Vom Lehramt zum Leeramt IV.1

Nach Angelo Roncalli, dem "Propheten", und Giovanni Battista Montini, dem "Macher", wenden wir uns nun dem dritten "Konzilspapst" zu, Karol Wojtyla, passend zur bevorstehenden "Heiligsprechung" von "Johannes Paul dem Großen".

Karol Wojtyla alias Johannes Paul II.: Der Wissende

Anstatt einer Einleitung

In seinem Buch, „Wohin steuert der Vatikan?“ formuliert Reinhard Raffalt gegen Schluß in dem Kapitel „Mein Widerspruch“ folgenden Gedanken:

Auf diesen letzten Seiten möchte ich sagen, worin ich engagiert bin.
„Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde.“ So lautet der erste Satz des Glaubensbekenntnisses von Nicaea. Weder der Zustand der heutigen Welt noch die Verhältnisse in der katholischen Kirche lassen es zu, sich in der Frage nach Gott mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten. Wer behauptet, er könne erst an Gott glauben, sobald dieser durch das Aufhören des namenlosen irdischen Unrechts seine Existenz bewiesen habe, ist sicher gleich jedem Zweifler ernst zu nehmen. Er mag auch, vor allem in seinem sozialen Verhalten, durchaus ein latenter Christ sein. Aber ist er berechtigt, sich katholisch zu nennen? Pius XII. hätte nein gesagt und für ihn gebetet. Johannes XXIII. hätte sich gescheut, der Barmherzigkeit Gottes Grenzen zu setzen. Paul VI. war geneigt, ihn aufzunehmen, bevor er sich bekehrte. Gegner und Anhänger des Montini-Papstes hatten eines mit ihm gemeinsam: Sie hielten den Menschen für ein entwicklungsfähiges Geschöpf, über die Grenzen seiner Natur hinaus. Das Stückchen Welt, das ihre Lebenszeit umfassen konnte, war ihnen eine Aufgabe, deren Lösung darin bestand, das moralische Bewußtsein des Menschen voll zu verwirklichen. War dieses nur erst erweckt, so mußte der Mensch ganz von selbst zur Anerkennung Gottes gelangen. Dem widerspreche ich. Gott ist im Leben des Menschen keine Folgeerscheinung. Wer überhaupt an ihn glaubt, gleichviel nach welcher Religion, wird ihn als Ursprung sehen, nicht als Konsequenz. Würde Gott durch menschliche Übereinkunft entstehen, so gäbe es ihn nicht.

Diese Gedanken sollten wir uns, während wir über das lange Wirken Karol Wojtylas in der Menschenmachwerkskirche handeln, in Erinnerung behalten. Denn nur so können wir auf dem rechten Weg bleiben, ohne in die Irre geführt zu werden. Irrtümer gibt es nämlich während der Jahre Karol Wojtylas in Rom zahlreich wie eine Legion.

Ein kurzer Lebenslauf bis zur Wahl

Eine eingehendere Beschreibung des Lebens Karol Wojtylas bis zu seinem Amtsantritt in Rom würde den hier vorgegebenen Rahmen um ein mehrfaches übersteigen. Wir lassen deswegen nur einen stichwortartigen Lebenslauf folgen, der uns kürzlich wieder in die Hände gefallen ist und die auffallendsten Stationen auf dem Weg zum Stuhl Petri erwähnt:

    18.5.1920 - Geburt in Wadowice b. Krakau
    1922 - Tod der 8 Jahre älteren Schwester (10-j.)
    1929 - Tod der Mutter, eine geborene Katz (Jüdin aus dem Osten)
    1932 - Tod des 14 J. älteren Bruders als Assistenzarzt.
    1939 - Vom Wehrdienst verschont (Krieg!), Studium der Polonistik in Krakau
    1940 - Tod des Vaters (b. bester Gesundheit)
    1942 - Auf der Straße angeworben von Jan Tyranowski für das Rhapsodische Theater in Krakau, dessen besonderes Ziel war, durch eine besonders geschliffene Sprache und Mimik zu faszinieren. Aufnahme in die Krakauer Loge von B'nai B'rith
    1944 - Heirat mit Jadwiga, die nach fast 1 Jahr stirbt.
    Überraschend zu Erzbischof Fürst Sapieha ins Ordinariat Krakau bestellt und zum Besuch des dortigen Priesterseminars geworben. Da ohne entsprechende Vorbildung, muß er dort das Abitur nachholen. (Erzb. Sapieha ist Enkel des Vizegroßmeisters von Polen und Freundes Adam Weishaupts, des Gründers des geh. Illuminatenordens.)
    1. 11.1946 - Nach bereits 2 (!) Jahren Priesterseminar allein von Erzb.Sapieha in dessen Privatkapelle zum Priester geweiht.
    1958 - Jüngster Bischof Polens
    1962 - Kapitularvikar
    1963 - Jüngster Erzbischof Polens; galt als modernster Bischof und wurde ohne Antrag des zuständ. Primas Polens, Kard.Wyszinsky, direkt im Vatikan zum Kardinal ernannt. Bau und Weihe der hypermodernen Kirche in Nowa huta mit „Ritustisch“ und mißgestaltetem Corpus-Kreuz, auf den Namen „Königin von Polen“ geweiht.
    16.10.1978 - Wahl zum Papst, obwohl bereits Kard. Siri im gleichen Konklave vorher gewählt war, was jedoch annulliert wurde.

Der Schauspieler und Anthroposoph

Allein diese wenigen Daten dokumentieren zu Genüge, daß es sich bei Karol Wojtyla um eine außergewöhnliche Person und ein außergewöhnliches Leben handelt. Wir wollen aus den vielen Daten und Stationen nur zwei herausgreifen, die auf diesen Mann einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, das Rhapsodische Theater in Krakau und seine erstaunlich kurze Zeit im Priesterseminar.

Ein Kindheitsfreund Wojtylas, der 1923 in Krakau geborene Malinski, erinnert sich: „Während seiner Zeit als Gymnasiast findet er seinen Meister in Mieczyslaw Kotlarczyk. Dieser ist nicht bloß Organisator von Akademien, Festen und Veranstaltungen, sondern auch ein echter Künstler, beseelt von den tiefsten Gedanken. Er offenbart Karol, der ihm hingerissen sein Ohr leiht, die Kraft der Kunst und deren Aufgabe, die Gesellschaft zu formen und geistig wie moralisch zu bessern; er enthüllt ihm die Bedeutung des Schauspielers als eines Priesters der Kunst, eines Trägers von Verantwortung für das Schicksal der Nation“ („Juan Pablo II. Historia de un hombre de Planeta“, Barcelona 1981, S. 14-15). „Inzwischen nehmen die Theateraufführungen ihren Fortgang, geleitet von Mieczyslaw Kotlarczyk. Mit der Hilfe ehemaliger Kolleginnen und Kollegen bereitet man Aufführungen der großen polnischen Klassiker vor: Mickiewicz, Zeromski, Wyspianksi, Slowacki. Er handelt sich nicht etwa um eine Art Amateurtheater, um einen Kreis von Enthusiasten. Die ganze Gruppe ist von jener Idee durchdrungen, die Kotlarczyk bereits den jungen Schülern von Wadowice gepredigt hat. Alle Angehörigen der Gruppe betrachten den Künstler als Priester, den Priester der Kunst, der dazu berufen ist, die ihn umgebende Welt umzugestalten, das Böse durch die Schönheit auszumerzen, sich an der Erziehung des neuen Menschen zu beteiligen, des guten, ehrlichen, gerechten Menschen, der den Frieden liebt und offen gegenüber der Welt und den anderen Menschen ist. So lebt Karol in einer immer stärkeren Spannung - der Spannung zwischen dem Priestertum der Kunst und dem Priestertum der Kirche, zwischen Kotlarczyk und Tyranowski, zwischen seinem Spiel auf der Bühne und seinem Spiel als Hirte“ (S. 38). Karol Wojtyla war vom Theater fasziniert, er sah es gemäß seinem Lehrmeister, dem Theosophen Mieczyslaw Kotlarczyk, als eine außergewöhnliche Möglichkeit des Ausdrucks in Mimik und Sprache. Der Schauspieler ist ein „Priester der Kunst, der dazu berufen ist, die ihn umgebende Welt umzugestalten“. Dabei geht es der Anthroposophie besonders um ein tieferes Verständnis des Menschen jenseits der jeweiligen kulturellen und auch religiösen Eigenart des Einzelnen. Rudolf Steiner führt das in einem Vortrag zum Markus-Evangelium aus:

„Was wird kommen, wenn sich so die einzelnen Bekenner der verschiedenen Religionssysteme verstehen werden, wenn der Christ zum Buddhisten sagen wird: Ich glaube an deinen Buddha, wie du an deinen Buddha glaubst, - und wenn der Buddhist zum Christen sagen wird: Ich kann das Mysterium von Golgatha verstehen, wie du selbst es verstehst, - was wird kommen über die Menschheit, wenn so etwas allgemein werden wird? Friede wird kommen über die Menschen, gegenseitige Anerkennung der Religionen. Und die muss kommen. Und die anthroposophische Bewegung muss sein ein solches gegenseitiges wahrhaftes Erfassen der Religionen. Und gegen den Geist der Anthroposophie wäre es, wenn ein Christ, der Anthroposoph geworden wäre, zum Buddhisten sagen würde: Es ist nichts mit dem, dass der Gotama, nachdem er ein Buddha geworden ist, sich nicht wieder verkörpern sollte; er muss im zwanzigsten Jahrhundert wiedererscheinen als physischer Mensch. Da würde der Buddhist sagen: Hast du deine Anthroposophie nur dazu, um meine Religion zu verhöhnen? Und an Stelle des Friedens würde der Unfriede unter den Religionen gezüchtet. So aber müsste auch ein Christ zu einem Buddhisten, der von einem zu verbessernden Christentum sprechen wollte, sagen: Wenn du behaupten kannst, dass das Mysterium von Golgatha ein Fehler sei und dass der Christus wiederkommen sollte in einem physischen Leibe, damit es ihm jetzt besser ergehe, dann bemühst du dich nicht, meine Religion zu verstehen, dann verhöhnst du meine Religion. - Anthroposophie aber ist nicht dazu da, dass ein Religionsbekenntnis, ob altes oder neu gestiftetes, das sich Geltung verschafft, verhöhnt werde; denn sonst würde man eine Gesellschaft gründen auf gegenseitiges Verhöhnen und nicht auf gegenseitigen Ausgleich der Religionen“ (Rudolf Steiner, Das Markus-Evangelium, Ein Zyklus von zehn Vorträgen, Bern, 5.-24. September 1912, RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV http://anthroposophie.byu.edu 4. Auflage 2010, S 64f).

Im System der Anthroposophie löst sich der Glaube im Verstehen des anderen auf. Er behält somit keine inhaltliche Bedeutung mehr im objektiven Sinne. Er kann und darf deswegen für dem anderen gegenüber keinen Anspruch mehr stellen– sondern der Anspruch gilt immer nur für einen selbst.

Der Schauspieler Karol Wojtyla war von den Gedanken der Anthroposophie geprägt worden, ehe er ins Seminar eintrat. Und da er schon nach zwei Jahren zum Priester geweiht wurde, stellt sich die Frage: Kann man innerhalb von zwei Jahren Philosophie und Theologie studieren? Ganz sicher nicht, in dieser kurzen Zeit kann man sich höchstens ein paar Grundbegriffe aneignen. Aber wollte Karol Wojtyla das überhaupt, studieren im klassischen Sinne des Wortes? D.h. die scholastische Philosophie und die katholische Theologie studieren? Gegenüber André Frossard bekannte Johannes Paul II.: „Das Konzil hat mir geholfen, eine Synthese meines persönlichen Glaubens vorzunehmen. …Der Glaube unterwirft die Intelligenz keinerlei Zwängen, er zwingt sie nicht in ein System festgelegter Wahrheiten“ (S. 63). „Ich denke nicht, daß mein Glaube als traditionell bezeichnet werden kann... mein Glaube, oder, wenn Sie so wollen, mein Theismus ist... von A bis Z die Frucht meines eigenen Denkens und meiner persönlichen Wahl …Er wurde in der Tiefe meines Ichs geboren, er war auch die Frucht meiner Anstrengungen, meines Geistes, der eine Antwort auf das Mysterium des Menschen und der Welt suchte“ (S. 39) („N‘ ayez pas peur“ [„Habt keine Angst“], Laffont 1982).

Eines ist an dem Lebenslauf Wojtylas noch besonders auffallend: dieser durch und durch moderne Mensch hat mit einer erstaunlichen Zielsicherheit die Karriereleiter der Kirche bis zu ihrer höchsten Spitze erstiegen. Weswegen nur die große Eile?

Der Visionär

Mit der Wahl zum Papst der Konzilskirche hatte Karol Wojtyla die Möglichkeit, seine Vision von Glauben, Erlösung und Kirche der Weltkirche aufzuzwingen. Wir müssen jetzt diesem Gedankengebäude auf den Grund gehen, sonst können wir das während der Amtszeit Geschehene nicht wirklich begreifen. Und 27 Jahre Johannes Paul II. – eine ganze Generation – haben die Kirche endgültig verwandelt! Was Paul VI. mit seinem Konzil und der Liturgiereform grundgelegt hat, hat Johannes Paul II. zielstrebig vollendet. In seiner Antrittsenzyklika „Redemptor Hominis“ bekennt er: „Mit starkem Vertrauen auf den Geist der Wahrheit will ich also das reiche Erbe der letzten Pontifikate antreten. Dieses Erbe hat im Bewußtsein der Kirche auf völlig neue, bisher noch nicht gekannte Weise tiefe Wurzeln geschlagen durch das Werk des 2. Vatikanischen Konzils, das von Papst Johannes XXIII. einberufen und eröffnet und dann von Papst Paul VI. glücklich abgeschlossen und mit Ausdauer im Leben der Kirche verwirklicht worden ist... Was der Geist der Kirche heute durch das Konzil sagt, was er in dieser Kirche allen Kirchen sagt (Apk 2,7), dient ganz gewiß - trotz einiger gelegentlicher Unruhe - dem Ziel, dem ganzen Volk Gottes im Bewußtsein seiner Heilssendung einen noch festeren Zusammenhalt zu geben“ (RH 3,1).

Johannes Paul II. steht ganz auf dem Boden der Nouvelle Theologie, der neuen Theologie des Neomodernismus. Wir haben schon zu Beginn unserer Themenreihe darauf hingewiesen, daß durch den Verzicht des 2. Vatikanums auf die scholastische Sprache faktisch, gleichsam ganz offiziell, aber beinahe völlig lautlos und beinahe unbemerkt die Schleusen für die „Neue Theologie“ geöffnet wurden. Die „Neue Theologie“ setzt den Traditionsbruch schon voraus, denn nur dadurch wird der theologische Neuaufbruch des Konzils erst möglich und der von jetzt an legitime Pluralismus der „Neuen Theologien“. Denn die „Neue Theologie“ ist aufgrund ihrer Ansätze in einer Vielzahl moderner Philosophien und geistigen Strömungen ihrem Wesen nach pluralistisch. Mit Johannes Paul II. unternimmt ein Vertreter dieser „Neuen Theologie“ den Versuch, die Lehre der Kirche auf den Grundlagen dieser Theologie(n) neu zu interpretieren. Damit steht jedoch der Katholik vor einer grundlegenden Schwierigkeit. Jede „Neue Theologie“ ist immer auch ganz eigen, in gewissem Sinne singulär, einmalig, denn jeder moderne Theologe hat seine eigene Sprache, seine eigene Vorlieben, seine besonderen originären (meist häretischen) Ideen, weshalb sie vom katholischen System her nicht mehr einfachhin verstanden werden können. Da sie nicht aus dem katholischen System hervorgeht, kann sie auch nicht mehr aus ihm verstanden werden. Was geschieht aber, wenn ein „Papst“ seine „Lehr“schreiben in einer Sprache der „Neuen Theologie“ verfasst? „Lehr“schreiben, die immer wortreicher, ausufernder, unüberschaubarer werden? „Damit stehen wir vor dem hermeneutischen Problem, päpstliche Lehrschreiben von den Voraussetzungen der individuellen Theologie und Sprache des Autors her zu interpretieren“, wie es Johannes Dörmann (II./1 S 18) formuliert. Und dieses Problem erweist sich genau besehen als Zirkelschluß. Denn ein lehramtliches Schreiben sollte doch seinem Wesen nach, aus sich selbst heraus verständlich sein, denn nur so kann es auch Verbindlichkeit objektiv zum Ausdruck bringen.

Wenn Karol Wojtyla seine ganz persönlichen, in keiner kirchlichen Tradition mehr wurzelnden Gedanken, zum Papst der Konzilskirche geworden, zu lehramtlichen Darstellungen der Kirche macht, dann wird es für einen Katholiken unmöglich, dieses Gedankengebäude als Grundlage seines Glaubens anzunehmen, weil er zunächst gar nicht verstehen kann, was dieser genau meint. Er müßte sich ja vorher in die „Neue Theologie“ Karol Wojtylas einarbeiten, um beurteilen zu können, wie er welche Begriffe verwendet oder auf welche modernen Theologen er sich stützt, usw. Johannes Dörmann weist zudem noch darauf hin: „Überdies ist die Theologie Johannes Pauls II. wegen der Besonderheit der Sprache, des meditativen Charakters der Darlegungen, der assoziativ-kreisenden Gedankenführung, der unterschiedlichen Zwecke der Verlautbarungen, der heterogenen Fülle von Stoff und Themen, des Mitführens traditionellen Sprach- und Gedankengutes, das aber auf der Grundlage und im Kontext der Nouvelle Theologie insgesamt eine Sinn-Mutation erfährt, nicht leicht in ihrer Struktur und Ganzheit zu erkennen“ (Dörmann II./1 S 15).

Es ist das große Verdienst Johannes Dörmanns, die philosophisch-theologischen Grundlagen des Denkens Karol Wojtylas aufgearbeitet und systematisch dargestellt zu haben. Leider wurde diese enorme Leistung Johannes Dörmanns nur von wenigen wahrgenommen und von noch wenigeren wurde das erarbeitete Ergebnis in seiner ganzen Brisanz verstanden. Denn die Tragweite und die Auswirkungen dieses neuen Denkens sind gewaltig. Durch das 27-jährige Wirken Wojtylas in Wort und Tat hat in der katholischen Welt eine Bewußtseinsänderung stattgefunden, eine Bewußtseinsänderung, die den allerwenigsten „Katholiken“ überhaupt bewußt geworden ist. Aber ist das ja gewöhnlich bei Bewußtseinsänderungen so, die große Masse nimmt davon gar nichts wahr.

Johannes Dörmann hat 4 Bände über das Thema „Der theologische Weg Johannes Pauls II. zum Weltgebetstag der Religionen in Assisi“, Sitta Verlag, geschrieben (in der Folge immer einfach mit Dörmann und der entsprechenden Nummer des Bandes zitiert), wobei selbst in diesem recht ausführlichen Werk vieles nur angedeutet werden konnte. Man müßte wohl nochmal mindestens 4 Bände schreiben, um das aufzuarbeiten, was Dörmann oft so nebenbei nur angedacht hat. Das ist natürlich in diesem Rahmen unmöglich. Wir müssen darum sozusagen das fast Unmögliche wagen und versuchen, auf wenigen Seiten den Hauptgedanken der Theologie Wojtylas zur Darstellung zu bringen und sein „Pontifikat“ stichpunktartig zu charakterisieren.

Das Denken Johannes Paul II. wurzelt ganz im 2. Vatikanischen Konzil – oder soll man es, kann man es womöglich sogar umgekehrt sagen? Doch würde es wiederum viel zu weit führen, den Einfluß des Konzilsvaters Karol Wojtyla auf die einzelnen Konzilstexte zu erforschen und aufzuzeigen, so daß man womöglich sagen kann, Johannes Paul II. liest nur das aus den Konzilstexten heraus, was er vorher als Karol Wojtyla hineingeschrieben hat oder hineinscheiben hat lassen. Jedenfalls geht Johannes Paul II. mit einer erstaunlichen Zielstrebigkeit und Sicherheit auf ganz bestimmte Konzilstexte zu, denen er ihren zunächst noch verborgen erscheinenden Sinn sodann gekonnt entwindet. Wobei er zwischen den verschiedenen Texten einen Zusammenhang sieht und fast spielerisch leicht herstellt, der einen oftmals in Erstaunen setzt. Johannes Dörmann hebt hervor: „Der Kardinal eruiert aus den Dokumenten des 2. Vatikanums Zug um Zug 'die Lehre des Konzils' und stellt sie als eine in sich geschlossene, große theologische Gesamtkonzeption dar. Mir ist nicht bekannt, daß ein anderer Bischof einen ähnlichen Versuch überhaupt gewagt hätte. … Bekanntlich war Bischof Wojtyla als Konzilsvater selber an der Abfassung von Konzilsdokumenten rege beteiligt, hatte mit führenden Konzilstheologen engen Kontakt und war deshalb auch mit der Intention der von ihm interpretierten Konzilstexte bestens vertraut. Er selber versteht sich als 'authentischer Konzilszeuge'. Er ist natürlich davon überzeugt, daß seine Interpretation den Sinn der Konzilstexte zutreffend wiedergibt. Er identifiziert sich vollständig mit der von ihm aus den Konzilsdokumenten eruierten 'Lehre des Konzils'. Man darf sagen: Was er aus den Texten des 2. Vatikanums als die 'Lehre des Konzils' herausliest und als theologische Gesamtschau des Konzils darstellt, ist die Theologie Karol Wojtylas. Er ist als Bischof und als Papst voll und ganz Theologe des 2. Vatikanums“ (II/3 S 11f).

Das 2. Vatikanum ist für Karol Wojtyla kein Konzil wie die anderen. Er schreibt diesem einen ganz außerordentlichen Stellenwert im Rahmen der Konziliengeschichte zu. Diesem Faktum wurde viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, dabei ist es ganz wesentlich zum Verständnis seiner Schriften. Er nennt noch als Kardinal das 2. Vatikanum ein „Mysterium“! Wann wurde jemals ein Konzil der Kirche als Mysterium bezeichnet? Was sollte an einer Klärung der Glaubenslehre geheimnisvoll sein, denn das ist doch die wesentliche Aufgabe eines Konzils? Dennoch geht Karol Wojtyla soweit zu behaupten, der Bischof, der als „authentischer Konzilszeuge“ das „Mysterium“ kenne, habe nun auch die Pflicht, das Volk Gottes in das „Konzilsmysterium“ einzuführen – oder sollte man nicht fast treffender formulieren, einzuweihen? Diese „Einführung“ bezeichnet er nämlich als „Initiation“. Diese „Initiation“ bewirke, so behauptet er weiter, die „Teilhabe am Mysterium“. Johannes Dörmann meint: „Diese ungewöhnliche Redeweise erklärt sich aus dem spezifischen Konzilsverständnis des Kardinals“ – dem möchten wir doch noch erweiternd hinzufügen: Diese ungewöhnliche Redeweise erklärt sich wohl noch viel besser aus der Logenzugehörigkeit des Kardinals. Aber was ist nun das Mysterium, von dem der Kardinal spricht?

Nach Karol Wojtyla hat der Heilige Geist auf dem 2. Vatikanum unmittelbar zu den Konzilsvätern gesprochen. Ja, diese haben direkt das Wort des Heiligen Geistes vernommen, es in menschliche Worte gefaßt und sodann der Welt kundgetan. Als ein solchermaßen verbürgtes „Wort des Heiligen Geistes“ hat die Botschaft des Konzils unmittelbaren Offenbarungscharakter. Wojtyla verwechselt hier offensichtlich Unfehlbarkeit mit Inspiration und hebt infolgedessen die Konzilstexte auf die Ebene der Heilige Schrift, er macht sie zu einem Wort Gottes! Ganz in diesem Sinne ist dann auch das 2. Vatikanum ein wahres „Zweites Pfingsten“. Wie damals, beim Ersten Pfingsten, der Heilige Geist auf Maria und die Apostel im Abendmahlssaal herabgekommen ist, ebenso sei er beim Zweiten Pfingsten auf die Konzilsväter herabgekommen, um diese in die von Christus verheißene „volle“ oder „ganze Wahrheit“ einzuführen. Wobei die „ganze Wahrheit“ in der Sprache des Kardinals eine „Glaubensbereicherung“ bedeutet, die der alte Glaube der Kirche angeblich durch das Wort des Heiligen Geistes auf dem 2. Vatikanum erfahren haben soll und die in der „Lehre des Konzils“ ihren entsprechenden Ausdruck gefunden habe. Allen Zweiflern am Mysterium des Konzils und dem neuen radikal-ökumenischen Weg der Kirche, hält Johannes Paul II. entgegen: „Allen denen, die aus irgendeinem Grund die Kirche von der Suche nach der universalen Einheit der Christen abbringen möchten, muß ich noch einmal wiederholen: Ist es erlaubt untätig zu bleiben? Dürfen wir - trotz aller menschlichen Schwachheit, trotz der Unzulänglichkeiten der vergangenen Jahrhunderte - der Gnade unseres Herrn mißtrauen, die sich in der letzten Zeit geoffenbart hat durch das Wort des Heiligen Geistes, das wir während des Konzils vernommen haben? Würden wir so handeln, leugneten wir die Wahrheit über uns selbst, die der Apostel auf so beredte Weise ausgedrückt hat: ‚Durch die Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir blieb nicht ohne Wirkung‘ (1 Kor 15,10)“ (RH 6,2). Wer könnte da noch etwas einwenden, der würde ja „der Gnade unseres Herrn mißtrauen, die sich in der letzten Zeit geoffenbart hat durch das Wort des Heiligen Geistes, das wir während des Konzils vernommen haben“?

Das neue Lehramt

Diese ganz und gar charismatische Interpretation des Konzils als ein Neues Pfingsten sollte man nicht einfach übergehen und als womöglich etwas ungewöhnliche persönliche Idee Wojtylas abtun. Hinter diesem Gedanken verbirgt nämlich viel mehr. Er bedeutet eine neue Art der Auffassung des Lehramtes der Kirche – und damit natürlich der Kirche selbst, beides ist unlösbar miteinander verbunden. Das Lehramt ist für Karol Wojtyla nicht mehr im katholischen Sinne unfehlbar, sondern in einem charismatischen Sinne. Während das unfehlbare Lehramt der Kirche zur Bewahrung des göttlichen Glaubens von Jesus Christus eingesetzt wurde, ist das charismatische Lehramt ein Prophetenamt, das neue Wege auftut, also Offenbarungscharakter hat. Das charismatische Lehramt promulgiert nicht nur einen Text, der von Irrtümern frei ist, sondern einen, der selbst wieder Wort Gottes und Offenbarung ist. Für Johannes Paul II. ist das 2. Vatikanum nicht irgendein Konzil der Kirche, sondern es ist einfachhin die Stimme des Heiligen Geistes! Johannes Dörmann stellt fest: „Indem er dem erklärt pastoralen Konzil die denkbar höchste Lehrautorität zuschreibt und unmittelbar mit der Lehrautorität seines Petrusamtes verbindet, erhebt er auch für seine Nouvelle Theologie als Darstellung der Lehre des Konzils einen geradezu absoluten Anspruch“ (Dörmann II./1 S19). Und an einer anderen Stelle, an der er über das „Zweite Pfingsten“ und die Neugeburt der Kirche auf dem Fundament der Lehre des Konzils spricht: „Damit hat Kardinal Wojtyla den aus seiner Sicht einzigartigen dogmatischen Rang des Zweiten Vatikanums in der Konziliengeschichte herausgestellt“ (Dörmann II/3 S 13). Das Wort „einzigartig“ ist zwar ganz und gar richtig, aber eigentlich in diesem Fall ein Euphemismus, denn welches Konzil der Kirchengeschichte hat jemals beansprucht, wie die Heilige Schrift inspiriertes Wort Gottes zu sein!

Es ist jedenfalls unmittelbar einleuchtend, da für Karol Wojtyla das 2. Vatikanum „Wort Gottes“ ist, also – geheimnisvoller Weise (?) – ein neues Offenbarungswort, so ist es eine Erweiterung des kirchlichen Horizontes hin auf die „volle“ oder „ganze Wahrheit“, also eine „Glaubensbereicherung“.

Hier wollen wir kurz inne halten, um einen klärenden Blick auf die Lehre der Kirche zu werfen. Jedem Katholiken müßte an sich klar sein, daß es in der katholischen Kirche keine Bereicherung des Glaubens mehr geben kann und zwar in dem Sinne, daß neue Wahrheiten hinzukämen. Mit dem Tod des letzten Apostels ist die Offenbarung abgeschlossen, d.h. es ist wesentlich alles gesagt, der Glaubensschatz ist die der Kirche anvertraute göttliche Tradition, gemäß dem Wort des hl. Paulus: „Vor allem habe ich euch überliefert, was ich selbst empfangen habe“ (1Kor 15, 3). „Bereicherung“ kann es darum nur noch in dem Sinne geben, daß bestimmte Wahrheiten besser, klarer, ausdrücklicher erkannt und geglaubt werden. Eine inhaltliche Bereicherung des Glaubens dagegen ist unmöglich. Es gibt keine „neuen“ Wahrheiten im Glauben mehr. Vielmehr waren die „neuen Wahrheiten“ zu allen Zeiten die Irrtümer von gestern.

Wenn aber das 2. Vatikanum nach Johannes Paul II. „Wort Gottes“ ist, ein echtes Offenbarungswort, dann ist damit doch wohl auch gemeint, daß es eine wahre Glaubensbereicherung in dem Sinne ist, daß es Neues offenbart hat, Neues, was bisher noch nicht von der Kirche geglaubt wurde.

Das Konzil als Glaubensbereicherung

Wie meint also Karol Wojtyla seine Aussage, durch das Konzil habe eine „Glaubensbereicherung“ stattgefunden? Zu Beginn seines Buches „Quellen der Erneuerung. - Studie zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils“, gibt Wojtyla die Klärung des Begriffes der „Glaubensbereicherung“ (S.19): „An den Ausgangspunkt der Verwirklichung des Zweiten Vatikanums, das heißt der konziliaren Erneuerung, muß man das Prinzip der Glaubensbereicherung stellen. Dieses Prinzip ist zugleich ein Postulat, und es bedarf in beider Hinsicht, als Prinzip und als Postulat der Verwirklichung des Konzils, von Anfang an einer Klärung. Diese Klärung besteht gewissermaßen im Faktum des Konzils selbst, in seiner wesentlichen Zielsetzung.“

In der Folge führt Wojtyla diese These noch weiter aus. Zusammenfassend kann man sagen, daß vor allem drei Aspekte zu beachten sind – hören wir dazu Dörmann (II./3 S 14f):

„a) Das „Prinzip der Glaubensbereicherung“ ist als Bereicherung des Glaubens natura sua ein dogmatisches Prinzip. „Als die immer vollkommenere Teilhabe an der göttlichen Wahrheit“ ist es zugleich ein geschichtlich-dynamisches Prinzip. Als Prinzip, das vor allem durch die stufenweise Bereicherung des Glaubens „den Vorgang der Selbstverwirklichung der Kirche“ bestimmt, ist es ein ekklesiologisches Prinzip.
b) Die „Glaubensbereicherung“ ist zugleich ein „Postulat“. Das bedeutet: Das dogmatische Prinzip der „Glaubensbereicherung“ ist im Glaubensleben der Kirche pastoral zu verwirklichen.
c) Die „Glaubensbereicherung“ als dogmatisches Prinzip und pastorales Postulat ist gewissermaßen identisch mit dem Faktum und Ziel des Konzils selbst. Das bedeutet: Das 2. Vatikanum war primär ein dogmatisches Konzil mit dem Ziel der „Glaubensbereicherung“ in Lehre und Leben der Kirche.“

Es sei hier darauf hingewiesen, daß sich damit die ursprüngliche Selbstdarstellung des Konzils als ein pastorales – auf geheimnisvolle Weise (?) – vollkommen wandelt. Das Konzil als Wort Gottes und als Glaubensbereicherung hat einen eminent dogmatischen Sinn und auch eine dogmatische Zielsetzung. Es will die Lehre der Kirche erweitern – was das zunächst auch immer heißen mag.

In seinem schon erwähnten Buch „Quellen der Erneuerung. - Studie zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils“ findet sich folgende Zusammenfassung des Begriffs der Glaubensbereicherung mit einer weiteren wichtigen Präzisierung (S. 22):
„Kurz, die Glaubensbereicherung, die wir für das Grundpostulat der Verwirklichung des Konzils halten, ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: als Bereicherung des Glaubensinhalts, der in der Lehre des Konzils enthalten ist, und als Bereicherung - die sich aus dem Inhalt ergibt - des ganzen Daseins des glaubenden Menschen, der der Kirche angehört. Diese Glaubensbereicherung im objektiven Sinn, die eine neue Etappe auf dem Weg der Kirche zur 'Fülle der göttlichen Wahrheit' darstellt, ist gleichzeitig Bereicherung im subjektiven, menschlichen, existentiellen Sinn. Eben von diesem letzteren erwartet man die gewünschte Verwirklichung am meisten. Das Pastoralkonzil hat in der 'Pastoralität' der Kirche - Pastoralität im weitesten Sinn verstanden - ein neues Kapitel eröffnet.“

Die „Glaubensbereicherung“ durch das Konzil hat somit nach Wojtyla zwei Seiten. Sie umfaßt sowohl den objektiven Glaubensinhalt, als auch den subjektiven Glaubensakt. Mit dem objektiven Akt – das Konzil als neues Wort Gottes und neue Offenbarung – hat auch der subjektive Glaube eine Bereicherung erfahren. Beides kommt in der „Lehre des Konzils“ zum Ausdruck und beides drängt nun zur Verwirklichung. Der neue Glaube des 2. Vatikanums besteht nach Kardinal Wojtyla (vgl. „Quellen der Erneuerung. - Studie zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils“ S. 29-42) besonders in der „Erklärung über die Religionsfreiheit“ sowie der ökumenischen und interreligiösen Dialogbereitschaft. Die Basis für diesen neuen Glauben ist wiederum – Dörmann erarbeitet das in seinen 4 Bänden gründlich und ausführlich – der Glaube an die Allerlösungslehre.

Die Allerlösungslehre

Wir haben schon von der Zielsicherheit Karol Wojtylas gesprochen, wenn es darum geht, Texte aus dem 2. Vatikanum ausfindig zu machen, die seine ganz persönliche Interpretation des Konzils stützen sollen. Ein Schlüsseltext, auf den er in seinen Schreiben mehrmals zurückkommt, ist folgende Passage aus der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (22,1-2), nach seinen Worten ein „wundervoller Text des konziliaren Lehramtes“:

„Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung ...
Der ‚das Bild des unsichtbaren Gottes‘ (Kol 1,15) ist, er ist zugleich der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war. Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden. Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich, außer der Sünde.“

Im Anschluß an diesen Text stellen die Konzilsväter das österliche Werk der Erlösung dar, das Gott an den Christgläubigen wirkt, und schließen mit der Feststellung (Gaudium et Spes 22,5): „Das (Gesagte) gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist, und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, daß der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.“

Es ist allgemein anerkannt, daß in die Texte des 2. Vatikanums die Lehre Karl Rahners S.J. vom „Anonymen Christentum“ eingeflossen ist. Rahner schreibt: „Gott und Christi Gnade sind in allem als geheime Essenz aller wählbaren Wirklichkeit... Wer darum (auch noch fern von jeder Offenbarung expliziter Wortformulierung) sein Dasein, also seine Menschheit, annimmt, der sagt, auch wenn er es nicht weiss, zu Christus Ja“ (Karl Rahner, „Zur Theologie der Menschwerdung“, S. 154; Zitat entnommen aus „Gethsemani“ von Kardinal Siri, S. 88/89).

Kardinal Siri geht auf diese Lehre Rahners in seinem Buch „Gethsemani“ näher ein und zieht daraus den notwendigen Schluß: „Aus all dem folgt - in scharfsinniger Umschreibung vielleicht, aber doch klar erkennbar - die Nutzlosigkeit des Glaubensaktes ... Der Akt des Glaubens wird nutzlos, weil in meinem Wesen Gott da ist. ... Wenn für mich mein Wesen anzunehmen schon allein gleichbedeutend ist mit der Annahme Christi, dann hat der Akt des Glaubens keinen Sinn“ (Kardinal Siri, „Gethsemani - Überlegungen zur theologischen Bewegung unserer Zeit“, Pattloch Verlag, S. 89).

Diese Lehre Rahners aufgreifend, zieht Karol Wojtyla die notwendigen Konsequenzen daraus und formt aus dem Ganzen eine neue Lehre, die er als „Papst“ der „Kirche des Konzils“ überstülpt – durch Wort und Tat! Wenn alle Menschen anonyme Christen sind und wenn der Glaubensakt keine Bedeutung hat, dann sind auch alle Menschen immer schon erlöst, sie wissen es nur noch nicht, denn „er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“. Deswegen muß man bekennen: „Das (Gesagte) gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt.“

Im Jahre 1976 hat Kardinal Wojtyla vor Paul VI. und dessen engsten Mitarbeitern Exerzitienvorträge gehalten, die unter dem Titel „Zeichen des Widerspruchs – Besinnung auf Christus“ 1979 im Herder-Verlag veröffentlicht wurden. Diese Exerzitienvorträge sind keine frommen Anmutungen, wie Johannes Dörmann feststellt, sondern eine große theologische und spirituelle Betrachtung, der Versuch einer neuen Gesamtschau des Glaubens. In einem dieser Vorträge spricht Karol Wojtyla folgendermaßen von der Realisierung des göttlichen Heilsplanes in der Geschichte (S. 103): „Es gibt in der Geschichte einen Punkt, an dem alle Menschen gleichsam neu entworfen werden und eine neue Bahn einschlagen, dem Plan gemäß, den der Vater in der Wahrheit des Wortes und im Geschenk der Liebe vorbereitet hat. Es gibt einen Punkt, an dem die Geschichte des Menschen neu beginnt, unabhängig, wenn man so sagen darf, von menschlichen Vorgegebenheiten. Dieser Punkt gehört der göttlichen Ordnung, der göttlichen Sicht des Menschen und der Welt an. Die menschlichen Kategorien der Zeit und des Raumes sind fast ganz nebensächlich. Alle Menschen seit dem Beginn und bis zum Ende der Welt sind von Christus durch sein Kreuz erlöst und gerechtfertigt worden.“

Kardinal Wojtyla unterscheidet nicht mehr zwischen dem allgemeinen göttlichen Heilswillen und der Heilswirklichkeit – jeder Mensch muß das Heil ergreifen, indem er den Glauben annimmt und sein Leben den Geboten Gottes entsprechend führt – für ihn gilt ohne Wenn und Aber: Alle Menschen seit dem Beginn und bis zum Ende der Welt sind von Christus durch sein Kreuz erlöst und gerechtfertigt worden. Damit ist gesagt: Nach der göttlichen Ordnung ist schon Adam „a priori“ – also von vornhinein, immer schon – erlöst und gerechtfertigt. Schon Adam existiert „in Christus“ und er besitzt schon ein „Sein in Christus“, oder mit Karl Rahners Worten ausgedrückt: Schon Adam ist ein anonymer Christ.

Wir dürfen nicht vergessen, es geht hier um eine fundamentale Wahrheit der katholischen Glaubens: die Erbsündenlehre. Adam hat infolge der Erbsünde die heiligmachende Gnade und die praeternaturalen Gaben verloren. Seine übernatürliche, gnadenhafte Gottebenbildlichkeit wurde dadurch zerstört und das natürliche Abbildsein Gottes verwundet, wie man es ausdrückt. Diese Verwundung zeigt sich in Krankheit und Tod, in der Schwächung des Willens und der Verdunkelung der Erkenntniskraft. Durch das Blut Christ wird der Mensch objektiv erlöst, d.h. jeder Mensch kann aufgrund der Erlösungsgnade gerettet werden. Aber diese objektive Erlösung muß sich der Mensch aneignen durch den Glauben an Jesus Christus, durch den er gerechtfertigt und in den Zustand der Gotteskindschaft zurückversetzt wird. Kardinal Wojtyla lehrt etwas ganz anderes: Niemals erwähnt er, daß durch die Erbsünde die ursprüngliche Gerechtigkeit verloren gegangen und das „Bild und Gleichnis Gottes“ zerstört worden wäre. Er behauptet im Gegenteil, dieses Bild und Gleichnissein des Menschen sei „unzerstörbar“ vorhanden (Redemptor Hominis 13,3): „Der erste, grundlegende Bund Gottes mit der Menschheit ist zwar infolge der Ursünde ‚zerstört‘, aber deswegen hat der Mensch seine Würde als ‚Bild und Gleichnis Gottes‘ nicht verloren.“ Oder noch etwas klarer und direkter in seinen Exerzitienvorträgen: „Der Mensch existiert ‚in Christus‘, und zwar nach dem ewigen Heilsplan Gottes von Anfang an; doch durch den Tod und die Auferstehung ist dieses ‚Sein in Christus‘ zu einer geschichtlichen, in Raum und Zeit verwurzelten Tatsache geworden“ (S. 108f).

Das heißt also: Diese in Adam schon immer gegebene, ontologisch (seinsmäßig) a priori geschenkte Erlösung, wird a posteriori – also im nachhinein – in der Geschichte der Menschheit zu einer in Raum und Zeit verwurzelten Tatsache, indem sich immer mehr Menschen ihrer Erlösung bewußt werden.

An einer anderen Stelle sagt der Kardinal (S.182): „Die Sendung der göttlichen Personen an die Menschheit ist nicht nur Offenbarung, sondern auch Heilstat, die das Menschengeschlecht zum Gottesvolk macht.“ Deswegen kann Wojtyla auch, ohne zu zögern und irgendwelche theologischen Unterscheidungen einzufügen, der Kirche und zugleich jedem Menschen zurufen: „‘Seht, der Bräutigam ist bei euch!‘ Die Kirche hat diesen Ruf gehört und ist innegeworden: Christus ist bei uns, der Bräutigam ist bei uns! Er ist bei der Kirche, er ist bei jedem Menschen und bei der ganzen Menschenfamilie“ (S.110).

Wenn die katholische Theologie über das Geheimnis der Erlösung im Bild von Bräutigam und Braut spricht, so fügt sie immer auch eine erklärende Unterscheidung bei und spricht von der objektiven und der subjektiven Erlösung. Denn auch wenn die Inkarnation als Vermählung der Göttlichen Wortes mit der menschlichen Natur dargestellt wird und das ganze Menschengeschlecht alleine aufgrund der Menschwerdung als „Braut Christi“ bezeichnet wird, so weiß doch jeder Katholik, daß es sich um eine erlösungsbedürftige „Braut“ handelt, die mit der Erbsünde behaftet ist. Die wahre, erlöste von jedem Makel der Sünde befreite, im Blute Christi reingewaschene Braut ist nur die Kirche Christi. Dem entgegenstehend dehnt Karol Wojtyla das bräutliche Liebesverhältnis einfach auf jeden Menschen und die ganze Menschenfamilie aus. Die ganze Menschheit erscheint gleichwie die Kirche als Braut Christi, die von der Erlöserliebe Christi erwählt wurde, was wiederum auf eine subtile Weise die These der Allerlösungslehre einschließt.

Die These der Allerlösung ist kein für sich stehender Irrtum, sondern sie verändert die ganze Lehre der Kirche. Darum muß auch nach Johannes Paul II. die Kirche verändert, d.h. der neuen Offenbarung durch das 2. Vatikanum angeglichen werden. Ein wesentlicher Teil dieser Anpassung der Lehre ist die Neue Kirche, die aus dem 2. Vatikanum hervorgeht.

So sagt etwa Kardinal Wojtyla (S.58): „Die Bereicherung des Glaubens an die heiligste Dreifaltigkeit, die in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ans Licht gehoben wird, hängt mit der Sendung der göttlichen Personen zusammen. Diese Sendung richtet sich auf den Menschen, stellt die göttliche Realität der Kirche dar und bewirkt, daß die Kirche das Wissen um das Heil in sich trägt und sich bemüht, es in jeden Menschen, in die ganze Menschheitsfamilie eindringen zu lassen.“ Das durch die neue Offenbarung erhaltene Wissen um die Sendung der göttlichen Personen als eine Heilstat, die sich auf den Menschen schlechthin richtet und „die das Menschengeschlecht zum Gottesvolk macht“, läßt uns auch ahnen, wie die „göttliche Realität der Kirche“ verborgenerweise die ganze Menschheit umfaßt. Diese „Realität“ ist für Wojtyla sogar „die Grunddimension der Kirche“ (S.118f), woraus man schließen kann: Die ganze Menschheit ist die unsichtbare Kirche. Diese „Glaubensbereicherung“, die das Konzil „ans Licht gehoben“ habe, sei für das Selbstverständnis der Kirche des 2.Vatikanums fundamental, ja sie „stellt in gewissem Sinn den Höhepunkt des Wissens um die Kirche dar“ (vgl. S.55).

So kann Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Redemptor Hominis darlegen (RH 11,3): „Durch die Öffnung, die vom 2. Vatikanischen Konzil vollzogen wurde, konnten die Kirche und alle Christen zu einem vollständigeren Wissen um das Geheimnis Christi kommen, ‚das Geheimnis, das seit ewigen Zeiten verborgen war‘ (Kol 1,26) in Gott, um geoffenbart zu werden in der Zeit im Menschen Jesus Christus und um sich ständig jeder Zeit zu offenbaren. In Christus und durch Christus hat sich Gott der Menschheit vollkommen geoffenbart und sich ihr endgültig genähert. Gleichzeitig hat der Mensch in Christus und durch Christus ein volles Wissen um seine Würde, um seine Erhebung, um den transzendenten Wert des eigenen Menschseins und um den Sinn seiner Existenz erworben.“

Wenn es stimmt, daß jeder Mensch a priori und prinzipiell erlöst und gerechtfertigt ist, dann ist die Erlösung letztlich kein Gegenstand echt menschlicher Geschichte mehr, sondern ein Gegenstand des menschlichen Seins und das gnadenhafte „Sein in Christus“ ist keine Frage geschichtlicher Zuteilung und Entscheidung mehr, sondern allein des menschlichen Bewußtseins. Bekehrung wird somit zur Selbstfindung. Jeder Mensch soll sich „mittels der Offenbarung des Vaters und seiner Liebe“ bewußt werden, daß er ein erlöster Mensch ist. Glaube wird somit zu einem Bewußtseinsvorgang, der zur Aufhellung des tiefsten Menschseins des Menschen und der „Wahrheit über den Menschen und seine Würde“ führt.

Im Schreiben der Glaubenskongregation über die „Kirche als Communio“ formuliert Johannes Paul II. diesen Gedanken nochmals etwas anders: „Der Begriff Communio bzw. Gemeinschaft findet sich ‚im Herzen der Selbsterkenntnis der Kirche‘ und bezeichnet das Geheimnis der persönlichen Vereinigung jedes (sic!) Menschen mit der göttlichen Dreifaltigkeit und mit den anderen Menschen, die im Glauben ihren Ursprung hat und auf die eschatologische Erfüllung in der himmlischen Kirche ausgerichtet ist, welche aber gleichwohl schon in der Kirche auf Erden ihre anfängliche und vorläufige Verwirklichung findet“ (Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio; Art. 1,3 (L'Osservatore Romano, dt., 19. Juni 1992, S.7)).

Der Kirche ist nach Johannes Paul II. wesentlich die Aufgabe übertragen, den Menschen zu helfen, sich des Geheimnisses der Allerlösung bewußt zu werden. In dem Bewußtsein der Allerlösung findet die Menschheit zur immer schon von Gott geschenkten Einheit zurück. In seiner Enzyklika Dominum et Vivificantem (64,3) führt er aus: „Das II. Vatikanische Konzil fügt hinzu, daß die Kirche ‚das Sakrament ... für die Einheit der ganzen Menschheit‘ ist. Es handelt sich hier offensichtlich um die Einheit, die das Menschengeschlecht, das in sich selbst auf vielfältige Weise differenziert ist, von Gott und in Gott hat. Sie wurzelt im Geheimnis der Schöpfung und erhält im Geheimnis der Erlösung eine neue Dimension im Bezug auf das universale Heil. Weil Gott will, ‚daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen‘ (1 Tim 2,4), umfaßt die Erlösung alle Menschen und in gewissem Sinn die ganze Schöpfung. In derselben universalen Dimension der Erlösung wirkt kraft des ‚Fortgehens‘ Christi der Heilige Geist. Deshalb versteht sich die Kirche, die durch ihr eigenes Geheimnis in der trinitarischen Heilsordnung verwurzelt ist, selbst mit gutem Recht als ‚Sakrament ... für die Einheit der ganzen Menschheit‘. Sie weiß, daß sie dies ist in der Kraft des Heiligen Geistes, deren Zeichen und Werkzeug in der Verwirklichung des Heilsplanes Gottes sie darstellt.“

Wir wollen es bei diesem kurzen Überblick über die für einen Katholiken sicher recht befremdliche Lehre Karol Wojtylas, alias Johannes Paul II. von der Allerlösung belassen und einen Schritt weiter gehen. Denn Karol Wojtyla hat diese Gedanken durchaus nicht als bloße Sandkastenspiele gesehen, sondern als Postulat, als Aktionsprogramm für die Kirche des 2. Vatikanums. Das Ergebnis dieses Programms ist letztlich das interreligiöse Gebetstreffen von Assisi.