretes Einzelding ist immer etwas Bestimmtes. Nur als solches ist es übrigens auch erkennbar, was man nicht oft genug sagen kann. Bestimmungen sind geistig einsehbare Sachverhalte – man könnte aber auch sagen: Realitäten, Wirklichkeiten – „Was etwas ist, ist immer auch ein Eines, Identisches, Verschiedenes, ein Ganzes aus Teilen usw., es ist diskrete oder kontinuierliche Einheit, und, wenn kontinuierlich, gerade oder kreisförmig usw.“ Aufgrund der Fehlinterpretierung des Denkens in der Moderne wird das rationale Denken beinahe verachtet, so als würde es den Weg zur wahren, echten Wirklichkeit versperren. Man spricht etwa von emotionaler Intelligenz, was eigentlich ein Widerspruch in sich ist, was aber fast niemandem mehr auffällt. Wer das irrationale Gefühl zu einer Erkenntnisquelle macht, der macht damit das ganze Denken irrational, d.h. er zerstört es von Grund auf.

Die menschliche Intelligenz zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Einzeldinge auf ihre unterscheidbaren Sachverhalte hin versteht. Das aber ist ein geistiges Erfassen dessen, was in der Materie verwirklicht ist. Man versteht das, was ein „Rad“ ist, nur, wenn man erfaßt, was Kreissein heißt. Denn die Folge für das Rad – das einen Kreis bildet – ist, daß es ruhig läuft, weil nämlich jeder Punkt der Oberfläche den gleichen Abstand zum Mittelpunkt hat, weshalb die Achse eines Wagens beim Fahren auf der Straße immer im selben Abstand zur Straße bleibt. Würde man ein Rad anstatt in der Form des Kreises in der eines Quadrats konstruieren, dann wäre die Fahrt mit einem Wagen eine recht holprige Angelegenheit.

Vertiefen wir diesen Gedanken noch ein wenig anhand eines Beispiels:

„Bei der Entstehung eines Diamanten z.B. kann das Vorhandensein bestimmter Druckverhältnisse, die nötig sind, damit er zustande kommt, an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt usw., durchaus zufällig sein. Damit aus diesen ,zufälligen‘ Vorgängen ein Diamant wird, dürfen diese Prozesse aber nicht beliebig irgendwo und irgendwann enden, sondern nur, wenn ein bestimmter Sachverhalt eingetreten ist, also wenn das Material des Diamanten, die Kohlenstoffatome, eine bestimmte Struktur gebildet haben, die sich etwa als ein Würfel aus vier Würfeln darstellen läßt, in deren Mitte sich je ein Kohlenstoffatom befindet, das durch eine sog. kovalente Bindung (gemäß Wikipedia: (auch Atombindung, Elektronenpaarbindung oder homöopolare Bindung) ist eine Form der chemischen Bindungen und als solche für den festen Zusammenhalt von Atomen in molekular aufgebauten chemischen Verbindungen verantwortlich.) mit jeweils vier anderen Kohlenstoffatomen an vier Ecken des Würfels verbunden ist. Erst so ergibt sich eine dreidimensionale Struktur, die nach allen Seiten gleich stabil ist. Würden die ,zufälligen‘ Prozesse, die vor der Entstehung von Diamanten ablaufen, an anderer Stelle, d.h. bei der Erreichung der Bildung anderer Gestaltmöglichkeiten, enden, entstünden auch keine Diamanten, sondern entweder diffuse Gebilde oder bestimmte andere Gebilde, wenn nämlich der Prozeßzustand mit einer bestimmten Gestaltmöglichkeit identisch oder weitgehend identisch ist. Sind die Kohlenstoffatome z.B. in einem zweidimensionalen Maschenwerk in Form von hexagonalen Flächen verbunden, die relativ frei gegeneinander beweglich sind, entsteht ein Stoff wie Graphit, der dann genau die Eigenschaften hat, die das Material, die die Kohlenstoffatome in dieser Gestaltverbindung haben: etwa daß ein solcher Stoff weich und schmierig ist“ (Ebd. S. 477).

Das Beispiel mit dem Kohlenstoffatom zeigt, wie vielfältig die Gestaltungmöglichkeiten von Materie – hier als kleinster „Bauteil“ das Atom – sein können. Aber es zeigt sich auch, daß ein bestimmtes Atom immer nur bestimmte Gestaltungsmöglichkeiten hat. Die an sich – also dem Begriff nach – vollkommen unbestimmte Materie (in der Sprache der Scholastik materia prima genannt) existiert als solche nicht, sondern nur im Hinblick auf die Form. Dabei ist es schon merkwürdig zu nennen, daß die Scholastiker aufgrund der neueren Erkenntnisse der Atomphysik meinten, diesen Begriff aufgeben zu müssen bzw. zu können, obwohl ja gerade diese neuen Erkenntnisse für die materia prima sprechen, löst sich doch die Materie durch die Zertrümmerung der Atomkerne immer mehr auf – d.h. es werden immer neue Teilchen entdeckt, so daß man gar nicht mehr so recht weiß, woraus denn eigentlich die Materie besteht. Einen Philosophen von der alten Schule sollte gerade dieses Ergebnis nicht überraschen, sondern ihn dazu ermuntern, besser zu verstehen, was denn die „alte“ Philosophie über das zu sagen weiß, was Materie im Grunde und eigentlich ist. Man könnte es volkstümlich so ausdrücken: Materie verflüchtigt sich bei der Zertrümmerung ihrer Teile notwendigerweise ins Unbestimmte, weil sie als Materie vollkommen unbestimmt ist. Auf diese Weise ließe sich zeigen, wie brauchbar die echte Philosophie auch heute noch ist, worauf auch Arbogast Schmitt verweist: „Im Unterschied zu einem verbreiteten Vorurteil widerlegen die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften, der Physik, Chemie und Biologie die platonisch-aristotelische Unterscheidung von Sache / Form (eidos, idea) und Materie nicht, sondern bestätigen sie und machen ihren Sinn verständlich. Gerade, Kreis, Pyramide, Würfel, Kugel entstehen als Sachmöglichkeiten überhaupt nicht. Das, was entsteht, ist eine bestimmte, den exakten Bedingungen von Würfel oder Kugel (usw.) mehr oder weniger nahekommende Formung eines Materials, das dadurch an den Eigenschaften dieser Sachmöglichkeiten partizipiert“ (Ebd. S. 477).

Wir hoffen, ein wenig verständlich gemacht zu haben, daß die neue Weltdeutung des Galileo Galilei nicht einfach nur eine Änderung des Standpunktes von der Erde zu Sonne war, sondern viel mehr eine Neuinterpretation der ganzen Weltwirklichkeit auf der Grundlage der Materie allein. Wie folgenschwer diese neue Sicht für das Weltverständnis ist, kann man wohl kaum überschätzen. Die Geschichte zeigt zur Genüge: Sie war für den wahren Glauben verheerend. Wenn man feststellen muß, wie wenig Katholiken diese Gefahr überhaupt nur gesehen haben, so ist das ein auffallendes Indiz dafür, daß das katholische Denken z.T. schon seit Jahrhunderten verloren gegangen ist.

Einer der wenigen, die auf die Folgen der Neuinterpretierung der Welt durch Galilei eingegangen sind, war Eugen Mederlet OFM, der in seinem Buch „Die Hochzeit des Lammes“, feststellt: „Dann aber hat Galilei doch die wirkliche Weltordnung durchbrochen. Das damalige Angstgefühl der Kirche hatte einen tiefen seelischen Grund. Mit Galilei beginnt sich das rein naturwissenschaftliche Weltbild an Stelle des sakramentalen zu setzen. Denn im sakramentalen Weltbild ist die Erde der mystische Mittelpunkt der ganzen Schöpfung. Nazareth, Bethlehem, Golgotha und das heilige Grab sind die Orte des Einbruches Gottes in die Schöpfung, nicht nur für uns Menschen, sondern für das Leben der ganzen Welt. Denn ‚er trägt das All durch sein mächtiges Wort‘“ (Hebr 1,3)“ (Eugen Mederlet OFM, Die Hochzeit des Lammes, Christiana-Verlag Stein am Rhein 1983, S. 94).

Dem kann man nur voll und ganz zustimmen.