Vom Lehramt zum Leeramt

Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck bestimmte fast dreißig Jahre die Geschicke seines Landes. Mehr als vierzig Jahre war er der wichtigste Politiker Berlins. Mit 35 Jahren ernannte ihn der König zum preußischen Gesandten am Deutschen Bundestag und mit 47 Jahren wurde er Ministerpräsident. Ab 1871 war er Reichskanzler, was er bis 1890 blieb, als er widerwillig seinen Abschied nehmen musste. Bismarck gilt als einer der größten Politiker des 19. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er Europa auf Dauer verändert. Bei seinem Abschied veröffentlichte der britische „Punch“ vom März 1890 eine Karikatur mit dem Titel: „Der Lotse verlässt das Schiff“. Bismarck hatte immerhin eine ganze Generation lang die europäische Politik maßgeblich mitgestaltet, was wird wohl nach ihm kommen?

Wenn wir auf die neuere Kirchengeschichte schauen, haben wir denselben Eindruck bei Pius XII., der zwar nicht durch Rücktritt die kirchenpolitische Bühne verließ, sondern durch seinen Tod. Auch hierzu könnte man schreiben: „Der Lotse verlässt das Schiff“. Bis zum Tod Pius’ XII. waren die Päpste die von Gott der Kirche geschenkten Losten, die das Schifflein Petri durch alle Stürme der Zeit und an allen Klippen und Gefahren des Irrtums vorbei mit unfehlbarer Sicherheit dem Ziel entgegenlenkten. Nach diesem letzten Papst der „alten“ Kirche beginnt jedoch auf einmal eine neue Zeit, mit einem neuen Verständnis von Papst und Kirche. Es fällt etwas schwer, genau zu fassen, was mit dem Pontifikat und nach dem Tod Pius XII’. eigentlich geschehen ist und was zu Ende ging, aber der Eindruck, daß etwas zu Ende ging, ist doch so stark und allgemein, daß er jedem ins Auge springt. Mit Angelo Giuseppe Roncalli alias Johannes XXIII. beginnt eine neue Zeit, es beginnt ein neuer Stil, ein neues Selbstverständnis der Kirche in Rom. Aber kann die Kirche von Rom überhaupt ein neues Selbstverständnis entwickeln? Ist sie nicht eine göttliche Institution, also mit von Gott vorgegebenem Selbstverständnis ausgestattet und deswegen immer dazu verpflichtet, der göttlichen Vorgabe zu entsprechen? Bis Pius XII. waren die Inhaber der Stuhles Petri noch die unfehlbaren Lehrer und Leiter der Kirche Jesu Christi. Mit Johannes XXIII. ändert sich das offensichtlich, man hat nunmehr unwillkürlich den Eindruck: Der Lotse hat das Schiff verlassen. Aber was kommt danach?

Bevor wir dieser Frage eingehender nachgehen, wollen wir uns noch kurz in Erinnerung rufen, was denn eigentlich das Besondere dieser „alten“ Kirche war. Wir lassen hierzu Matthias Josef Scheeben (1835—1888), den großen, frommen und gelehrten Kölner Dogmatiker zu Wort kommen. In seinen „Mysterien des Christentums“ (1865) und in seinem „Handbuch der katholischen Dogmatik“ (6 Bücher in 3 Bänden, 1874—1887) hat Scheeben das Wirken des lebendigen Lehramtes in der vom Geiste Christi belebten Kirche in einer bisher kaum übertroffenen Art beschrieben. Seine Lehre über das Verhältnis des unfehlbaren obersten Lehrers der Kirche zur seligsten Jungfrau Maria, in der er das vollkomme Urbild der Kirche sah, hat Scheeben wohl nirgends so eindringlich geschildert wie in seiner Abhandlung „Die Dogmen von der unbefleckten Empfängnis Mariä und der Unfehlbarkeit des Papstes als Manifestation der Übernatürlichkeit des Christentums“ (M. J. Scheeben, Die Dogmen von der unbefleckten Empfängnis Mariä und der Unfehlbarkeit des Papstes als Manifestation der Übernatürlichkeit des Christentums, neu herausgegeben von J. Schmitz, Paderborn 1954):

„Eine mannigfache Verbindung und Wechselbeziehung besteht zwischen den beiden Dogmen (der unbefleckten Empfängnis Mariens und der Unfehlbarkeit des Papstes). Das erstere stellt uns vor Augen die unbedingte Makellosigkeit und übernatürliche Verklärung der ganzen Natur der seligen Jungfrau, welche als die Mutter des Sohnes Gottes, des neuen Adam, der voll der Gnade und Wahrheit unter uns erschien, des Hauptes der Kirche und des ‚Lehrers der Gerechtigkeit’, auch die Mutter aller Kinder Gottes, die neue Eva, die Mutter der Gnade und der Kirche, und darum der unentweihte ,Sitz der Weisheit’ und der makellose ‚Spiegel der Gerechtigkeit’ sein sollte. Die Unfehlbarkeit des Papstes aber zeigt uns die unbefleckte Reinheit und den übernatürlichen Glanz der Wahrheit der Cathedra des hl. Petrus, welche, weil ihr Inhaber zum Stellvertreter des Sohnes Gottes, zum sichtbaren Oberhaupte seiner Kirche und zum stetigen Organ seiner Wahrheit bestellt ist, als die ‚Mutter und Lehrerin aller Kirchen’ sich in ihrer Lehre, ebenso wie die selige Jungfrau in ihrem ganzen Leben, als unentweihten ,Sitz der Weisheit’ und den makellosen ‚Spiegel der Gerechtigkeit’ offenbaren, und als das Haupt der Kirche, der Braut Christi, in ihrer Lehre, durch welche sie die Glaubensreinheit des ganzen Volkes Gottes bewirkt, so beschaffen sein muß, wie der Apostel die Braut Christi selbst haben will: „ohne Makel und ohne Runzel oder etwas dergleichen“ — und das aus demselben Grunde, aus welchem die Kirche in ihrem Priestertum, in welchem sie als Mutter und Spenderin der Gnade auftritt und im hochheiligen Altarsakramente ihr Haupt in geheimnisvoller Weise wiedergebiert, trotz aller Sünden und Mängel ihrer Diener ihren vom Hl. Geist befruchteten Schoß stets unbefleckt bewahrt.

Es bedarf nur der treffenden Formulierung beider Dogmen, um den Gedanken nahezulegen, daß die Aufeinanderfolge beider Definitionen (1854 und 1870) keine bloß äußerliche und zufällige, sondern durch einen wirklichen Zusammenhang bedingt ist. Dieser Zusammenhang besteht aber wieder nicht allein in dem Umstand, daß die in der zweiten Definition ausgesprochene Verherrlichung des Hl. Stuhles der durch die Fürbitte der heiligen Jungfrau vermittelte Lohn für die durch denselben Hl. Stuhl ihr zuteil gewordene Verherrlichung sein soll; er beschränkt sich auch nicht darauf, daß bei der einen Definition der Hl. Stuhl sein höchstes und unfehlbares Richteramt bereits in glänzender Weise ausgeübt und erprobt hatte, ehe es in der zweiten Definition förmlich erklärt wurde, oder daß in beiden Fällen eine praktisch zwar längst allgemein anerkannte, aber theoretisch vielfach verdunkelte und bestrittene Glaubenswahrheit in ihr volles Licht gestellt wurde. Der Zusammenhang geht viel tiefer, er liegt in der innigen Verwandtschaft beider Lehren und ihrer darauf beruhenden beiderseitigen großartigen Bedeutung für unsere Zeit.

Die gläubigen Katholiken haben das nicht überall gefühlt; sie, die mit so ungeteilter Begeisterung die Definition der Unbefleckten Empfängnis aufgenommen, haben vielfach nicht geahnt, daß es sich bei der zweiten Definition um dieselben Grundsätze und Interessen handle, wie bei der ersten; sie sahen nicht einmal, daß die Gegner des neuen Dogmas zum Teil dieselben waren wie die des ersten, daß mit denselben Waffen damals gegen dieses wie jetzt gegen jenes gekämpft wurde; sie hatten vergessen, daß damals wie jetzt der Rationalismus und Liberalismus unter der Maske des Glaubenseifers, je weniger er selbst auf den alten Glauben und das Dogma von der Erbsünde hielt, ein desto lauteres Geschrei erhob über Erfindung und Fabrikation neuer Dogmen, über die Preisgabe der alten Glaubensregel, über den Umsturz der alten Kirchenlehre von der Allgemeinheit der Erbsünde, über Vergötterung einer bloßen Kreatur durch Beilegung göttlicher Attribute usw. Sie hatten es vergessen, obgleich manche der Gegner der Definition bald offen, bald versteckt auf die frühere Definition eifersüchtige oder ingrimmige Seitenblicke warfen und in dieser die überschwengliche und despotische Dogmenfabrikation, die im (I.) Vatikanischen Konzil gekrönt werden solle, angebahnt sahen. So kam es, daß man bei uns in Deutschland vor der zweiten Definition kaum schüchtern den Wunsch, die eine Lehre mit der andern in gleiches Licht gestellt zu sehen, aussprechen konnte, ohne selbst bei solchen, die früher die Definition der Unbefleckten Empfängnis herbeigewünscht oder doch mit Jubel begrüßt hatten, wegen extremer, neuerungssüchtiger Tendenzen in Verruf zu kommen. Jetzt aber, nachdem die zweite Definition stattgefunden, wird jedes katholische Herz mit uns in Freude und Bewunderung die über der Kirche waltende Hand Gottes bewundern, welche diese beiden Wahrheiten am Himmel des 19. Jahrhunderts als segensvolle und trostreiche Sterne im hellsten Licht erstrahlen läßt: die ohne Fehl empfangene Jungfrau als den Stern der Gnade, den Morgenstern, welcher der im Fleische erscheinenden Sonne der Gnade vorausgegangen ist, und, den in seine Herrlichkeit eingegangenen Heiland begleitend, vom Himmel her uns aus der Nacht dieses Lebens zum Tag der Ewigkeit geleitet; und die unfehlbare Cathedra des Stellvertreters Christi als den Abendstern, auf dem die von der Erde scheidende Sonne der ewigen Wahrheit ihr Licht zurückgelassen hat, damit die Welt nicht wieder in die Finsternis des Heidentums zurückfiele.

Sollte es blinder Zufall oder gar kleinliches Menschenwerk sein, daß gerade jetzt, wo die Hölle mehr denn je systematisch das Licht Christi aus der Welt verdrängen und die Macht des alten Heidentums zurückbringen will, jene beiden Sterne, die beide von Christus, der Sonne der Gnade und der Wahrheit, ihr Licht empfangen, um es in milden, unserem irdischen Auge zusagenden Strahlen in die Nacht dieser Welt zu ergießen, zugleich in ihren vollen Glanz gestellt wurden? Wahr ist, daß manche fromme Seele und tiefer blickende Geister längst die doppelte Definition als ein großes Heilmittel für die kranke Zeit herbeigewünscht und befürwortet haben; wahr ist desgleichen, daß Pius IX. sogleich vom Anfang seines Pontifikates an sein Augenmerk auf die volle Klarstellung und Geltendmachung beider Wahrheiten gerichtet hat; aber eben diese Wünsche und Bestrebungen waren das Werk des die Kirche leitenden Geistes Gottes, und der Papst selbst beeilte sich bei der Durchführung seiner Absicht so wenig, daß namentlich die zweite Definition erst zu einer Stunde stattfand, die er menschlicher Weise nicht zu erleben hoffen durfte, und daß sie durch eine so seltsame Komplikation von Umständen ermöglicht und zugleich unabweislich gemacht wurde, wie ebenfalls kein menschlicher Scharfblick es voraussehen konnte.

Fassen wir das Licht der beiden Sterne näher ins Auge, welches sie sowohl wechselseitig übereinander, als auch über die übrigen Gestirne des christlichen Himmels verbreiten und segenbringend in die Nacht unseres Jahrhunderts hineinleuchten lassen: Im allgemeinen können wir sagen, daß beide Dogmen die Übernatürlichkeit des Christentums in lebendiger kraftvoller Wirklichkeit und Wirksamkeit uns vor Augen führen, und daß deshalb beide, wie sie den äußersten Haß der Hölle auf sich laden und den schroffsten Widerstand von Seiten des rationalistischen, naturalistischen und liberalistischen Geistes der modernen Welt begegnen, so auch von den wahren Freunden des Christentums als die Devise betrachtet werden müssen, unter welcher sie die Hölle und den Geist der Welt besiegen werden.

Die Hölle haßt in der unbefleckt empfangenen Jungfrau das unbesiegte Weib, das nach der Prophezeiung des Urevangeliums in Gemeinschaft mit seinem Samen in ewiger Feindschaft ihr gegenübersteht und der alten Schlange den Kopf zertritt; in der Unfehlbarkeit des Hl. Stuhles aber haßt und verfolgt die Hölle die unüberwindliche Macht, welche nach der Verheißung des Heilands die Kirche allen Angriffen der Hölle gegenüber aufrecht erhält und allen von der Hölle ausgesetzten Häresien den Kopf zertritt. Der Geist der Welt, der, wenn schon nicht offener Feind des Christentums, so doch durch dessen übernatürliche Ideen und Ansprüche nicht in der Selbstgenügsamkeit seiner Natur, seiner Vernunft und Freiheit gestört sein will und alles nur nach dem Maßstab der letzteren mißt, mag den übernatürlichen Adel der hl. Jungfrau und die Unfehlbarkeit des Hl. Stuhles als Idole frommer Schwärmerei zwar dulden, er entsetzt sich aber unwillkürlich vor der dogmatischen Feststellung und kraftvollen Durchführung beider Lehren, weil er instinktmäßig fühlt, daß vor dem Glanz der übernatürlichen Makellosigkeit und Herrlichkeit der Jungfrau ebenso wie vor der übernatürlichen Irrtumslosigkeit und Majestät des Stuhles der Wahrheit alle Träume von absoluter Selbstherrlichkeit der Natur und der natürlichen Weisheit und Freiheit in eitlen Dunst sich auflösen. Da dieser naturalistische Geist aber auch viele sonst wohlgesinnte Katholiken angesteckt hat, wie das (I. Vat.) Konzil in der Einleitung der ersten Konstitution selbst sagt, da derselbe in Deutschland in manchen theologischen Schulen seit langem sich festgesetzt hat und, wie sehr auch durch die Reaktion des kirchlichen Sinnes zurückgedrängt, nicht mit der Wurzel ausgerottet worden ist, so ist aus ihm auch die Antipathie zu erklären, welcher beide Dogmen nirgendwo mehr als in Deutschland begegnet sind. Der wahrhaft Gläubige und in seinem Glauben erleuchtete Christ aber, der in Christus den wahren Gottmenschen, den Gründer und das Haupt eines übernatürlichen Reiches und den Spender übernatürlicher Gnade und Wahrheit verehrt und diese Idee in ihrer ganzen Kraft und Reinheit verfolgt, sieht in der unbefleckt empfangenen Jungfrau und dem unfehlbaren Lehrstuhl Petri mit Freude die kostbaren unbeweglichen Grundsteine des übernatürlichen Reiches Christi und die kostbaren Unterpfänder seiner Gnade und Wahrheit spendenden Allmacht, die schönsten Trophäen seines Sieges über Hölle und Welt, Trophäen, die ihrerseits wieder als siegreiche Waffen unablässig sich bewähren werden, solange der Kampf mit der Hölle und der Welt fortdauern soll.“

Das unfehlbare Lehramt war bis Pius XII. für jeden Katholiken die göttliche Garantie der Bewahrung der Kirche in ihrer Reinheit und Heiligkeit, denn wie Scheeben sagt: „Die Unfehlbarkeit des Papstes … zeigt uns die unbefleckte Reinheit und den übernatürlichen Glanz der Wahrheit der Cathedra des hl. Petrus, welche, weil ihr Inhaber zum Stellvertreter des Sohnes Gottes, zum sichtbaren Oberhaupte seiner Kirche und zum stetigen Organ seiner Wahrheit bestellt ist, als die ‚Mutter und Lehrerin aller Kirchen’ sich in ihrer Lehre, ebenso wie die selige Jungfrau in ihrem ganzen Leben, als unentweihten ,Sitz der Weisheit’ und den makellosen ‚Spiegel der Gerechtigkeit’ offenbaren, und als das Haupt der Kirche, der Braut Christi, in ihrer Lehre, durch welche sie die Glaubensreinheit des ganzen Volkes Gottes bewirkt, so beschaffen sein muß, wie der Apostel die Braut Christi selbst haben will: ohne Makel und ohne Runzel oder etwas dergleichen“. Aus diesem Wirken des unfehlbaren Lehramtes folgte die Glaubensreinheit des ganzen Volkes Gottes und eine wunderbare gottgeschenkte Sicherheit im Glauben.

Nachdem aber der Lotse das Schifflein Petri verlassen hatte, änderte sich dies schlagartig. Zeichnen wir diesen Weg der Änderungen einmal Schritt für Schritt nach, um etwas differenzierter beurteilen zu können, was eigentlich nach dem Tod Pius’ XII. geschehen ist.

1. Angelo Giuseppe Roncalli alias Johannes XXIII.: Der Prophet

Als am 28. Oktober 1958 Angelo Giuseppe Roncalli als Nachfolger von Pius XII. zum 261. Papst der römisch-katholischen Kirche gewählt wurde, sah er sich allseits mit einer außerordentlichen Erwartungshaltung konfrontiert. Die ganze Welt, d.h. genauer gesagt die Medienwelt, forderte von ihm umfassende Reformen. Er sollte das mittelalterliche Ungetüm, Katholische Kirche, in ein modernes Unternehmen verwandeln, weltkonform sollte er sie machen, diese veraltete Kirche. Roncalli war offensichtlich genau der richtige Mann, um diesen gewaltigen Prozeß der Umwandlung der Weltkirche in Gang zu setzen. Carl J. Burckhardt zeichnet Johannes XXIII. in kurzen Strichen so:

„... Er ist weltklug, hätte einen industriellen Konzern leiten können, er ist ein äusserst wohlmeinender und bauernschlauer Bergamaske, er ist von solider Frömmigkeit, im abgekürzten Stil; aber mir scheint, sein gesunder Menschenverstand — auf kurze Sicht genau, auf lange Sicht wohl nicht sehr scharf — lasse ihn den Wert gewisser unzeitgemässer, spezifisch katholischer Arkane (Geheimnisse) verkennen. Die Fähigkeit des Wunderglaubens, die Scheu vor dem Sakralen sind seine Sache nicht. Er ist ein gottesgläubiger Rationalist, mit schönstem Streben der sozialen Gerechtigkeit dienend, wobei er die Neigung hat, allen ähnlichen Bestrebungen aus ganz entgegengesetzten Lagern weitgehend die Hand zu reichen. Es ist, ohne dass er es weiss, viel vom Gedankengut des 18. Jahrhunderts in ihm, mit einer nachwirkenden Risorgimentostimmung verbunden. Er ist gütig, offen, humorvoll, sehr fern vom christlichen Mittelalter; auf dem Wege über die französischen ‚Philosophen‘ ist er zu ähnlichen Ergebnissen gelangt wie die Reformatoren, ohne ihre metaphysische Passion. Er wird viel verändern; nach ihm wird die Kirche nicht mehr dieselbe sein...“

Der bauernschlaue Angelo Giuseppe Roncalli sah natürlich die auf ihm ruhenden Hoffnungen der Welt und er bediente sie entsprechend gekonnt und mit charismatischen Charme. In seiner Ansprache am 25.1.1959 kündigt er ganz überraschend eine Diözesansynode für Rom und ein ökumenisches Konzil an: „Ehrwürdige Brüder und geliebte Söhne! Gewiß ein wenig zitternd vor Bewegung, aber zugleich mit demütiger Entschlossenheit im festen Vorsatz sprechen Wir vor euch den Namen und das Vorhaben einer doppelten feierlichen Veranstaltung aus: einer Diözesansynode der Stadt Rom und eines Ökumenischen Konzils für die Gesamtkirche.“

Während Papst Pius IX. fast zwanzig Jahre reiflichen Überlegens brauchte, bis er sich 1867 zur Einberufung des Ersten Vatikanums entschloß, kam Johannes XXIII. der Gedanke, ein ökumenisches Konzil einzuberufen, ganz spontan und gleichsam über Nacht. Wahrscheinlich am Montag, dem 19. Januar 1959, bereitete Johannes XXIII. sich auf den Abschluß der Gebetswoche für die Einheit der Kirche vor. Da wurde ihm eine „plötzliche und unerwartete Erkenntnis“ zuteil. Er erfuhr - wie er selbst behauptet durch eine himmlische Stimme -, daß der Weg zur Einheit der Kirche über die Einberufung eines ökumenischen Konzils führe. So hat es jedenfalls der in Rom lebende Theologie-Professor, Pater Daniel Stiernon, berichtet. Johannes XXIII. erklärte aber auch selbst am 24. Januar 1960: „Als Wir in demütigem Gebet versunken waren, haben Wir in der Intimität und Schlichtheit Unseres Geistes eine göttliche Einladung zur Einberufung eines ökumenischen Konzils gehört.“ Und an anderer Stelle sagte er, daß ihn der Konzils-Gedanke wie ein „tocco“ – also wie ein „Stoß“– getroffen habe, und nochmals an anderer Stelle: „Wir glauben, es sei der höchste Wink Gottes gewesen, der Uns den Gedanken der Feier eines ökumenischen Konzils eingab wie die Blüte eines unerwarteten Frühlings.“ Johannes ist, als er seine alle überraschende Ankündigung macht, noch keine neunzig Tage im Amt!

Wenn man freilich zum oben Gesagten andere Information hinzunimmt, nach denen ein ökumenisches Konzil schon von langer Hand vorbereitet worden ist, kommen einem an der himmlischen Eingebung natürlich erhebliche Zweifel. In ihrer Nummer vom Dezember 1961/Januar 1962 veröffentlichte die Freimaurerzeitschrift ‚Les échos du Surnaturel‘ (Widerhall des Übernatürlichen) das Zeugnis eines durch mehrere Bücher bekannten Autors, der berichtet: „Was das Konzil betrifft, so habe ich Kardinal Roncalli (dem ehemaligen Nuntius in Paris, dessen Berater ich war) am 14. August 1954 geschrieben, um ihm seine künftige Wahl (zum Papst) mitzuteilen und ihn um ein Treffen während der Ferien in seinem Heimatland zu bitten, wobei wir seine erste Aufgabe erörtern könnten... das Konzil. Ich mahnte ihn nachdrücklich: ‚Bitte denken Sie über all dies nach, denn es wird keine Zeit für Ausflüchte geben. Sobald Sie den päpstlichen Thron bestiegen haben, muß der Plan sogleich in Gang gesetzt werden und sämtliche Politiker überraschen.‘“ So himmlisch kann also die Stimme, die Roncalli zum Konzil wie ein „Stoß“ gedrängt hat, auch wieder nicht gewesen sein.

Dieser Zweifel an der himmlischen Inspiration Roncallis wird nochmals vermehrt, wenn man den eigenartigen Verlauf dieses Konzils in Erwägung zieht, der ebenfalls eine längere Vorbereitung nahelegt. Aber sei es, wie es wolle, es ist jedenfalls in der ganzen Kirchengeschichte noch niemals ein Konzil aufgrund einer „himmlischen“ Eingebung eines Papstes einberufen worden, also aufgrund einer völlig ungeprüften Privatoffenbarung. Bei der Eröffnungsansprache zum sog. 2. Vatikanum erklärt Roncalli dennoch ganz pathetisch oder etwa verlogen nochmals: „Was die Entstehung dieses großen Ereignisses betrifft, das uns hier versammelt, so möge wiederum ein demütiges Zeugnis genügen, das Wir auch selber aus eigener Erfahrung bestätigen können: Zuerst haben Wir fast unerwartet dieses Konzil im Geiste erwogen, dann haben Wir es in schlichten Worten vor dem heiligen Kollegium der Kardinäle an jenem denkwürdigen 25. Januar 1959, am Fest der Bekehrung des hl. Apostels Paul, in eben jener St. Pauls-Basilika an der Via Ostia ausgesprochen. Sogleich wurden die Anwesenden durch eine plötzliche Bewegung des Geistes, wie vom Strahl eines überirdischen Lichtes, berührt, und alle waren freudig betroffen, wie ihre Augen und Mienen zeigten. Zugleich entbrannte in der ganzen Welt ein leidenschaftliches Interesse, und alle Menschen begannen, eifrig auf die Feier des Konzils zu warten.“

Anderseits ist der vermeintlich charismatische Ursprung wiederum für den Charakter dieses „Konzils“ bezeichnend. Übrigens ordnet Johannes XXIII., der damals schon 77 Jahre alt ist, sein „Konzil“ in seiner Eröffnungsansprache gleich in einen viel größeren Rahmen ein. Er bezeichnet es als „Eintritt in eine Epoche der Weltmission“, was heute im Jahre 2014, also 55 Jahre nach dem beispiellosen Niedergang der Kirche, geradezu lächerlich klingt und ganz sicher nicht für die Echtheit der himmlischen Stimme spricht.

Für die Medien war Johannes jedoch ein Papst des „mutigen Hinüberschreitens“ (Kardinal Julius Döpfner), ja der Prophet einer neu anbrechenden Zeit. Seine pseudoprophetischen Qualitäten zeigte er sodann bei der Eröffnungsansprache seines Konzils am 11. Oktober 1962 auch vor aller Welt: „In der täglichen Ausübung Unseres apostolischen Hirtenamtes geschieht es oft, dass Stimmen solcher Personen Unser Ohr betrüben, die zwar von religiösem Eifer brennen, aber weder genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen. Sie reden unablässig davon, dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei. Sie benehmen sich so, als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt, die eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als sei in den Zeiten früherer Konzilien, was die christliche Lehre, die Sitten und die Freiheit der Kirche betrifft, alles sauber und recht zugegangen. Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die immer das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergang stünde...“

Ist der prophetische Weitblick des Herrn Roncalli nicht beeindruckend? Wie man 1962, angesichts der allseits aufziehenden geistigen Gewitterwolken so etwas allen Ernstes öffentlich sagen konnte, ist schon sehr erstaunlich. Ja, dieser irrationale Optimismus ist unglaublich! Was im Nachhinein etwas merkwürdig klingt, ist jedoch der Hinweis: als sei in den Zeiten früherer Konzilien, was die christliche Lehre, die Sitten und die Freiheit der Kirche betrifft, alles sauber und recht zugegangen. Sieht Roncalli schon mit prophetischem Blick voraus, daß auf seinem „Konzil“ durchaus nichts sauber und recht zugehen wird?

Aber Roncalli kann es noch besser: „Die Kirche hat Irrtümern zu allen Zeiten widerstanden, oft hat sie sie verurteilt, manchmal mit großer Strenge. Heute dagegen möchte die Braut Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge. Sie glaubt, es sei den heutigen Notwendigkeiten angemessener, die Kraft ihrer Lehre ausgiebig zu erklären, als zu verurteilen. Das bedeutet nicht, dass es keine falschen Lehren und keine gefährlichen Meinungen gebe, die man vermeiden und zerstreuen muss. Aber diese widerstreiten so offensichtlich den rechten Grundsätzen der Ehrbarkeit, und sie haben so verheerende Früchte gezeitigt, dass heute die Menschen bereits von sich aus solche Lehren verurteilen. Das gilt besonders von jenen Sitten, die Gott und seine Gebote verachten, von blindem Vertrauen auf den technischen Fortschritt und auf einen Wohlstand, der sich ausschließlich auf den Lebenskomfort stützt...“

Man sollte diesen kurzen Abschnitt, der so harmlos klingt, wenigstens ein zweites Mal ganz aufmerksam lesen, denn vielleicht fällt einem dann auf, daß in der Argumentation etwas nicht stimmt. Zunächst suggeriert Roncalli, daß die Kirche früher mit großer Strenge die Irrtümer verurteilt hat, ja mit der Waffe der Strenge gegen den Irrtum (oder etwa doch den Irrenden?) vorgegangen ist. Ist das wahr? Ein Glaubensurteil ist ein Urteil über eine Glaubenswahrheit. Dieses Urteil ist weder streng noch sanft, sondern es ist richtig oder falsch. Roncalli verwechselt hier offensichtlich – und zwar wissentlich und willentlich, wie man annehmen muß – die psychologische mit der erkenntnistheoretischen Ebene. Natürlich hat die Kirche einen Glaubensirrtum immer mit dem Beistand des Heiligen Geistes unfehlbar als Irrtum verurteilt – und sie hat die göttlich notwendigen Konsequenzen gezogen, d.h. all diejenigen aus der Kirche ausgeschlossen, die weiterhin diesem Irrtum anhangen. Wobei die Kirche eigentlich nur festgestellt hat, daß diejenigen, die einen solchen Irrtum weiterhin behaupten, sich selbst aus der Kirche ausschließen. Wo ist bei dieser göttlichen Notwendigkeit die große Strenge? Und wieso soll diese Strenge auch noch eine Waffe sein, eine Waffe gegen was oder wen? Und weiter gefragt: Kann man gegen den Irrtum das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden? Nein, ganz sicher nicht! Gegen den Irrtum muß man das Heilmittel der Belehrung anwenden, die Barmherzigkeit gilt dem reumütigen Sünder, nicht dem Irrtum!

Wie wir schon gehört haben, ist Roncalli durchaus kein Dummkopf gewesen, von dem man annehmen müßte, daß er nicht einmal die einfachsten Unterscheidungen beherrscht. Steckt darum hinter dieser Verwechslung der Ebenen nicht etwas ganz anderes? Bringt diese nicht schon eine grundlegende Neuorientierung zum Ausdruck?

Ist Ihnen beim Lesen der Zeilen noch etwas aufgefallen? Johannes XXIII. wechselt unversehens die Objekte aus. Zunächst geht es um den Glauben und die Irrtümer im Glauben, plötzlich, als er von den falschen Lehren spricht, die man vermeiden und zerstreuen muss, geht es um die sittlichen Irrtümer in der Welt, ja er spricht von blindem Vertrauen auf den technischen Fortschritt und auf einen Wohlstand, der sich ausschließlich auf den Lebenskomfort stützt. Das ist schon im Keim das uns nur allzu gut bekannte soziologische Gerede der modernen Bischöfe und Priester. Es geht plötzlich gar nicht mehr um den Glauben, sondern es geht darum, die Welt zu verbessern, wie es all die politischen Utopien der Neuzeit den Menschen wieder und wieder versprochen haben. Und ihr versprochenes Paradies hat Millionen über Millionen Menschen das Leben gekostet.

Letztlich werden in diesen wenigen Zeilen der Eröffnungsrede Rocallis schon die Hauptgedanken des 2. Vatikanums skizziert und sodann noch weiter ausgefaltet. Denn Johannes XXIII. ändert durchaus nicht nur die Blickrichtung, sondern mit ihr zugleich das Denken. Was zunächst wie eine kleine Nuance erscheint, ist viel mehr und viel radikaler. Roncalli wechselt von der diakritischen Betrachtungsweise, in der es um die Frage nach der Wahrheit und dem ihr entgegenstehenden Irrtum geht, zur dialogischen Betrachtungsweise, in der es nur noch um den gemeinsamen Nenner geht, der zwei unterschiedliche „Meinungen“ verbindet.

Wobei dieser Paradigmenwechsel zugleich wieder auf geniale Weise vertuscht wird. Das 2. Vatikanum will kein Konzil sein wie die anderen, so sagt Roncalli, sondern ein Pastoralkonzil mit einer pastoralen Sprache. Was ist das aber genau, ein Pastorales Konzil mit einer pastoralen Sprache? In seinem Werk „Der theologische Weg Johannes Pauls II. zum Weltgebetstag der Religionen in Assisi“ (I. Band, Sitta Verlag, Senden / Westf. 1990), versucht Johannes Dörmann dieser Frage auf dem Grund zu gehen. „Die Idee des «pastoralen Konzils» stammte vom Papst selber. Sie war ein Novum in der Geschichte der Kirche, wurde aber ohne Schwierigkeiten von der Mehrheit der Väter bejaht. Manchen war sie willkommen, um im Mantel des «Pastoralen» und ohne dogmatische Behinderung einer faktischen, in ihrem Sinn verlaufenden, Entwicklung Raum zu lassen. Was man unter einem «pastoralen Konzil» genau verstand, läßt sich nach Karl Rahner kaum sagen, da auf dem Konzil «eine theologisch tiefere Reflexion auf das Wesen gerade eines pastoralen Konzils als solchen nicht gegeben war»“.

Es ist durchaus verlockend, im Mantel des «Pastoralen» und ohne dogmatische Behinderung ein Konzil abzuhalten. Aber ist es realistisch? Ist das überhaupt möglich? Wenn man pastoral spricht, braucht man sich dann nicht mehr um die Lehre zu kümmern? Darf ein Prediger einfach drauflosreden, ohne sich um die Lehre kümmern zu müssen? Natürlich nicht! Im Gegenteil, jeder Prediger weiß, wie schwer und anspruchsvoll es meist ist, in einfachen Worten die Wahrheit zu sagen. Denn darum geht es doch auch bei der Predigt, die Wahrheit, die Christus ist, zu sagen.

Die Konzilsväter scheinen sich darüber keinerlei Gedanken gemacht zu haben, als sie ihr Pastoralkonzil abhielten. Was denn nun eine pastorale Sprache auf einem pastoralen Konzil genau sein soll, wußte letztlich niemand. Man verstand wohl vordergründig damit eine Sprache, die lebensnah und allgemeinverständlich ist, eine Sprache, die von aller Welt verstanden werden kann. Die Kirche des Aggiornamento, diese neue, weltoffene Kirche verlangte eine Kirchensprache, die sich dem modernen Weltbild und Denken gegenüber offen und verständnisvoll zeigte. Das Konzil sollte wie eine gut verständliche Predigt sein – ohne jedoch die Irrtümer mit großer Strenge zu verurteilen, wie wir schon gehört und bedacht haben.

Jeder, der sich schon einmal die Mühe gemacht hat, eine frei vorgetragene Predigt in Schriftform zu fassen, weiß wie schwer es ist, die gesprochene Sprache in Schriftsprache umzuwandeln. Genau diese Arbeit mußten die Konzilsväter gemäß ihrem Selbstverständnis ständig leisten, denn sie verfaßten doch gar keine Predigten für die Kanzel, sondern geschriebene lehramtliche (?) Texte. Das „Konzil“ war doch gar keine endlos lange Predigt. Jeder kann ganz einfach den Test machen und versuchen, einen Konzilstext als Predigt vorzulesen. Ist das eine allgemeinverständliche, lebensnahe, lebendige Sprache? Ganz sicher nicht!

Hören wir dazu nochmals Prof. Dörmann: „Die führenden Theologen sahen natürlich, daß es bei der Sprache um die Sache, um die ganze Sache der Theologie und des Glaubens ging: Denn die scholastische Sprache war mit der scholastischen Philosophie, diese mit der scholastischen Theologie und diese wiederum mit der dogmatischen Tradition der Kirche unlösbar verbunden. Durch den Verzicht der Konzilsväter auf die scholastische Sprache wurde in Wirklichkeit auch die scholastische Theologie verabschiedet und die in Jahrhunderten bewährte Ehe zwischen der «philosophia perennis» und dem Glauben geschieden. Genau das war das Ziel führender Konzilstheologen, obwohl sie sich darüber im klaren sein mußten, daß die «philosophia perennis» die ganze Tradition der abendländisch-christlichen Philosophie bedeutete. Der Verzicht der Väter auf die «scholastische Schulsprache» war für sie die conditio sine qua non, durch die der Bruch mit der bisherigen Dogmatik eingeleitet wurde, um nach der Suspension und der anschließenden Verabschiedung der «alten» die «Neue Theologie» zu etablieren.“

Das Konzil spricht bzw. schreibt durchaus nicht in einer pastoralen Sprache, sondern in der Sprache der „Neuen Theologie“, also durchaus wieder in einer Fachsprache, die selbstredend wieder nur von Fachleuten richtig verstanden werden kann – was seltsamerweise fast niemanden aufgefallen ist. Dabei haben die modernistischen Theologen durchaus gewußt, daß nun ihre Stunde gekommen ist. Sie konnten ungehindert unter dem Deckmantel der Pastoral ihre modernistischen Irrlehren in die Texte einarbeiten – und jedesmal, wenn es doch jemandem auffiel sagen, daß das alles nicht so genau zu nehmen ist, denn es sei doch nur ein Pastoralkonzil. Eines ist jedenfalls auffällig: Im Gegensatz zu allen andere Konzilien ist das 2. Vatikanum das „Konzil der vielen Worte“. Kein anderes Konzil war so ausschweifend, so umständlich und so zweideutig in den Formulierungen, also genauso, wie es die modernistische Theologie auch ist!

Johannes Dörmann bringt noch einen weiteren Gedanken, den man nicht übergehen sollte: „Schließlich ist überhaupt zu fragen, warum ein Ökumenisches Konzil, das die theologische Basis für eine Kirche von damals 700 Millionen Gläubigen legen wollte, seine umfangreichen Dokumente, die ohnehin meist nur von den Theologen studiert werden, unbedingt in einer allgemeinverständlichen und lebensnahen Sprache abfassen mußte und damit der Kirche das Problem hinterließ, die Konzilstexte wieder in ihre dogmatische Tradition zu integrieren oder ganz darauf zu verzichten. Letzteres wäre ein Neubeginn auf schwankendem Boden. Bei der «pastoralen Sprache» des Konzils handelte es sich nur vordergründig um eine «pastorale» Frage. In Wirklichkeit ging es um ein völlig anderes Problem in einer völlig anderen Dimension: Es ging um das säkulare Problem des «Verstehens» im Rahmen des modernen Welt- und Geschichtsbildes, das unser abendländisches Geistesleben insgesamt bewegte, seit dem 19. Jahrhundert wiederholt die katholische Theologie heimgesucht hat, in Gestalt des «Modernismus» von der Kirche zurückgewiesen worden war und jetzt als «hermeneutisches Problem» die Theologen unabweisbar bedrängte. Die Klärung nur dieses einen unerledigten Jahrhundertproblems wäre ein Konzil wert gewesen. Auf einem «pastoralen Konzil» wurde es jedoch unthematisch apokryph ausgetragen.“

Es hätte im Jahr 1962 durchaus lehrmäßige Fragen gegeben, die brennend einer Lösung bedurften. Die Gefahr des Modernismus war seit Pius X. durchaus nicht geringer geworden. Der Modernismus hatte nur wieder einmal seine Gestalt etwas gewandelt, der verderbliche Geist war jedoch der gleiche geblieben. Die Konzilsväter haben offensichtlich in keiner Weise verstanden, welches hermeneutische Problem die Kirche aus den Angeln zu heben drohte und welche Verantwortung sie in dieser äußerst kritischen Situation auf sich nehmen mußten. Dieser Verantwortung ganz entgegenstehend sagte Roncalli zu den Konzilsvätern in seiner Eröffnungsrede: „Es ist auch nicht unsere Sache, gleichsam in erster Linie einige Hauptpunkte der kirchlichen Lehre zu behandeln und die Lehre der Väter wie der alten und neueren Theologen weitläufig zu wiederholen, denn Wir glauben, daß Ihr diese Lehren kennt und sie Eurem Geiste wohl vertraut sind. Denn für solche Disputation mußte man kein ökumenisches Konzil einberufen.“

Ist das Ironie, Sarkasmus, Illusion, Weltfremdheit? Wir stehen im Jahr 1962! Und um das Ganze auf die Spitze zu treiben meint er weiter: „Denn etwas anderes ist das Depositum Fidei oder die Wahrheiten, die in der zu verehrenden Lehre enthalten sind, und etwas anderes ist die Art und Weise, wie sie verkündet werden, freilich im gleichen Sinn und derselben Bedeutung. Hierauf ist viel Aufmerksamkeit zu verwenden; und, wenn es not tut, muß geduldig daran gearbeitet werden, das heißt, alle Gründe müssen erwogen werden, um die Fragen zu klären, wie es einem Lehramt entspricht, dessen Wesen vorwiegend pastoral ist. Am Beginn des Zweiten Vatikanischen Ökumenischen Konzils ist es so klar wie jemals, daß die Wahrheit des Herrn in Ewigkeit gilt. Wir beobachten ja, wie sich im Lauf der Zeiten die ungewissen Meinungen der Menschen einander ablösen, und die Irrtümer erheben sich oft wie ein Morgennebel, den bald die Sonne verscheucht.“

Ist man bei diesen Worten nicht geneigt zu denken: In welcher Welt lebte denn Herr Roncalli? Nirgends in der Kirchengeschichte findet man irgendetwas, das sein naives (?) Urteil rechtfertigen würde. Wie kommt er nur auf diesen befremdenden Gedanken, die Irrtümer erheben sich oft wie ein Morgennebel, den bald die Sonne verscheucht? Ist jemals in der Kirchengeschichte ein Irrtum von selbst wieder verschwunden?! Die Gnosis, der Arianismus, der Protestantismus, Gallikanismus, usw.? Erinnern wir uns an das, was Scheeben erläutert hat – „Der Geist der Welt, der, wenn schon nicht offener Feind des Christentums, so doch durch dessen übernatürliche Ideen und Ansprüche nicht in der Selbstgenügsamkeit seiner Natur, seiner Vernunft und Freiheit gestört sein will und alles nur nach dem Maßstab der letzteren mißt, mag den übernatürlichen Adel der hl. Jungfrau und die Unfehlbarkeit des Hl. Stuhles als Idole frommer Schwärmerei zwar dulden, er entsetzt sich aber unwillkürlich vor der dogmatischen Feststellung und kraftvollen Durchführung beider Lehren, weil er instinktmäßig fühlt, daß vor dem Glanz der übernatürlichen Makellosigkeit und Herrlichkeit der Jungfrau ebenso wie vor der übernatürlichen Irrtumslosigkeit und Majestät des Stuhles der Wahrheit alle Träume von absoluter Selbstherrlichkeit der Natur und der natürlichen Weisheit und Freiheit in eitlen Dunst sich auflösen.“ – das hört sich schon ganz anders an. Erinnern wir uns zudem an die Bauernschläue dieses Roncalli und daran: Er wird viel verändern; nach ihm wird die Kirche nicht mehr dieselbe sein! Wenn man das nämlich ernst nimmt, so beginnt man allmählich zu fragen: Vielleicht sind die Irrtümer, von denen Roncalli spricht, gar nicht die Irrtümer, die wir meinen? Vielleicht sind die Irrtümer, von denen er pastoral spricht, die „alten“ Wahrheiten, von denen wir theologisch sprechen? Dann würden sich also die „alten“ Wahrheiten durch das Konzil wie Dunst im Nebel der Morgensonne aufheben, und zwar ohne Verurteilung und ohne Waffe der Strenge, sondern wie von selbst, weil fast alle Autoritäten der Kirche gleichsam über Nacht Modernisten geworden sind und jetzt eine neue „Kirche“ bilden.

Jedenfalls geht es Johannes XXIII. bei seinem „Konzil“ um einen neuen Geist und ein neues Programm, es geht ihm um die Annäherung der Kirche an die Welt von heute und dabei besonders um eine neues Verhältnis der Kirche mit den anderen Religionen. Auch hier genügt ihm eine gedankliche Nuance, um zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Er sinniert darüber nach: „Diese sichtbare Einheit in der Wahrheit hat aber leider die gesamte christliche Familie noch nicht in Vollendung und Vollkommenheit erreicht. Daher sieht es die katholische Kirche als ihre Pflicht an, alles Erdenkliche zu tun, damit das große Mysterium jener Einheit erfüllt werde.“ Wenn ein Modernist vom Geheimnis redet, wird es immer gefährlich, denn er spricht meist dort von einem Geheimnis, wo es um eine „alte“ Wahrheit geht, die er gerne auflösen möchte. Das hört sich dann so an: „Ja, genau betrachtet, erstrahlt diese Einheit, die Jesus Christus für seine Kirche erlangte, in einem dreifachen Licht: die Einheit der Katholiken untereinander, die als leuchtendes Beispiel ganz fest bewahrt bleiben muß, sodann die Einheit, die im Gebet und den leidenschaftlichen Erwartungen der vom Apostolischen Stuhl getrennten Christen besteht, wieder mit uns vereint zu sein, und schließlich die Einheit der Hochachtung und Ehrfurcht gegenüber der katholischen Kirche, die ihr von anderen, noch nicht christlichen Religionen erwiesen wird.“

Haben Sie den Gedankengang, eigentlich besser gesagt Gedankensprung, gut verstanden? Wir haben jetzt plötzlich nicht mehr nur eine Einheit, sondern gleich deren drei, wobei natürlich so getan wird, als würde die eine Einheit in einem dreifachen Licht erscheinen. Es gibt

    1. Die Einheit der Katholiken untereinander, die das leuchtende Beispiel geben sollen.
    2. Die Einheit der getrennten Christen, die im Gebet und der Erwartung mit uns eins sein wollen. (Achten sie darauf, daß sich der Blickwinkel ändert, die getrennten Christen schauen auf uns!)
    3. Die Einheit der Hochachtung und Ehrfurcht, die von den nichtchristlichen Religionen der Kirche erwiesen wird. (Worin diese konkret bestehen soll, sagt uns Roncalli nicht.)

Diese drei Einheiten sind wohl als abgestufte Einheiten zu verstehen, wodurch der katholische Begriff der Einheit sich wesentlich ändert. In der wahren Einheit der katholischen Kirche gibt es nämlich kein mehr oder weniger. Entweder ist man in Einheit mit der Kirche und darum in der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche oder man ist es nicht. Durch die Abstufung der Einheit(en) wird nunmehr der Eindruck erweckt, die anderen christlichen Konfessionen und selbst Religionen gehören schon (irgendwie) dazu, wenn auch noch nicht voll und ganz. Josef Ratzinger wird von kirchlichen Elementen sprechen und auf diese Weise die Einheit ebenfalls stufenweise gestalten. Eines ist noch zu bemerken: Mit dieser Begriffsänderung werden diese „Einheiten“ zu Utopien, also reine Gedanken- und Wünschespiele – auch die erste! Etwas ganz Entscheidendes ist unbemerkt passiert: Die neue Einheit wird nicht mehr durch den göttlichen Glauben konstituiert, sondern durch die Spiritualität, nämlich durch das Gebet und fromme Gefühle der Hochachtung und Ehrfurcht, wie wir gehört haben. Übrigens hat damit Johannes XXIII. den Weg zum Weltgebetstag der Religionen in Assisi „theologisch“ schon vorgezeichnet. Der Weg zur allumfassenden modernistischen Ökumene ist frei.

Beim Tode von Pius XII’. vertraute Dom Lambert Beauduin Pater Bouyer an: „Wenn sie Roncalli wählten, wäre alles gerettet; er wäre fähig, ein Konzil einzuberufen und dem Ökumenismus die Weihe zu verleihen.“ Er hatte recht, der Lotse hatte das Schiff verlassen, die Ratten aber waren an Bord geblieben. Der letzte Lotse auf dem Schifflein Petri hatte zwar ebenfalls erwogen, ein Konzil einzuberufen, doch waren ihm die Gefahren eines solchen Unterfangens nicht entgangen. Schon vor seiner Wahl sagte er: „Ich höre um mich herum Neuerer, welche die Heilige Kapelle abreißen, die universale Flamme der Kirche löschen, ihre Zierden verwerfen, ihr ein schlechtes Gewissen ob ihrer Vergangenheit einreden wollen...Es wird der Tag kommen, da die zivilisierte Welt ihren Gott verleugnen, da die Kirche zweifeln wird, wie weiland (damals) Petrus gezweifelt hat. Sie wird versucht sein zu glauben, daß der Mensch Gott geworden sei, daß sein Sohn nichts sei als ein Symbol, eine Philosophie wie viele andere, und in den Kirchen werden die Christen vergeblich nach der roten Lampe Ausschau halten, wo Gott sie erwartet, so wie die Sünderin vor dem leeren Grabe ausrief: ‚Wo haben sie ihn hingelegt?‘“

Johannes XXIII. war es nicht vergönnt, das Ende seines „Konzils“ zu erleben. Dazu war sein Nachfolger bestimmt, den Johannes gleich nach seiner Wahl zum Kardinal erhob, einen der letzten Wünsche Pius XII. mißachtend: „Mögen Montini und Tondi niemals Kardinäle werden.“ Johannes wußte dennoch, sein Werk war vollbracht, er hatte die Weichen zur Revolution gestellt und alles Notwendige in Gang gesetzt. Carl J. Burckhardt hatte recht: Er wird viel verändern; nach ihm wird die Kirche nicht mehr dieselbe sein...

Seine mexikanischen Freimaurerfreunde veröffentlichten nach seinem Tod folgenden Nachruf, dem nichts mehr hinzuzufügen ist: „Die westliche Großloge Mexikos und ihre Angehörigen bekunden offiziell ihren Schmerz über das Verscheiden dieses großen Mannes, der die Ideen, die Gedanken sowie die Form der römisch-katholischen Liturgie revolutioniert hat. Die Enzykliken ‚Mater et Magistra‘ und ‚Pacem in Terris‘ haben die Begriffe zugunsten der Rechte und der Freiheit des Menschen revolutioniert. Die Menschheit hat einen großen Mann verloren, und wir Freimaurer anerkennen an ihm seine erhabenen Prinzipien, seinen Humanitarismus und seine Qualitäten als großer Liberaler. - Guadalajara, 3. 6. 1963, Lic. Jose Guadalupe Zuno Hdez.“