Betrachtung zu den Kartagen

Das liturgische Jahr geht seinem Höhepunkt entgegen, der Karwoche mit den drei heiligen Tagen. Welch einen Reichtum enthüllen die Zeremonien dieser Tage, einen Reichtum an Gedanken über die Sünde, das Leiden, die Sühne, die Erlösung, und damit immer eingeschlossen einen Reichtum an Gnade. Damit jedoch dieser Gnadenreichtum die Seele ergreifen kann, muß diese vorbereitet sein. Wir müssen die Liturgie verstehen, damit wir sie in der rechten Weise mitfeiern können und die Gnaden in uns fruchtbar werden.

Eine grundlegende Einsicht ist dabei, liturgisches Feiern ist etwas anderes als nur ein erinnerndes Nachspielen des damals Geschehenen, wie es etwa bei den Passionsspielen von Oberammergau geschieht. Die Darstellung des Leidens Jesu kann bei diesem Schauspiel so ergreifend sein, daß viele Zuschauer bis zu Tränen gerührt werden. Dabei begegnet man während den Passionsspielen dem leidenden Gottesknecht nur im Bilde, in der Liturgie dagegen in Wahrheit und Wirklichkeit. In der hl. Liturgie, deren Wesensmitte das hl. Meßopfer ist, wird das Erlösungsgeschehen so vergegenwärtigt, daß es Wirklichkeit wird und ist. Das Kreuzesopfer wird nicht nachgespielt, sondern sakramental erneuert. Auf dem Altar bringt sich der ewige Hohepriester wahrlich und wirklich dem himmlischen Vater zum Opfer dar – Opferpriester, Opfergabe und Opferhingabe sind identisch, nur die Art und Weise der Darbringung ist verschieden. Am Kreuz hat sich Jesus Christus blutigerweise aufgeopfert, im hl. Meßopfer unblutigerweise – oder mit den Worten des Tridentinischen Konzils: „Eine und dieselbe ist nämlich die Opfergabe, derselbe (auch) derjenige, der sich nun durch den Dienst der Priester opfert (wie derjenige), der sich selbst damals am Kreuz opferte, wobei nur die Art und Weise des Opferns verschieden ist. Die Früchte dieses (blutigen) Opfers aber, werden durch dieses unblutige (Opfer) überreichlich empfangen ... Deshalb wird es nicht bloß für die Sünden, Strafen, Sühneleistungen und anderen Verpflichtungen der lebenden Gläubigen dargebracht, sondern mit Recht nach apostolischer Überlieferung auch für die in Christus Gestorbenen, die noch nicht gereinigt sind“ (DS 1743).

Die Karwoche konfrontiert uns mit dem ganzen Ernst der Erlösung. Dabei ist die Art der Konfrontation ganz und gar außerordentlich. Die Anteilnahme an der hl. Liturgie ist nicht so sehr emotional, wie bei einem Schauspiel, sondern geistig und gnadenhaft. Die Liturgie zielt auf das Herz, in dem unsere Erkenntnis und unser Wille gründen. Die Liturgie führt uns auf sicheren Wegen, um dem Geheimnis begegnen zu können, das ein Geheimnis des Glaubens ist. Ein Glaubensloser, der an der Liturgie der Karwoche teilnimmt, könnte womöglich an der Musik, der wunderbaren Ästhetik der Riten, den schönen Gewändern Freude haben, am Eigentlichsten, an der Gnade, würde er nicht teilnehmen, das Geheimnis bliebe ihm verschlossen. In den ersten Jahrhunderten wäre er deswegen nach der Predigt hinausgeschickt worden. Ohne Glauben kann man die Liturgie nicht verstehen und ohne das Sakrament der Taufe empfangen zu haben nicht an ihr teilnehmen.

Bereiten wir uns deswegen entsprechend auf die hl. Woche vor. Bemühen wir uns ein wenig, das Geheimnis besser zu verstehen, damit wir es würdiger feiern können und die gottgeschenkten Gnadenfrüchte auch annehmen und in uns wirken lassen.

Sühnopfer für unsere Sünden

Der Schlüssel zum Geheimnis dieser Tage ist das Sühneleiden des gottmenschlichen Hohepriesters für unsere Sünden. Das Tridentinische Konzil erklärt: „Und weil in diesem göttlichen Opfer, das in der Messe vollzogen wird, jener selbe Christus enthalten ist und unblutig geopfert wird, der sich selber einmal auf dem Altar des Kreuzes ‚geopfert hat‘ (Hebr 9,27), lehrt die heilige Synode, daß dieses Opfer in Wahrheit ein Sühnopfer ist“ (DS 1743).

Nur wenn man den Ernst der Sünde begreift, kann man verstehen, was in den drei hl. Tagen der Karwoche gefeiert wird. Darum versteht der moderne Mensch das Sühneleiden Christi nicht mehr, weil er „wie Wasser trinkt die Sünde“ (Job 15,16). Der moderne Freiheitswahn hat die Herzen inzwischen sogar soweit verführt, daß sie meinen, ein Recht auf die Sünde zu haben. Das Wissen um die natürliche, gottgegebene Ordnung und die daraus folgenden Gebote Gottes ist nicht nur verloren gegangen, man macht sich vielfach über denjenigen lustig, der es noch wagt, auf diese göttlichen Normen unseres Handelns zu verweisen. Die Folge davon ist, der Mensch hat sich an die Sünde gewöhnt, er hat sein Urteilsvermögen verloren, denn sein Gewissen ist abgestumpft. Beim Propheten Jeremias heißt es: „Kann denn ein Kuschiter seine Hautfarbe wechseln, der Panther seine Streifen? Dann würdet auch ihr noch Gutes tun, die ihr ans Böse gewöhnt seid“ (Jer 13, 23). Gibt es angeblich keine Sünden mehr, dann ist natürlich auch keine Sühne mehr für die Sünden notwendig. Das Sühneleiden unseres göttlichen Herrn Jesus Christus ist deswegen den allermeisten heutzutage vollkommen unverständlich geworden. Es wird zu einer politischen Tragödie umfunktioniert, ein tragisches Mißverständnis oder ein Justizmord.

Sünde und Schuld

Wir wissen noch, die Sünde ist nicht nur eine Tatsache, sie ist zudem das eigentliche Übel in unserer Menschenwelt. Bemühen wir uns, dieses Wissen zu vertiefen, um das, was wir mit dem Begriff Sünde benennen, noch besser fassen zu können. Bei diesem Bemühen wählen wir den hl. Thomas von Aquin als besonderen Helfer, da seine nüchternen und klaren Darlegungen der Sache dazu bestens geeignet sind.

Der Begriff der Sünde setzt den Begriff der Ordnung und dieser wiederum den der Schöpfung voraus. Wenn Gott die Welt schafft, dann schafft Er sie notwendig als Ordnung, denn diese ist ein Ausdruck Seines Wesens und zugleich Seiner alles überschauenden Weisheit. Dementsprechend stellt Thomas von Aquin fest: „Die Ordnung der Glieder des Alls zueinander besteht kraft der Ordnung des ganzen Alls auf Gott hin“ (De Pot. 7,9). Gott hält die ganze Welt zusammen, Er ist die ordnende Kraft des Alls, denn Er hat die Welt nicht nur erschaffen, Er erhält sie Augenblick für Augenblick im Sein. Mit anderen Worten: Ohne den Schöpfer würde alles im Chaos versinken, aber ohne Schöpfer erscheint auch das All als Chaos, ist doch die der Welt innewohnende Ordnung nur von Gott her verständlich. Insofern die Welt aber Geschöpf ist, also aus dem Nichts stammt und durch die ihr innewohnende Tendenz wieder ins Nichts zurücksinken möchte, trägt sie neben den Zügen der gottgeschenkten Ordnung auch Züge des Chaotischen, des Nichts an sich. Darum stellt Thomas fest: „Die Ordnung der göttlichen Vorhersicht fordert, daß in den Dingen Zufall sei und Ungefähr“ (ScG. 3,74). Gott müßte um die geschaffene Welt nicht mehr Sorge tragen, wenn es in dieser keine Unwägbarkeiten gäbe. Gibt es aber in den Dingen Zufall und Ungefähr, dann müssen sie jeden Augenblick neu auf ihr Ziel hingelenkt werden: „Was von Gott stammt, ist geordnet. Darin besteht die Ordnung der Dinge, daß die einen durch die anderen zu Gott geführt werden.“ Letztes Ziel der Schöpfung ist somit immer Gott selbst. Die einen Dinge erreichen dieses Ziel ihrer Natur nach einfachhin durch ihr Sein, also dadurch, daß sie so sind, wie sie sind, die anderen aber durch ihr Wirken, nämlich durch ihren Verstand und freien Willen. Letztere sind die geistigen Wesen, Engel und Menschen. Engel und Menschen sind dazu berufen, die Ordnung zu erkennen, sie zu bejahen und aus freiem Willen nachzuleben. Deswegen haben Engel und Menschen die Möglichkeit, gegen die göttliche Ordnung zu handeln, also Gott den ihrer Natur nach geforderten Gehorsam zu versagen. Die Sünde ist deswegen letztlich ein Mangel, ein Mangel an Erkenntnis und Willen. „Die Sünde geschieht im Willen nicht ohne irgendwelche Unwissenheit der Vernunft. Wir wollen nämlich nichts, es sei denn das Gute, das wirkliche oder das anscheinende“ (ScG. 4, 92). Eine Sünde geschieht immer aufgrund einer Täuschung. Der Sünder strebt einem Scheingut nach, durch das er das wahre Gut ersetzt. So meint etwa ein Dieb, es sei gut für ihn, dies oder jenes zu haben, obwohl es in Wirklichkeit ein Unrecht ist, da ihm das Diebesgut nicht gehört. Fälschlicherweise hält der das Diebesgut für ein Gut, obwohl sein Tun – der Diebstahl – gegen die Gerechtigkeit verstößt und somit in Wirklichkeit ein Übel ist. Würden alle Leute stehlen, wäre kein friedliches Leben mehr möglich. Der Diebstahl ist ein Unrecht, eine Sünde gegen die Gerechtigkeit, darum ist der Dieb, sobald er seine Sünde einsieht und bereut, verpflichtet, die entwendete Sache zurückzugeben, oder sie, falls er sie nicht mehr besitzt, zu ersetzen, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen.

Wie aber sieht Gott eine solche fehlgeleitete Handlung? „Es gehört zur vollkommenen Gutheit Gottes, daß er in den Dingen nichts ungeordnet läßt; so sehen wir schon bei den Naturdingen, daß jedes Übel irgendeinem Gut untergeordnet wird ... Weil aber die menschlichen Handlungen ebenso wie die Naturdinge Gegenstand der göttlichen Vorsehung sind, muß auch das Böse, das bei den menschlichen Handlungen vorkommt, irgendeinem Gut untergeordnet werden. Das geschieht aber am passendsten durch die Bestrafung der Sünden. Auf diese Weise wird nämlich alles, was das gebührende Maß überschreitet, der Ordnung der Gerechtigkeit unterworfen, die zum Ausgleich zurückführt. Der Mensch überschreitet aber sein ihm gebührendes Maß, sobald er seinen Willen dem göttlichen Willen vorzieht und ihm entgegen der Anordnung Gottes freien Lauf läßt. Diese Unausgeglichenheit wird nun beseitigt, wenn der Mensch gezwungen wird, gegen seinen Willen, aber gemäß der Anordnung Gottes etwas zu leiden. Es müssen also die menschlichen Sünden von Gott bestraft und ebenso die guten Handlungen belohnt werden“ (ScG III, 140, 5).

Der Dieb empfindet aufgrund seines Diebstahls eine gewisse Freude. Diese ist mehr oder weniger groß, kürzer oder länger, je nachdem, was der Dieb erbeutet hat und wie lange er sich an seinem Diebesgut erfreuen kann. Beim Diebstahl zieht der Dieb seinen Willen dem Willen Gottes vor, der ihm sagt: Du sollst nicht stehlen! Aber um einer irdischen Freude willen verweigert der Dieb Gott den Gehorsam und übertritt das göttliche Gebot. Die Sünde ist eine verantwortete Unausgeglichenheit, in die sich der Mensch aus eigener Schuld versetzt, sie ist ein Unrecht gegen Gott und Seine Gebote. Die Gerechtigkeit verlangt nun einen Ausgleich. Wie wir schon gesehen haben, muß der Sünder im Fall des Diebstahls einerseits die gestohlene Sache erstatten, anderseits muß er aber auch noch das Unrecht gegen Gott wieder gut machen. Welche Strafe trifft den Sünder? Thomas erklärt: „Diese Unausgeglichenheit wird nun beseitigt, wenn der Mensch gezwungen wird, gegen seinen Willen, aber gemäß der Anordnung Gottes etwas zu leiden.“ Durch das Leiden wird der Mensch von Gott gezwungen, seine Sünden wieder gut zu machen – sofern er das überhaupt kann, muß man hinzufügen, wie wir noch sehen werden.

Lassen wir uns diesen Sachverhalt noch etwas ausführlicher erklären: „Weil aber nur das schlechthin Gute Gegenstand des Willens ist, findet sich das Böse als die Beraubung des Guten nur unter einer speziellen Rücksicht in den vernünftigen und mit freiem Willen ausgestatteten Geschöpfen. Das Übel also, das durch Entzug der Form oder Vollständigkeit eines Dings zustande kommt, hat den Charakter der Strafe, und dies zumal unter der Voraussetzung, daß alles der göttlichen Vorsehung und Gerechtigkeit unterliegt, wie oben gezeigt worden ist; es gehört nämlich zum Wesen der Strafe, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist. Das Übel aber, das im Entzug einer geschuldeten Tätigkeit in den mit freiem Willen begabten Geschöpfen besteht, hat den Charakter der Schuld; denn es wird jemandem genau das als Schuld angerechnet, daß er es an der Vollkommenheit einer Handlung fehlen läßt, deren Herr er durch den Willen ist. So ist also jedes Übel in jenen Geschöpfen, die einen freien Willen besitzen, entweder Strafe oder Schuld“ (Sth I q 48 a 5).

Bleiben wir beim Beispiel des Diebes: Das, was den Dieb zum Dieb macht ist das fehlende Eigentumsrecht, dieses fehlt „zur Vollkommenheit (s)einer Handlung, deren Herr er durch den Willen ist“. Er kann ja das fremde Gut nehmen oder nicht nehmen, er kann das göttliche Gebot achten oder übertreten. Wenn er das göttliche Gebot übertritt, dann begeht er ein Unrecht und diesem Unrecht entspricht „unter der Voraussetzung, daß alles der göttlichen Vorsehung und Gerechtigkeit unterliegt“, eine bestimmte Strafe. Zum Wesen der Strafe gehört es, daß sie dem Willen des Sünders entgegengesetzt ist. Eine freudige Sache würde niemand als Strafe ansehen. Der Sünder muß die Strafe irgendwie spüren, so wie der Dieb bei seinem Diebstahl die Freude gespürt hat, so muß er als Strafe ein gewisses Leiden ertragen.

Die Sünde hat somit immer zwei Seiten: Einerseits ist sie eine Abwendung vom wahren Ziel, indem sie sich gegen den Willen (das diesen Willen ausdrückende Gebot) Gottes richtet und anderseits die Zuwendung zu einem falschen Ziel, ein irdisches Gut nämlich, das man Gott vorzieht.

Das Wesen der Sünde

Dem Menschen fällt es recht schwer, das Wesen der Sünde einzusehen. Der hl. Thomas erklärt einmal die Sünde durch einen Vergleich mit Schmutzflecken, die an den sichtbaren Dingen auftreten. „Von einem Flecken im eigentlichen Sinn spricht man bei den körperlichen Dingen, wenn nämlich irgendein glänzender Körper infolge der Berührung mit einem anderen Körper seinen Glanz verliert, wie ein Kleid oder Silber oder Gold oder sonst etwas derartiges. Im geistigen Bereich aber muß man in ähnlicher Weise von einem Makel sprechen. Die Seele des Menschen besitzt nämlich einen doppelten Glanz: einmal vom Widerschein des Lichtes der natürlichen Vernunft, von der sie sich in ihren Tätigkeiten leiten läßt, zum zweiten jedoch vom Widerschein des göttlichen Lichtes, d.h. der Weisheit und der Gnade, die den Menschen befähigt, gut und richtig zu handeln. Wenn nun die Seele irgendwelchen Dingen durch die Liebe anhängt, kommt das gewissermaßen einer Berührung gleich. Wenn sie aber sündigt, hängt sie irgendwelchen Dingen gegen das Licht der Vernunft und des göttlichen Gebots an ... Darum wird der Verlust des Glanzes, der aus einer solchen Berührung resultiert, bildhaft als Befleckung der Seele bezeichnet“ (Sth I/II q 86 a 1).

Mit demselben Bild kann Thomas auch den Unterschied zwischen einer Todsünde und einer Wundsünde (läßliche Sünde) ganz gut erklären: „Wie es bei einem Körper vorkommt, daß er auf zweierlei Weise befleckt ist, einmal durch die Beraubung dessen, was zu seiner Zierde erfordert ist, etwa der Farbe oder der richtigen Proportion der Glieder, zum anderen durch das Auftragen von etwas, was die Zierde verdeckt, z.B. Schmutz oder Staub, so zieht sich auch die Seele den Makel auf eine Weise durch die Beraubung des Schmucks der Gnade durch die Todsünde, auf andere Weise durch die ungeordnete Zuneigung der Leidenschaft zu etwas Zeitlichem zu, und das geschieht durch die Wundsünde. Und darum ist zur Entfernung des Makels einer Todsünde die Eingießung der Gnade notwendig, aber zur Beseitigung des Makels einer Wundsünde bedarf es lediglich eines von der Gnade getragenen Aktes, der die ungeordnete Anhänglichkeit an das Zeitliche aufhebt“ (Sth III q 87 a 2 ad 3).

Da wir den Glanz der Seele nicht unmittelbar sehen können, weder den „Widerschein des Lichtes der natürlichen Vernunft noch den Widerschein des göttlichen Lichtes, d.h. der Weisheit und der Gnade“, fällt es uns auch so schwer, deren Beraubung wahrzunehmen, also die Sünde dementsprechend einzusehen. In jeder Gewissenserforschung werden wir mit dieser Tatsache konfrontiert. Wie oft versuchen wir, eine gute Reue zu erwecken, ohne den erwarteten Erfolg. Es bleibt sodann nur übrig, uns mit der Gnade Gottes die Sünde nüchtern und ernsthaft als Beleidigung Gottes oder als Verunstaltung der Seele vor Augen zu stellen und den festen Vorsatz zu fassen, fernerhin die Gelegenheit zur Sünde zu meiden.

Als Verlust des Glanzes der Seele ist die Sünde etwas rein Negatives, „nämlich die Beraubung der Verbindung mit dem göttlichen Licht“ (Sth I/II q 86 a 2 ad 1). Aber ist das alles? Hat die Sünde nicht noch andere Folgen? Der hl. Thomas erklärt: „Die Schönheit der Seele besteht in ihrer Verähnlichung mit Gott, auf den hin sie durch die Heiligkeit der von ihm empfangenen Gnade gestaltet werden muß. Wie uns aber ein dazwischengeschobenes Hindernis an der Wahrnehmung des körperlichen Lichts der Sonne hindert, so wird auch das Licht der Gnade durch eine begangene Sünde von der Seele abgehalten, weil die Sünde uns von Gott trennt, wie Is 59 gesagt wird. Darum setzt der Makel, in sich betrachtet, von seinem Wesen her nichts als die Beraubung der Gnade, aber er setzt gleichsam als Ursache das Hindernis der Sünde, das der Aufnahme der Gnade entgegensteht; und deswegen heißt der Makel - hinsichtlich der soeben aufgezeigten Analogie - auch Finsternis“ (In IV d 18 q 1 a 2a).

Sünde und Ewigkeit

Aus der Beraubung der Gnade folgt „das Hindernis der Sünde, das der Aufnahme der Gnade entgegensteht“. Eine Sünde (hier ist natürlich die schwere Sünde gemeint) bildet in der Seele ein unüberwindliches Hindernis für die Gnade. Die Seele ist nicht mehr bereit, die Gnade aufzunehmen und sie kann sich auch von sich aus nicht mehr aus diesem Zustand befreien. Darum spricht man davon, daß sie sich in einer Finsternis befindet, ist sie doch des göttlichen Lichtes vollkommen beraubt. Die dieser Sünde gemäße Strafe ist die Strafe der Verdammnis. Diese besteht im ewigen Verlust bzw. dem Entbehren der beseligenden Anschauung Gottes. Hinzu kommt noch die Strafe der Sinne, die zeitliche Strafe, die in den körperlichen und seelischen Leiden des Erdenlebens besteht. Der hl. Thomas erläutert, „daß die Strafe der Sünde entsprechen muß. In der Sünde liegt aber ein zweifaches Moment: einmal die Abwendung vom unvergänglichen Gut, das unendlich ist; zum zweiten die ungeordnete Zuwendung zu einem vergänglichen Gut, und von dieser Seite ist die Sünde endlich, weil die Akte der Geschöpfe gar nicht unendlich sein können. Von Seiten der Abwendung entspricht also der Sünde die Strafe der Verdammnis, die gleichfalls unendlich ist, denn sie besteht im Verlust des unendlichen Gutes, d.h. Gottes. Von Seiten der ungeordneten Zuwendung aber entspricht ihr die Strafe der Sinne, die gleichfalls endlich ist“ (Sth I/II q 87 a 4).

Die Annahme einer ewigen Strafe stößt heute bei den meisten Menschen auf Unverständnis. Der Grund dafür ist einerseits eine völlig verkehrte Gottesvorstellung. Von einem falschen Begriff der Liebe und Güte Gottes ausgehend, denkt man, ein solcher Gott könne doch niemals so grausam sein, sein Geschöpf wegen seiner Sünden ewig strafen zu wollen. Was sollte es zudem Gott bringen, wenn ein Großteil seiner Geschöpfe Ihn ewig in der Hölle fluche? Anderseits steht hinter dieser Vorstellung auch noch eine Verkennung der Sünde selber. Der heutige Mensch verkennt den Ernst der geschöpflichen Freiheit und die daraus folgende Verantwortung. Das Geschöpf kann und muß Ewigkeitsentscheidungen treffen, denn nur so ist es zu einer wahren Gottesliebe fähig. Gott unterstützt diese Entscheidung durch Seine Gnadenhilfe, weshalb jeder Mensch fähig ist, das letzte Ziel seines Lebens zu erreichen. Die Verfehlung dieses Zieles aber ist eine Ewigkeitskatastrophe. Deswegen kann man die Sünde niemals ernst genug nehmen und niemals genug vor ihr auf der Hut sein.

Sühne und Genugtuung

Wie ernst die Sünde wirklich ist, erkennt man daran, welche Sühne notwendig war, um den Menschen die Sünde vergeben zu können. Der hl. Thomas betont: „Damit die Genugtuung aber eine gleichwertige war, mußte sie unendliche Kraft haben, weil die Sünde, für die sie geleistet wurde, eine gewisse Unendlichkeit aus drei Gründen besaß: zum ersten wegen der Unendlichkeit der göttlichen Majestät, sofern sie durch die ihr im Ungehorsam gezollte Verachtung beleidigt worden war; die Schuld ist nämlich umso schwerer, je größer derjenige ist, gegen den man sündigt. Zum zweiten wegen des Guts, das durch die Sünde genommen wurde; es ist nämlich unendlich, Gott selbst, durch dessen Teilhabe die Menschen glücklich werden. Zum dritten wegen der Natur selber, die verdorben wurde, denn sie hat eine gewisse Unendlichkeit in Anbetracht dessen, daß ihre Träger ohne Ende vermehrt werden können. Die Handlung einer bloßen Kreatur kann aber keine unendliche Wirksamkeit haben, und deshalb konnte kein bloßes Geschöpf eine hinreichende Genugtuung leisten“ (In III d 20 q 1 a 2).

Der Mensch hatte zwar die Freiheit, durch die Sünde die ungeschuldete, gottgeschenkte Gnade zu verlieren, er hatte aber sodann nicht mehr die Freiheit, diese wiederzuerlangen. Mit anderen Worten: Durch die Sünde verlor er seine Freiheit zur Gnade und wurde ein Sklave der Sünde. Aus einem Kind und Freund Gottes wurde ein Gefährte des Teufels. Die Sünde zerstörte das Freundschaftsverhältnis des Geschöpfes mit seinem Gott und Schöpfer, das allein durch die heiligmachende Gnade ermöglicht wird, die das Geschöpf über die Natur erhöht und zu einem wahren Bild des dreifaltigen Gottes macht. Nur der in der Gnade lebende Mensch ist für Gott auch wirklich liebenswert.

Erst diese Einsichten eröffnen uns das rechte Verständnis für das Geschehen der Karwoche. Die Wiedererlangung der durch die Sünde verlorenen Gerechtigkeit ist nur möglich durch eine entsprechende unendliche Sühneleistung, welche die unendliche Schuld ausgleicht. „Die Handlung einer bloßen Kreatur kann aber keine unendliche Wirksamkeit haben, und deshalb konnte kein bloßes Geschöpf eine hinreichende Genugtuung leisten.“ Vor Gottes Gerechtigkeit war der sündige Mensch solange unrettbar verloren, als nicht jemand stellvertretend die notwendige Sühne auf sich nahm, um die Schuld abzutragen. Der Mensch brauchte einen Mittler und Fürsprecher vor Gott, sollte er nochmals zur Freundschaft mit Gott zugelassen werden. Dieser Mittler und Fürsprecher mußte beide Seiten überbrücken: Einerseits mußte er aus den Menschen genommen sein, um stellvertretend für die Menschen eintreten und Sühne leisten zu können, anderseits mußte er Gott sein, damit seine Handlungen einen unendlichen Sühnewert haben konnten.

Im Hebräerbrief erläutert der hl. Paulus das Wesen dieses außerordentlichen Mittlers: „Vielmals und auf vielerlei Weise hat Gott vor Zeiten durch die Propheten zu den Vätern gesprochen; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben über das All eingesetzt, durch den er auch die Welten erschaffen hat. Dieser ist der Abglanz der Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens und trägt das All durch sein machtvolles Wort. Nachdem er die Reinigung von den Sünden vollzogen hatte, hat er sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt“ (Hebr. 1, 1-3). Am Ende der Tage hat Gott seinen eingeborenen Sohn in die Menschenwelt gesandt, welcher der „Abglanz der Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens ist und das All durch sein machtvolles Wort“ trägt. Er sollte die Sünden der Menschen auf sich nehmen, „darum mußte er in allem den Brüdern gleich werden, damit er ein barmherziger und treuer Hoherpriester hinsichtlich der Gott betreffenden Dinge sei, um die Sünden des Volkes zu sühnen“ (Hebr. 2, 17). Da Er Gott und Mensch zugleich ist, ist Er, Jesus Christus, der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen. Daraus folgt aber „daß keine einzige Sünde vergeben werden kann, wenn nicht durch die Kraft des Leidens Christi, weshalb auch der Apostel Hebr 9 sagt, daß ‚ohne Blutvergießung keine Vergebung stattfindet‘...“ (Sth III q 69 a 1 ad 2).

An einer anderen Stelle seiner Theologischen Summe schreibt der hl. Thomas: „Durch das Leiden Christi aber sind wir nicht nur von der der ganzen menschlichen Natur gemeinsamen Sünde hinsichtlich ihrer Schuld und Strafe befreit, indem er selbst den Lösepreis für uns entrichtete, sondern auch jeder einzelne, der an Christi Leiden durch den Glauben, die Liebe und die Sakramente Anteil hat, von seinen persönlichen Sünden. Und darum wurde uns durch das Leiden Christi die Pforte des Himmelreichs geöffnet“ (Sth III q 49 a 5).

Auf den Menschen lastet ihre Schuld und die daraus folgende Strafe. Stellvertretend für uns übernimmt Jesus Christus diese und befreit uns davon, „indem er selbst den Lösepreis für uns entrichtete“. Das gilt nicht nur von „der der ganzen menschlichen Natur gemeinsamen Sünde“, es gilt auch für alle persönlichen Sünden. Bedingung für die Zuwendung der Erlösungsfrüchte ist jedoch, daß der Mensch „an Christi Leiden durch den Glauben, die Liebe und die Sakramente Anteil“ hat.

An einer anderen Stelle unterscheidet der hl. Thomas verschiedene Aspekte des Leidens, wodurch uns die weitreichenden Wirkungen dieser Akte verdeutlicht werden: „Das Leiden Christi, auf seine Gottheit bezogen, wirkt auf die Weise der Wirkursächlichkeit; bezogen auf den Willen der Seele Christi wirkt es auf die Weise des Verdienstes; aber im Fleisch Christi selber betrachtet, wirkt es als Sühne, sofern es uns von der Strafschuld befreit, als Loskauf, sofern es uns von der Knechtschaft der Schuld befreit, als Opfer aber, sofern es uns mit Gott versöhnt...“ (Sth III q 48 a 6 ad 3).

Es ist der Sohn Gottes, der als Mensch für uns leidet. Aus diesem Grund ist es möglich, das Leiden Christi auf seine Gottheit zu beziehen, wodurch es seinen unendlichen Sühnewert erhält und somit erst die Wirkursache unserer Erlösung werden kann. Bezogen auf die Seele Christi ist das Leiden verdienstlich und erwirbt den unerschöpflichen Schatz der Erlösungsgnaden, durch welchen jeder Mensch gerettet wird. Darum sagen wir ganz zurecht: Alle Gnaden stammen vom Kreuz. Im Fleisch Christi erwirkt das Leiden Christi etwas Dreifaches: Erstens „als Sühne, sofern es uns von der Strafschuld befreit“. Zweitens „als Loskauf, sofern es uns von der Knechtschaft der Schuld befreit“. Und schließlich drittens „als Opfer aber, sofern es uns mit Gott versöhnt...“

Der Loskauf der Seelen durch Jesus Christus

Unzweifelhaft ist das Leiden Christi ein Geheimnis, ein Geheimnis der göttlichen Erlöserliebe. Wie groß ist die Gefahr, über dieses Geheimnis oberflächlich hinwegzugehen und sich einzubilden, das Opfer Jesu am Kreuz einfachhin verstehen zu können. Besonders ein Gedanke kann uns helfen, das göttliche Übermaß der Erlösung und darin das Übermaß der Liebe unseres Erlösers zu erahnen. Aus dem Katechismus weiß jeder Katholik, daß in sich betrachtet jedes noch so geringe Leiden Christi unendliche Sühnekraft hatte. Ein Tropfen des Blutes Christi hätte gereicht, die ganze Welt zu erlösen. Warum hat sich der göttliche Erlöser nicht damit zufrieden gegeben? Warum hat Er etwa nicht spätestens nach der Geißelung Seine Leiden beendet? Die Antwort auf diese Frage führt uns ins Dunkel der verborgenen göttlichen Ratschlüsse. Der hl. Thomas versucht, sich diesem Geheimnis, ausgehend vom Begriff des Loskaufs, zu nähern. Er gibt zu bedenken, daß zum Kauf stets zweierlei erfordert ist, „nämlich die Größe des Kaufpreises und seine Bestimmung zum Kauf irgendeiner Sache. Wenn nämlich jemand einen Preis zahlt, der nicht den vollen Wert zum Erwerb einer Sache hat, spricht man nicht einfach von einem Kauf, sondern von einem teilweisen Kauf und einer teilweisen Schenkung. ... Sprechen wir also von der Erlösung des Menschengeschlechts hinsichtlich der Größe des Preises, so hätte jedes beliebige Leiden Christi auch ohne seinen Tod zum Loskauf des Menschengeschlechts ausgereicht, wegen der unendlichen Würde seiner Person ... Sprechen wir aber davon hinsichtlich der Festsetzung des Preises, so müssen wir sagen, daß Gott der Vater und Christus selber keine anderen Leiden Christi ohne Tod für die Erlösung der Menschheit festgesetzt haben“ (Quodlibetum 2 q 1 a 2 co).

Wir können also nur die Tatsache feststellen, daß Gott einen viel höheren Preis festgesetzt hat, als an sich notwendig war. Für diesen freien Ratschluß Gottes lassen sich jedoch nur sog. Angemessenheitsgründe anführen, wie etwa, „daß Christus das Menschengeschlecht nicht nur durch seine Macht, sondern auch durch seine Gerechtigkeit von den Sünden befreien wollte. Und darum hat er nicht nur in Betracht gezogen, welche Kraft sein Schmerz aus der Vereinigung mit der Gottheit hätte, sondern auch wie groß der Schmerz sein müßte, um nach der menschlichen Natur für eine solche Genugtuung auszureichen“ (Sth III q 46 a 6 ad 6). Mit anderen Worten sollte das Leiden auch nach außen hin, jegliches erdenkliche Maß übersteigen, was durch die vielfältigen und außerordentlichen Leiden zum Ausdruck kommt und allen sichtbar wird. Letztlich ist es die Liebe Christi, die Ihn zu diesem Übermaß bewegt. Alle Menschen sollten beim Betrachten Seines Leidens dieser göttlichen Erlöserliebe ansichtig werden, denn: „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15, 13). Und wie groß muß diese Liebe sein, wenn sie solch unerhörte Schmerzen für die Freunde auf sich nimmt und freiwillig ertragen will? In seinem Drama „Mariä Verkündigung“ läßt Paul Claudel die aussätzige Violaine zu ihrer Schwester Mara sagen: „Machtvoll ist das Leiden, wenn es so freiwillig aufgenommen ist wie die Sünde.“ Das Sühneleiden muß genauso freiwillig sein, wie es die Sünde war. Leiden kann jedoch nur aus Liebe freiwillig getragen und nicht nur widerwillig erduldet werden. Dementsprechend sagt Violaine kurz vorher: „Die Liebe schuf den Schmerz, und der Schmerz schuf die Liebe. Das Holz, das man in Brand gesetzt, liefert nicht nur die Asche, auch die Flamme.“ Die Flamme aber schenkt Licht, göttliches Licht, Gnadenlicht. Da kann man nur noch mit dem hl. Paulus voller Freude ausrufen: „Da wir also einen erhabenen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, laßt uns am Bekenntnis festhalten! Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern einen, der in allem ebenso versucht worden ist, doch ohne Sünde blieb. Laßt uns also mit Zuversicht zum Thron der Gnade hintreten, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden, wenn wir der Hilfe bedürfen“ (Hebr. 4, 14-16).

Jesus, der ewige Hohepriester –
eine Vision der hl. Hildegard von Bingen

Der hl. Thomas von Aquin gibt uns einen wichtigen Hinweis, der uns das Geheimnis der hl. Liturgie aufschließt und uns sicherlich helfen kann, andächtiger, gesammelter, interessierter, aufmerksamer und in allem liebender an der hl. Liturgie teilzunehmen: „Der ganze Ritus der christlichen Religion leitet sich her vom Priestertum Christi“ (Sth. III, 63,3). Man kann also sagen: Jede Geste der hl. Messe, jede Zeremonie der Liturgie wird getragen vom Priestertum Christi und leitet sich her von jenem einen Opfer, das der ewige Hohepriester zum Heil unserer Seele vollbringt, das Opfer am Kreuz. Laßt uns also in diesen Kartagen mit Zuversicht zum Thron der Gnade hintreten, indem wir den hl. Feiern andächtig folgen, dann werden wir ganz gewiß Seine Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden. Eine Gnade, die genauso wie Seine Liebe unendlich überfließend ist.

Als Ausklang wollen wir noch den Text einer Vision der hl. Hildegard folgen lassen, der uns womöglich hilft, den Schleier des Geheimnisses ein ganz klein wenig wegzuziehen oder durchscheinender werden zu lassen:

„Und danach sah ich, wie die erwähnte Frauengestalt – als der Sohn Gottes am Kreuz hing – wie ein heller Glanz unversehens aus dem ewigen Ratschluß hervorging. In göttlicher Kraft wurde sie ihm zugeführt, vom Blut, das hoch aufsprudelnd aus seiner Seite floß, überströmt. Nach dem Willen des himmlischen Vaters wurde sie in seliger Vermählung mit ihm vereint und mit seinem Fleisch und Blut reich beschenkt.
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel zu ihm sagen: 'Diese, mein Sohn, soll deine Braut zur Wiederherstellung meines Volkes sein. Sie sei ihm Mutter in der Wiedergeburt der Seelen durch die Erlösung in Geist und Wasser.'
Und als diese Gestalt auf solche Weise an Kraft gewann, sah ich eine Art Altar, zu dem sie öfter hinzutrat, dort jedesmal andächtig ihre Brautgabe betrachtete und sie demütig dem himmlischen Vater und seinen Engeln zeigte. Als dann auch ein Priester, mit heiligen Gewändern angetan, an den Altar trat, um die göttlichen Geheimnisse zu feiern, sah ich, daß plötzlich ein sehr heller Lichtschein, von Engeln begleitet, aus dem Himmel kam. Er umstrahlte den ganzen Altar und ruhte solange auf ihm, bis sich nach Vollendung dieser Meßfeier der Priester vom Altar entfernte. Nachdem dort das Evangelium des Friedens verkündet, die zu konsekrierende Opfergabe auf den Altar gelegt war und der Priester den Lobpreis des allmächtigen Gottes, d.h. 'sanctus sanctus sanctus Dominus Deus Sabaoth' anstimmte und so die Feier der heiligen Geheimnisse begann, kam plötzlich aus dem offenen Himmel ein feuriger Blitz von unvorstellbarer Helligkeit auf diese Opfergaben hernieder und übergoß sie ganz mit seinem Schein; so erleuchtet die Sonne einen Gegenstand, auf den ihre Strahlen fallen. Und während er sie so beleuchtete, zog er sie unsichtbar in das Innere des Himmels empor und ließ sie wieder auf den Altar hinunter; wie ein Mensch Luft einatmet und sie wieder ausatmet.
Obwohl sie in den Augen der Menschen als Brot und Wein erschienen, waren sie wahres Fleisch und wahres Blut geworden. Als ich das betrachtete, erschienen plötzlich wie in einem Spiegel die Symbole für Geburt, Leiden und Begräbnis, und auch für die Auferstehung und Himmelfahrt unseres Erlösers, des Eingeborenen Gottes; so trug sich das alles auch im irdischen Leben des Gottessohnes zu. Als jedoch der Priester das Lied vom unschuldigen Lamm, d.h. 'Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt' sang und sich anschickte, die heilige Kommunion zu empfangen, kehrte der erwähnte feurige Blitz zum Himmel zurück und ich hörte aus dem verschlossenen Himmel folgende Worte: 'Eßt und trinkt das Fleisch meines Sohnes zur Tilgung der Übertretung Evas, damit ihr wieder in euer rechtmäßiges Erbe eingesetzt werdet.' Und während auch die übrigen Menschen zum Empfang dieses Sakramentes an den Priester herantraten, nahm ich fünf Arten von ihnen wahr. Die einen hatten nämlich einen leuchtenden Leib und eine feurige Seele; andere aber erschienen mit häßlichem Leib und finsterer Seele; einige waren behaarten Körpers und die Seele starrte vom Schmutz menschlicher Verunreinigung; der Leib mancher war von spitzen Dornen umgeben und sie erschienen mit aussätziger Seele; manche dagegen erschienen mit fahlem Körper und einer Seele, die wie ein verwesender Leichnam roch. Während einige von denen, die das Sakrament empfingen, wie mit feurigem Glanz übergossen wurden, umdunkelte die anderen gleichsam eine finstere Wolke.
Nach Vollendung des Meßopfers aber, als der Priester sich vom Altar entfernte, zog sich der besagte Lichtschein, der vom Himmel gekommen war und den ganzen Altar umstrahlt hatte, nach oben in das Innerste des Himmels zurück.“

(aus Scivias II/ 6. Vision).