Kirchengeschichte oder Lügengeschichten?

Vor einigen Jahren fiel mir Walter Krämers und Götz Trenklers Lexikon der populären Irrtümer in die Hände, in dem die Autoren den Leser auf 356 Seiten über Irrtümer aufklären, die sich so allgemein verbreitet haben, daß sie von den allermeisten für wahr gehalten werden. In dem Werk wird etwa darauf verwiesen, daß der Sturm auf die Bastille, der Grund für den französischen Nationalfeiertag am 14. Juli, durchaus kein heroisches Ereignis war. Vielmehr war der Aufstand beim Pariser Luxusgefängnis am 14. Juli 1789 wohl eher ein Aufbegehren Pariser Vorstadtfrauen nach Brot, die hier reichhaltige Vorräte vermuteten. Genau weiß man nicht, was den Mob so aufbrachte und was er eigentlich wollte. Jedenfalls artete das Ganze in eine unkontrollierbare Gewaltorgie aus – und so gesehen ist der Sturm auf die Bastille durchaus für die ganze Revolution, die Millionen von Menschen das Leben kostete, bezeichnend.

Auch unter den Traditionalisten halten sich manch populäre Irrtümer, die inzwischen so oft wiederholt wurden, daß sie von einem Großteil auch ungeprüft geglaubt werden, vor allem wenn es um die Unfehlbarkeit der Päpste geht. Jüngst verwies Mgr. Richard Williamson in einem seiner „Eleison Kommentare“ wieder einmal auf das Beispiel des Papstes Liberius. P. Franz Schmidberger von der FSSPX unterließ es in seinem Vortrag gegen die Sedisvakantisten 2005 in Fulda natürlich nicht, das wohl populärste Beispiel des Papstes Honorius anzuführen. Ein Laie argumentierte vor einiger Zeit in einem Gespräch ganz spontan mit Bonifaz VIII., ein anderer berief sich in einem Brief auf den Papst Vigilius. Am weitestgehenden, unverantwortlichsten und jegliches Sentire cum ecclesia zerstörenden ist wohl im deutschen Sprachraum ein von der „actio spes unica“ / Hattersheim verbreiteter Vortrag des inzwischen verstorbenen DDr. Gregorius Hesse über „Die Fehlbarkeit der Päpste“.

Forscht man etwas eingehender in der Kirchengeschichte nach, so findet man zum eigenen Erstaunen (oder auch nicht), daß all diese Beispiele von vermeintlich irrenden Päpsten durchaus nicht neu sind, sondern schon früher von anderer Seite als Argumente gegen die kirchliche Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes gebraucht wurden, nämlich von den Protestanten, Gallikanern, Jansenisten und Altkatholiken.

Wobei durchaus zu beachten ist, daß ein grundsätzlicher Unterschied besteht, ob man solch kirchengeschichtliche Argumente vor dem Vatikanum (I) und der lehramtlichen Definition der Unfehlbarkeit des Papstes als Argumente heranzieht oder danach. Im Laufe des (Ersten und einzigen wahren) Vatikanischen Konzils wurden nämlich selbstverständlich all jene, gegen das Dogma der Unfehlbarkeit vorgebrachten Einwände aus der Kirchengeschichte ausgiebig geprüft und ihre Unhaltbarkeit aufgezeigt. Wer also nach dem Vatikanum (I) zu diesen Argumenten greift, der begeht einen grundsätzlichen methodischen Fehler, denn er interpretiert nicht mehr die Kirchengeschichte mit Hilfe des Dogmas, sondern umgekehrt das Dogma anhand der Kirchengeschichte. Zu einem solchen Vorgehen bemerkt der große deutsche Dogmatiker Heinrich:

„So wenig eine philosophische Wahrheit, eben so wenig kann eine geschichtliche Tatsache mit einem katholischen Dogma im Widerspruche stehen. Alle jene angeblichen Fälle häretischer Kathedralentscheidungen, welche je von den Gegnern des Papsttums und seines infallibeln Lehramtes vorgebracht wurden, sind demnach falsch und unbegründet. Dieses steht für den Gläubigen von vornherein mit Glaubensgewißheit fest; es läßt sich aber auch wissenschaftlich nachweisen und ist längst mit genügender historischer Gewißheit nachgewiesen. Sollte aber selbst eine historische Schwierigkeit wegen Mangels an Quellen, Unkenntnis der näheren Umstände oder aus irgend einem anderen wissenschaftlichen Defecte je zu einer Zeit nicht vollkommen lösbar sein, so könnte dieses weder die Glaubensgewißheit, noch die vernünftige Glaubwürdigkeit unserer dogmatischen Wahrheit beeinträchtigen. Der historischen Wissenschaft aber die Entscheidung über die päpstliche Unfehlbarkeit zusprechen, ist vollendete Leugnung der Unfehlbarkeit der Kirche und der ganzen übernatürlichen Ordnung, purer Naturalismus und Rationalismus.“
(J.B. Heinrich, Dogmatik Band II, S. 421)

Obwohl also der historischen Wissenschaft keinerlei Entscheidung über ein Dogma zusteht, begegnet man unter vielen Traditionalisten, wie gesagt, immer wieder genau jenen Beispielen aus der Kirchengeschichte, welche von den Historikern schon lange als unhaltbar zurückgewiesen wurden. Dieses Festhalten an solcherart unbrauchbaren Beispielen läßt sich nur durch ein gemeinsames Interesse erklären, das die Häretiker vor dem Vatikanum (I) mit dieser Art von Traditionalisten verbindet. Dieses gemeinsame Interesse wollen wir etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Kirchengeschichte oder Lügengeschichten - Irrende Päpste?

Nicht wenige Traditionalisten verweisen in ihren Argumentationen dafür, daß ihr liberaler, modernistischer, ökumenischer, synkretistischer „Papst“ durch all seine von Amts wegen verkündeten und verbreiteten Irrtümer dennoch sein Amt nicht verloren hat, auf frühere Fälle von angeblich irrenden Päpsten. Ohne daß sie es merken, übernehmen sie dabei die Kirchengeschichtsschreibung der Häretiker und verfälschen das Dogma von der Unfehlbarkeit der Kirche – oder anders ausgedrückt: Sie interpretieren mithilfe von ihren kirchengeschichtlichen Beispielen das Dogma in unzulässiger Weise um. Konstruieren sie doch die Möglichkeit eines irrenden Papst, den es gemäß der Lehre der Kirche und deswegen natürlich auch in der Wirklichkeit niemals gegeben hat und auch nicht geben kann. J.B. Heinrich bemerkt in seiner Dogmatik:

„Was nun die angeblichen Irrthümer und Häresien der Päpste betrifft, so haben die Magdeburger Centuriatoren deren, von der Verleugnung Petri angefangen, eine große Menge angeführt, die teilweise von den Gallicanern und Jansenisten reproducirt wurden. Allmählich haben die Gegner und Bezweifler der päpstlichen Unfehlbarkeit dieselben, wenige – namentlich den Fall des Liberius, des Vigilius und des Honorius – ausgenommen, fallen lassen, bis man in neuester Zeit sich nicht schämte, eine Anzahl der längst von den Gallicanern aufgegebenen Einwände wieder aufzunehmen und einige, noch frivolere, hinzuzufügen.“
(J.B. Heinrich, Dogmatik Band II, S. 421)

Schon die Protestanten haben also – angefangen von der Verleugnung Petri, die natürlich auch P. Franz Schmidberger in seinem Vortrag 2005 in Fulda nicht vergessen hat! – eine Reihe von angeblichen Irrtümern der Päpste zusammengetragen. Aber ihre Argumente konnten offensichtlich keiner sachlichen Prüfung standhalten, so daß man sich auf die wenigen Fälle des Liberius, Vigilius und Honorius beschränken mußte. Erst in der neuesten Zeit – das war für Heinrich die Zeit vor dem (ersten) Vatikanischen Konzil – haben die späteren „Altkatholiken“ eine ganze Reihe „neuere“, wie Heinrich sagt, noch frivolere, „Argumente“ zusammengetragen (man wird hierbei unwillkürlich an den Vortrag von Gregorius Hesse erinnert), die von den Protestanten, Gallikanern und Jansenisten längst als unhaltbar aufgegeben worden waren.

Es ist wirklich auffallend, daß man genau diese falschen kirchengeschichtlichen Argumente wieder und wieder bei vielen sog. Traditionalisten findet. Während jedoch vor dem Vatikanum (I) diese Beispiele von den Irrlehrern als Argumente gegen die Unfehlbarkeit des Papstes angeführt wurden, werden von diesen Traditionalisten dieselben Argumente dazu gebraucht, den Gläubigen einzureden, ein „Papst“ könne durchaus in vielerlei Irrtümer fallen – selbst im Rahmen seiner ordentlichen lehramtlichen Tätigkeit – ohne sein Amt zu verlieren. Wobei man meistens den Begriff „Irrtum“ möglichst im Unklaren läßt und es größtenteils vermeidet (was freilich nicht immer gelingt), von Häresie zu sprechen. Da waren die Protestanten, Gallikaner, Jansenisten und Altkatholiken in ihrer Argumentation durchaus noch folgerichtiger. Sie schlossen nämlich aus der Tatsache der in ihrem Amt in Glaubensfragen irrenden Päpsten, daß es entweder überhaupt keinen päpstlichen Primat gebe, wie die Protestanten, oder daß eigentlich nicht der Papst, sondern nur die Kirche unfehlbar sei, wie die Gallikaner, oder daß der Papst überhaupt nicht unfehlbar sei, wie die Altkatholiken.

Für unser Thema am interessantesten ist der Gallikanismus, eine in Frankreich verbreitete Irrlehre, nach der die Lehrentscheidungen des Papstes erst durch die ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung der Kirche unabänderlich und unfehlbar würden. Zu dieser Irrlehre führt J.B. Heinrich in seiner Dogmatik zwei Bemerkungen an, die auch für uns noch bedenkenswert sind:

1. Die Leugnung der lehramtlichen Unfehlbarkeit des Papstes ist zuerst von den Häretikern ausgegangen und damals ganz allgemein als eine häretische Behauptung angesehen worden.
(Heinrich führt hierzu in einer Fußnote folgendes Beispiel an. „Gegen die Bulle Cum inter nonnullos, worin Johann XXII. die Behauptung der Spiritualen von der absoluten Armuth Christi und der Apostel verwarf, legte Michael von Cesena Berufung „an die Kirche“ ein, indem er die Behauptung aufstellte, daß der Papst in Entscheidungen von Glaubensfragen irren könne, wie Johann XXII. und auch schon im Alterthum Papst Liberius wirklich geirrt habe. Diese Behauptung wurde allgemein als eine häretische angesehen.“)
2. Erst zur Zeit des occidentalischen Schisma’s und das Concils von Constanz wurde die Meinung, der Papst könne selbst in Glaubensentscheidungen irren, innerhalb der Kirche von Gerson, Peter d’Ally, Jacob Almain und anderen Pariser Doctoren aufgestellt und erlangte vorübergehend in den Stürmen der damaligen Zeit eine gewisse Verbreitung. Allein diese Lehre der älteren Gallicaner trägt alle Zeichen der Unwahrheit und Verwerflichkeit an sich. Sie stand
a) im Widerspruche mit der überlieferten und allgemeinen Lehre der ganzen Christenheit…
b) sie stützte sich keineswegs auf ein gründliches Studium der Tradition, sondern, ein Product der damaligen kirchlichen Wirren und zu deren Hebung erfunden, beruhte sie auf falscher und willkürlicher Schriftauslegung und auf einigen mißbrauchten Väterstellen, hauptsächlich aber auf willkürlichen und falschen Behauptungen und Theorien.
c) Letztere sind aber zum großen Theile so exorbitante und geradezu häretische Irrtümer, daß sie, weit entfernt die gallikanische Lehre zu stützen, ihr vielmehr das Merkmal der Gefährlichkeit und Verwerflichkeit aufdrücken.

Nach der Lehre der Gallikaner können die Päpste in Kathedralentscheidungen irren und haben auch geirrt. Die Folge dieser irrtümlich angenommen Tatsache ist: eine päpstliche Lehrentscheidung empfängt erst durch die Zustimmung der Kirche ihre definitive Geltung. D.h. alle päpstlichen „Entscheidungen“ müssen sich erst noch im Laufe der Geschichte als wahr erweisen. Diese gallikanische Lehre hat sich im Laufe der Zeit weiter modifiziert. Hören wir dazu nochmals den Dogmatiker Heinrich:

„In der neueren Zeit hat man diese Lehre dahin zu mildern gesucht, daß man diese Zustimmung als das wesentliche Merkmal bezeichnete, woran eine Kathedralentscheidung als solche erkannt werden könne. Hierdurch meinte man der höchsten und durch die göttliche Assistenz unfehlbaren Autorität päpstlicher Kathedralentscheidungen gerecht werden, zugleich die Nothwendigkeit einer Zustimmung der Kirche festhalten und so eine Vermittlung mit der gallicanischen Lehre erzielen zu können. Nun wird allerdings durch diese Wendung der Lehre der theoretische Widersinn vermieden, daß eine päpstliche Lehrentscheidung ex post Unfehlbarkeit erlange, während doch diese Unfehlbarkeit in der, im Momente der päpstlichen Entscheidung selbst wirksamen, göttlichen Assistenz ihren ganzen einzigen Grund hat; - allein praktisch wird dadurch der Gallicanismus in seinem ganzen Umfange und seiner ganzen Tragweite aufrecht erhalten, indem es für den Erfolg einerlei ist, ob man den Consens der Kirche als unerläßliches äußeres Merkmal einer Kathedralentscheidung oder als Bedingung ihrer inneren Kraft und Giltigkeit ansieht. In beiden Fällen bleibt die Verbindlichkeit einer päpstlichen Lehrentscheidung und damit die Glaubenspflicht und die Glaubenssicherheit so lange suspendiert, bis der Consens der Kirche festgestellt ist.“

Dem einen oder anderen wird womöglich eine Ähnlichkeit dieser Anschauung mit gewissen traditionalistischen Konstruktionen aufgefallen sein. Die allgemeine Angewohnheit etwa, alle Äußerungen des Lehramts anhand der „Tradition“ zu überprüfen, ob sie katholisch sind oder nicht, ist doch der geforderten Zustimmung durch die Kirche bei den Gallikanern sehr ähnlich, denn aufgrund wessen soll denn die Kirche zustimmen, wenn nicht aufgrund der Überprüfung anhand der „Tradition“? Einerlei wie man es formuliert, in dem Augenblick, in dem man gleichsam dem lebendigen Lehramt eine Kontrollinstanz nachschaltet, bleibt die Verbindlichkeit einer päpstlichen Lehrentscheidung und damit die Glaubenspflicht und die Glaubenssicherheit so lange suspendiert, bis der Consens der Kirche festgestellt ist, d.h. nicht mehr der Papst und das lebendige Lehramt ist die nächste Norm des Glaubens, sondern die Kirche – was das dann auch immer konkret sein mag.

Doch kehren wir nun zurück zu den so oft angeführten Fällen aus der Kirchengeschichte. Ausführliche Darstellungen der einzelnen Fälle findet man etwa in den von M.J. Scheeben herausgegebenen Blättern „Das ökumenische Concil vom Jahre 1869“ oder in dem Buch von Dom Prosper Guéranger, „Die höchste Lehrgewalt des Papstes“. Wir wollen uns in unserer Darstellung an die Dogmatik von J.B. Heinrich, Band II, aus dem Jahre 1882 halten.

Das zusammenfassende Urteil J.B. Heinrichs lautet folgendermaßen: „In keinem einzigen unter allen diesen Fällen liegt, worauf es allein ankommt, eine Entscheidung ex cathedra vor. Es ist aber auch nicht einmal eine persönliche Häresie eines Papstes in irgend einem dieser Fälle nachweisbar. Was man anführt, sind theils persönliche Fehler, theils theologische Privatmeinungen, theils administrative Maßregeln, theils bloße Unterlassungen, theils particulare Urtheile einzelner Päpste – also Handlungen, in welchen noch niemals ein Katholik eine Indefectibilität des Papstes behauptet hat“ (J.B. Heinrich, Dogmatik Band II, S. 422).

Im Einzelnen geht Heinrich sodann noch auf die drei von den Häretikern am häufigsten vorgebrachten Beispiele aus der Kirchengeschichte ein, den Fall des Liberius, Vigilius und Honorius. Wir wollen die Ausführungen Heinrichs hier etwas ausführlicher wiedergeben, da diese Fälle immer wieder in der traditionalistischen Literatur auftauchen und für nicht geringe Verwirrungen sorgen.

1. Papst Liberius
Kaiser Constantius hatte Papst Liberius nach Beröa in Thracien verbannen lassen, weil dieser sich weigerte, die Verurteilung des Athanasius zu unterschreiben und mit den Arianern in Gemeinschaft zu treten. Liberius soll sich die Rückkehr aus dem Exil durch Unterschreibung eines häretischen Glaubensbekenntnisses, der Einwilligung in die Verurteilung des Athanasius und den Eintritt in die Glaubensgemeinschaft der Arianer erkauft haben.
Gegen diesen Vorwurf ist zu sagen:
a) selbst wenn all dies wahr wäre, läge dennoch keine lehramtliche Entscheidung des Papstes vor; denn selbst wenn Liberius aus Schwäche und um die Rückkehr aus dem Exil zu erlangen, ein häretisches Bekenntnis unterschrieben hätte, so hätte er zwar wie Petrus seinen Herrn und somit auch den Glauben und die Kirche verleugnet; aber dieser sein persönlicher Fall wäre niemals eine Kathedralentscheidung gewesen, da alle Bedingungen einer solchen, vor allem die dazu notwendige Freiheit fehlte.
b) Es ist aber auch über jeden vernünftigen Zweifel erhaben, daß, wenn Liberius eine Formel unterschrieb, es eine solche war, die zwar das Wort Homousius vermied, aber eine orthodoxe Deutung zuließ und diese Liberius auch im katholischen Sinne verstand und ausdrücklich Protest gegen jede häretische Deutung einlegte. Daher ist er persönlich keiner Häresie verfallen, noch hat er etwas Häretisches erklärt oder anerkannt. Sein Fehler war nur, daß er durch Verschweigung des Homousisos Ärgernis geben konnte.
c) Der Fall des Liberius wurde außerdem schon in Altertum bezweifelt und ist auch heute noch nicht ganz geklärt, da gewichtige Autoritäten ihn mit sehr guten Gründen ganz in Abrede stellen.

2. Papst Vigilius
Man hat besonders in jüngster Zeit, im Widerspruche mit den gründlichsten Forschungen und dem einmüthigen Urtheile der angesehensten Theologen und Historiker, behaupten wollen, daß Papst Vigilius durch sein Constitutum in der Glaubenslehre oder wenigstens bezüglich eines dogmatischen Factums, nämlich des häretischen Charakters der s.g. drei Kapitel geirrt habe, und daß seine im Constitutum, im Widerspruche mit seinem eigenen früheren Judicatum, gefällte irrige dogmatische Entscheidung durch das fünfte allgemeine Concil, das zweite von Constantinopel, reformiert worden sein. Allein es ist
1. über jeden Zweifel erhaben und unbestritten, daß das Constitutum nicht den mindesten Irrtum gegen das Dogma enthält.
2. Aber auch bezüglich des dogmatischen Factums der in den s.g. drei Kapiteln enthaltenen Doctrin hat Vigilius niemals eine irrige Kathedralentscheidung erlassen; wenn er auch in dieser den Orient und Ocident entzweienden Streitfrage, in unsäglich schwieriger Lage, nach den Umständen der Zeit und aus Gründen des allgemeinen Wohles seine Maßnahmen wiederholt geändert hat. Ob er hierbei durch ein gewisses Schwanken gefehlt habe, läßt sich schwer entscheiden; competente Beurtheiler halten auch in dieser Beziehung sein Verfahren für correct. Jedenfalls kann das nicht bezweifelt werden, daß Vigilius, wie in seinen amtlichen Acten, so auch in seinem persönlichen Glauben durchaus orthodox war; daß er in guter Absicht zur Erhaltung der kirchlichen Einheit seine Maßregeln nahm; da er endlich mit der Standhaftigkeit eine Marthyrers die Freiheit der Kirche und die Interessen des Glaubens vertheidigte.
3. Was aber das Concil von Constantinopel betrifft, so hat es sich durchaus nicht angemaßt, eine Kathedralentscheidung des Papstes zu reformiren, wohl aber hat es seine Entscheidung auf die des Papstes gestützt und hat dieses Concil selbst lediglich durch Bestätigung des Papstes ökumenische Giltigkeit erlangt.

3. Der Fall des Honorius
Unter den, von den Gegnern des höchsten und unfehlbaren Lehramtes des Papstes angeführten Fällen ist der Fall des Papstes Honorius der scheinbar schlagkräftigste. Daher wurde er auch während des Vatikanischen Konzils am ausführlichsten diskutiert. In seiner schärfsten Form lautet der Einwand, Honorius habe in seinen Schreiben an Sergius die monotheletische Häresie ex cathedra definiert und sei deshalb von dem sechsten allgemeinen Konzil und dritten Konzil von Konstantinopel, unter Bestätigung des Apostolischen Stuhles, als Häretiker verurteilt worden. Wäre diese Behauptung richtig, so würde daraus folgen:
1. daß der Papst in seinen Kathedralentscheidungen irren könne;
2. daß das Konzil über dem Papste stehe und dessen dogmatische Entscheidungen reformieren könne.
Die Lösung des Problems wird in mehr als einer Beziehung lehrreich sein, so leitet Heinrich seine Entgegnung ein, und er führt sodann eine grundsätzliche Erwägung an:
„Vor allem ist auf eine evidente Tatsache aufmerksam zu machen, welche von vornherein nicht nur für den Glauben, sondern auch für die gesunde Vernunft feststellt, daß der Fall des Honorius unmöglich jene Bedeutung haben kann, welche die Gegner der päpstlischen Infallibilität ihm beilegen. Der Fall und die Verurtheilung des Honorius durch das sechste Concil war allen Jahrhunderten bekannt. Aber weder die Päpste, noch die Concilien, noch die Väter, noch die Theologen aller folgenden Zeiten ließen – wie wir in unserem Traditionsbeweis genügend gezeigt haben – sich dadurch abhalten, die Unfehlbarkeit der päpstlichen Kathedralentscheidungen als eine unzweifelhafte Wahrheit zu bekennen. Sie waren also überzeugt, daß Honorius nicht ex cathedra einen Irrthum definirt, und daß das sechste Concil nicht eine päpstliche Kathedralentscheidung reformirt hatte. Dieses steht durch den Consens der Kirche fest und mußte schon vor dem Vatikanum Jeden, der mit der Kirche übereinstimmen wollte abhalten, dem Falle des Honorius eine Bedeutung beizulegen, die er unmöglich haben kann, ohne die gesamte Tradition der Kirche Lügen zu strafen.
Dem entsprechend haben denn auch alle angesehenen katholischen Theologen und Historiker den Fall des Honorius und seine Verurteilung durch das sechste Concil in einer Weise verstanden, welche das Dogma von der Unfehlbarkeit päpstlicher Kathedralentscheidungen intact läßt.
Alle nämlich, obwohl sie in Einzelheiten von einander abweichen, stimmen darin überein, daß Honorius unter allen Umständen keine häretische Kathedralentscheidung erlassen und nicht wegen einer solchen durch eine ökumenisch giltige Entscheidung verurtheilt worden sei.
Was sich über die Honoriusfrage Zuverlässiges aus den Quellen nach der Übereinstimmung der gründlichsten Theologen ergibt, läßt sich in folgende Sätze zusammenfassen:
1. Was zunächst Honorius und seine beiden Schreiben an Sergius betrifft, so kann
a) die persönliche Rechtgläubigkeit des Honorius keinem vernünftigen Zweifel unterliegen.
b) Was seine beiden Schreiben betrifft, so enthalten sie in ihrer Auseinandersetzung der katholischen Lehre keine glaubenswidrigen Irrthum.
c) Der in seinen nachtheiligen Folgen erst später hervortretende Fehler des Honorius bestand darin, daß er über die ausgesprochene Streitfrage die nothwendige Entscheidung nicht gab, sondern, die Sache für einen bloßen Wortstreit nehmend, wollte, daß man weder von Einer noch von zwei Energien in Christo rede und sich lediglich an die Redeweise des Chalcedonense und Leo’s d. Gr. halte.
d) Unter allen Umständen enthalten die beiden Briefe des Honorius an Sergius, mag man sie als Privatschreiben, oder als amtliche Schreiben betrachten, keine kathedrale Definition eines Dogmas, berühren also, was immer ihr Inhalt sein mag, die Frage von der Irreformabilität päpstlicher Kathedralentscheidungen nicht.
2. Was die Verurtheilung des Honorius betrifft, so haben
a) sowohl die Päpste, als die Concilien, welche dem sechsten Concil vorausgingen, den Honorius nicht verurtheilt, vielmehr ihn vertheidigt, vor allem aber die unbefleckte Glaubensreinheit des Apostolischen Stuhles behauptet. …
c) Mag es aber mit den Beschlüssen des VI. Concils sich wie immer verhalten, so steht fest, daß dieselben nur insofern Giltigkeit haben, als sie vom Papst Leo II. bestätigt wurden. Leo II. hat aber die Verurtheilung des Honorius nur insofern bestätigt, als derselbe wegen Beförderung der Häresie durch Nachlässigkeit und Pflichtverletzung schuldig befunden wird. Nur in diesem Sinne und Umfange ist auch seine Verurtheilung durch spätere Concilien und Päpste anerkannt worden.“

Keines der von den Irrlehrern angeführten Beispiele ist also eine Stütze für die Behauptung eines irrenden Papstes in dem Sinne, daß irgendein Papst im Rahmen einer Kathedralentscheidung einen Irrtum gegen den Glauben oder die Sitte verkündet hätte. Und wie wir oben schon gehört haben, erklärt Heinrich noch weiter: Es ist aber auch nicht einmal eine persönliche Häresie eines Papstes in irgend einem dieser Fälle nachweisbar. Es gibt also keinen einzigen Fall in der Kirchengeschichte, der eine persönliche Häresie eines Papstes aufweisen könnte. Vielmehr waren die Päpste – trotz ihrer persönlichen Fehler, denn Unfehlbarkeit darf nicht verwechselt werden mit Fehlerlosigkeit – zu allen Zeiten wirklich jener Felsen, auf den Jesus Christus seine Kirche gebaut hat.

Hören wir nun ein Beispiel dafür, wie man in der sog. Bewegung der Tradition mit der Geschichte argumentiert. In seinem Vortrag von 2005 in Fulda führte P. Franz Schmidberger folgendes aus: „Später sehen wir Papst Honorius I., dieser nimmt eine sehr zweifelhafte Haltung ein in Bezug auf die zwei Naturen Jesu Christi, geeint in der einen Person. Da geht es um die Frage, ob Christus zwei Willen habe oder nur einen Willen. Natürlich hat er zwei Willen, weil er zwei Naturen hat. Er ist nämlich wahrer Gott und wahrer Mensch. Aber diese Auseinandersetzungen in der Christologie mußten erst geklärt werden, mußten erst zur Klarheit kommen, bevor das Dogma eindeutig verkündet wurde, und der Papst Honorius nun war sehr zweifelhaft in dieser Haltung, sehr zweifelhaft. Und so hat ihn ein Konzil nach seinem Tod verurteilt, weil er die Häresie begünstigt hat. Aber achten Sie darauf, liebe Gläubige, das Konzil sagt nicht: der Honorius ist nicht Papst gewesen. Sondern es sagt: dieser Mann hat Schwächen aufgewiesen, die ihn sogar in gewissem Sinne von der Gemeinschaft der Gläubigen abtrennen. Das ist nachzulesen im Denzinger.“

Alle, die den obigen Ausführungen Heinrichs aufmerksam gefolgt sind, fragen sich sicher ganz unwillkürlich, was diese Ausführungen sollen und letztlich wollen? Warum sollte irgendjemand vernünftigerweise behauptet haben und behaupten können, daß Honorius kein Papst war? Verliert der Papst doch nur dadurch eo ipso, also aufgrund der Tat selbst, sein Amt, wenn er selbst hartnäckig Häresien vertreten hat. Das ist bei Honorius niemals der Fall gewesen, also gab es auch niemals einen vernünftigen Grund, an seinem Papstsein zu zweifeln.

Was will aber P. Schmidberger dann sagen, bzw. seinen Hörern mit seinem Honoriusbeispiel weismachen? Wenn ein Mann wie Honorius – „und dieser Mann hat Schwächen aufgewiesen, die ihn sogar in gewissem Sinne von der Gemeinschaft der Gläubigen abtrennen“ (was das in diesem Zusammenhang genau heißen bzw. bedeuten soll, weiß wohl P. Schmidberger allein) – noch Papst war, dann sind auch ein Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. usw. immer noch Papst. Aber sind das wirklich vergleichbare Fälle? Vergleicht hier P. Schmidberger nicht Äpfel mit Birnen, wie man sagt? Das ist übrigens unter Traditionalisten ein sehr weit verbreitetes Übel, fast alle Vergleiche sind nur Schall und Rauch und dienen nur einer sophistischen Argumentation, also Scheinargumenten, die im Grunde nichts beweisen, sondern nur zu einem Fehlschluß verleiten wollen. Wie sieht es denn in Wirklichkeit aus?

Während Honorius durchaus rechtgläubig war, waren und sind die sog. Konzilspäpste wahre Häretiker, denn sie haben vielfältige Irrlehren öffentlich und über Jahre hinweg hartnäckig vertreten, ja sie haben sogar öffentlich Akte gesetzt, mit denen sie vor der ganzen Welt ihren Abfall vom katholischen Glauben bekundeten. Was hat das aber für eine Folge für die Katholiken? J.B. Heinrich zitiert eine äußerst treffende Stelle aus Fénelons Abhandlung über die Autorität des Papstes, die wir hier wiedergeben wollen: „Wenn der Apostolische Stuhl jemals etwas Häretisches definieren und der Kirche zu glauben vorschreiben würde, so wäre er, so lange er diese Definition, welche eine Pest und Ansteckung für die ganze Kirche wäre, nicht zurücknähme, keineswegs das die Glieder bestärkende Haupt, sondern selbst ein krankes gefallenes Glied, das von den anderen zurechtgewiesen und geheilt werden müßte. In diesem ganzen Zeitraume würde der Nachfolger Petri nicht Christi, sondern in Wahrheit des Antichrist Stellvertreter sein: denn er würde die Völker nicht den Glauben Christi lehren, sondern zum Abfall von dem Glauben Christi verführen; daher wäre er in dieser Zeit nicht der Vater und Lehrer aller Christen, sondern der Verführer der Völker und der Lehrmeister des Irrtums.“

Es bleibt durchaus nicht ohne Auswirkungen auf den eigenen Glauben, wenn man fälschlicher Weise einen Häretiker als „Papst“ anerkennt. Diese Anerkennung bringt vielmehr eine ganze Reihe von Gefahren für den Glauben mit sich, ja nicht nur Gefahren für den Glauben an sich, sondern auch für das Glaubensprinzip. Denn die Anerkennung eines Häretikers als Papst verkehrt das Glaubensprinzip. Wenn nämlich der Nachfolger Petri durch seine öffentliche Häresie zum Stellvertreter des Antichrists geworden ist, dann werden unweigerlich die Völker zum Abfall vom Glauben verführt, weil sie dem vermeintlichen „Papst“, der in Wirklichkeit ein Verführer der Völker und der Lehrmeister des Irrtums ist, auf die Dauer sicher nicht widerstehen können. Hat nicht vielleicht deswegen Mgr. Marcel Lefebvre nach dem Skandal von Assisi sich zurecht dazu verleiten lassen, Karol Wojtyla als Antichrist zu bezeichnen?

Eines muß uns Katholiken jedenfalls klar sein. Derjenige, der einen Häretiker als Papst anerkennt, wird dadurch unweigerlich gezwungen, entweder dessen Häresie anzunehmen oder die Theologie über das Lehramt und damit verbunden das Papstamt zu verfälschen. Wir erleben das bei den Traditionalisten zur Zeit wieder einmal in Zusammenhang mit der anstehenden „Heiligsprechung“ Johannes Pauls II. Viele von ihnen werden, weil sie ihren „Papst“ retten wollen, die Unfehlbarkeit der Kirche bei ihren Heiligsprechungen in irgendeiner Weise leugnen. Diese Irrlehre zieht sodann sofort weitere Irrlehren nach sich. Denn wenn ich nicht mehr mit unfehlbarer Sicherheit weiß, wer ein Heiliger ist und wer nicht, dann verehrt meine „Kirche“ zweifelhafte Heiligen und feiert hl. Messen zu Ehren von „Heiligen“, von denen niemand mit Gewißheit weiß, ob sie wirklich heilig und nicht vielleicht sogar in der Hölle sind. Eine „Kirche“ mit solch zweifelhaften oder falschen Heiligen kann aber sicher nicht die heilige Kirche Jesu Christi sein. Diese „Kirche“ ist vielmehr eine unheilige Kirche und kein Katholik kann Glied einer solchen unheiligen „Kirche“ sein – was doch eigentlich aus sich heraus jedem Katholiken einleuchtend sein müßte, so meint man wenigstens.

Überblickt man unsere kurzen Gedanken, so stellt man fest: Im Grunde hätte man sich bei den Traditionalisten solche Irrwege von Anfang an ersparen können, wenn man gleich von der Kirchengeschichte gelernt hätte. Hätte man die katholische Kirchengeschichtsschreibung zu Rate gezogen, anstatt bei den Häretikern in die Lehre zu gehen, so wären diese Ungereimtheiten sofort aufgefallen und man hätte wieder katholischen Boden unter den Füßen bekommen. Solange man jedoch nicht bereit ist, diesen Schritt zu machen, wird man aus der eigenen Ideologie nicht herausfinden.

Jedenfalls kann man sicher in aller Ruhe darauf warten, bis der nächste Traditionalist wieder mit einem Beispiel aus der Kirchengeschichte aufwartet – es wird sicher Liberius, Vigilius oder Honorius sein, denn so populäre, jahrhundertalte Irrtümer lassen sich nur noch schwer ausrotten.