95 Prozent

1. Eine Ideologie erkennt man daran, daß sie ihre eigenen, neuen Dogmen hat, die unhinterfragbar sind. Jeder Verstoß gegen diese Dogmen ist Verrat und Ketzerei und wird entsprechend geahndet. So ist es bei der „konziliaren Kirche“, deren Dogmen die Errungenschaften des „II. Vatikanums“ sind, hinter die es „kein Zurück“ gibt, so geht es aber auch bei den „Traditionalisten“, die ebenfalls ihre Spezial-Lehren haben, bei denen sie keinen Widerspruch dulden. Beweis dafür ist die Ketzerverfolgung, die derzeit in den Reihen der „Piusbruderschaft“ stattfindet, und mit allen probaten Mitteln vom Ketzerprozeß mit Denunziation und Bespitzelung bis zum Bann und Ausstoß, Ächtung und Pranger vorgeht.

2. Das Grunddogma der „Piusbruderschaft“ lautet: Die „konziliaren“ Päpste sind ohne jeden Zweifel die legitimen, wahren Päpste der römisch-katholischen Kirche. Das gilt sogar noch für einen Bergoglio, bei dem selbst gestandene Halb-Konservative und Pseudo-Traditionalisten inzwischen so ihre Bedenken haben (zumal ja eine schöne Ausflucht bereitsteht mit dem „Zweitpapst“ Ratzinger, dessen Rücktritt eben einfach ungültig war). Dieses Grunddogma ist schon lange in Geltung, es geht noch auf den Begründer der „Piusbruderschaft“, Erzbischof Marcel Lefebvre zurück. Darum wurden schon vor gut dreißig Jahren etwa sog. „Sedisvakantisten“ gnadenlos verfolgt und abserviert.

Immerhin jedoch unterschied Erzbischof Lefebvre zwischen einem „Ewigen Rom“ und dem „Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenz“ des „II. Vatikanums“, welchem er Widerstand zu leisten beanspruchte. So sprach er ungeniert von der „konziliaren Kirche“, der er sich widersetzte, mit welcher er gleichwohl Verhandlungen um eine „Anerkennung“ seiner Bruderschaft führte (was ja nur folgerichtig ist, wenn es sich beim Papst der „konziliaren Kirche“ um den legitimen Papst der römisch-katholischen Kirche handelt), was nun wieder weitere Dogmen im Gefolge hatte wie etwa die grundsätzliche Anerkennung der Gültigkeit der „neuen Sakramente“ dieser „Kirche“. Auch daran durfte fortan kein „Piusbruder“ mehr zweifeln, wenn er nicht Repressalien und sogar den Ausschluß in Kauf nehmen wollte.

3. Dennoch blieb der Stand der Dinge beim Tod Mgr. Lefebvres recht widersprüchlich. Da hatte man es also zweifellos mit den wahren katholischen Päpsten zu tun, und gleichzeitig waren diese das Haupt der „konziliaren Kirche“, weshalb man ihnen ungehorsam war. Da anerkannte man die Gültigkeit der von diesen Päpsten promulgieren „neuen Sakramente“, und gleichzeitig kritisierte man diese als schlecht und verweigerte ihre Annahme. So mußte das Grunddogma der „Piusbruderschaft“ zu weiteren neuen Dogmen führen, welche sich besser zu diesem fügten. Vor allem in den letzten 15 Jahren war man im Zuge eines neuerlichen Annäherungsprozesses an das konziliare Rom auf diesem Gebiet eifrig bemüht und emsig tätig.

Es entstand das neue „Pius-Dogma“, wonach es gar keine „konziliare Kirche“ gibt. Dieser Begriff könne nur im ganz uneigentlichen Sinn für eine bestimmte „Denkrichtung“ in der katholischen Kirche gebraucht werden. Aber eine eigene „konziliare Kirche“ neben der römisch-katholischen existiere nicht. Die „konziliare Kirche“ ist die „wahre Kirche“, die „eine, heilige, katholische, apostolische“ sogar, so der Generalobere der „Piusbruderschaft“. Für ihn ist das konziliare Rom schlechthin „die Kirche“. Diesem neuen Dogma hat man gerade in den letzten Jahren eine ganze Zahl ketzerischer Priester und Gläubiger geopfert, bevorzugt auf dem Scheiterhaufen der Verleumdungen.

4. Nun kommt ein weiteres neues Dogma hinzu, welches der „Pius“-General seit über einem Jahrzehnt schon dabei ist zu etablieren und das sich aus den bisherigen Dogmen mit innerer Konsequenz ableitet. Denn wenn die „konziliaren Päpste“ zweifelsfrei die katholischen Päpste sind und die von ihnen approbierten „neuen Sakramente“ zweifellos gültig, daher die „konziliare Kirche“ auch keine andere als die katholische Kirche ist, dann kann schließlich das „II. Vatikanum“ nur ein wahrhaft katholisches Konzil gewesen sein, also eigentlich gar nicht so schlecht. Daher das neue Dogma, daß 95 Prozent dieses Konzils gut und katholisch sind und die restlichen 5 Prozent im „Licht der Tradition“ gelesen werden können und müssen.

Denn es müsse, so der Hochwürdigste Herr Generalobere in seiner berühmt-berüchtigten „doktrinalen Erklärung“ vom April 2013, die „gesamte Tradition des katholischen Glaubens“ das „Kriterium und der Führer zum Verständnis des 2. Vatikanischen Konzils sein, das selbst wiederum gewisse Aspekte der Lehre und des Lebens der Kirche beleuchtet – d.h. nachträglich vertieft und verdeutlicht – die implizit in ihnen enthalten oder noch nicht begrifflich formuliert sind“. Man habe erkennen müssen, so der General an anderer Stelle, daß vieles, was man an Schlechtem irrtümlich dem „II. Vatikanum“ zugeschrieben hatte, gar nicht von diesem stamme und selbst die so viel kritisierte „Religionsfreiheit“ dieses Konzils „very, very limited“ sei. Das also ist das neueste Dogma, dem zu huldigen ist, wenn anders man länger „Piusbruder“ bleiben und nicht allen Arten von Schikanen und Verfolgungen seitens der Inquisition ausgesetzt sein will.

5. Die Tendenz all dieser Dogmen ist eindeutig und klar, und sie führt mit unerbittlicher Logik mitten hinein in die „konziliare Kirche“ und zur Unterwerfung unter das „II. Vatikanum“ und alle seine Errungenschaften, und zwar nicht nur zu 95 Prozent, sondern wahrscheinlich – wie es bei Überläufern meist der Fall ist – zu 150 Prozent. An uns ist es daher, zu warnen und noch einmal daran zu erinnern, womit wir es bei diesem „II. Vatikanum“ in Wahrheit zu tun haben. Wir wiederholen im wesentlichen nur, was wir bereits in anderen Beiträgen dargelegt haben. Leider ist eine solche Wiederholung erfahrungsgemäß mehr als notwendig. Was also war dieses „II. Vatikanum“ wirklich?

    Anti-Ephesus

    Auf dem Konzil zu Ephesus, das als drittes Ökumenisches Konzil vom 22. Juni bis 31. Juli 431 n. Chr. in der kleinasiatischen Stadt Ephesus in der dortigen Marienkirche stattfand, wurde in Abwehr der Häresie des Nestorius die allerseligste Jungfrau Maria feierlich als „Gottesgebärerin“ deklariert. Es war dies einer jener großartigen Siege der Schlangenzertreterin über den Satan und seine Schlangenbosheit. Der Teufel aber vergißt nicht und sah nun seine Stunde gekommen, Rache zu üben und zum Gegenschlag auszuholen. Das von Johannes XXIII. begonnene und von Paul VI. fortgeführte „II. Vatikanum“ (1962 bis 1965) bot dazu die beste Gelegenheit.

    Im Oktober 1963 entbrannte auf diesem Konzil eine Auseinandersetzung über das vorgesehene Schema über die Allerseligste Jungfrau. „Die Diskussion enthüllte den Gegensatz zweier Richtungen, einer maximalistischen und einer minimalistischen“, schreibt Roberto de Mattei in seinem Buch „Das Zweite Vatikanische Konzil – Eine bislang ungeschriebene Geschichte“. „Die ‘Maximalisten’ waren die Fortsetzer der großen marianischen Bewegung des 20. Jh., die nach der Definition des Dogmas der Himmelfahrt Mariens die Proklamation eines neuen Dogmas seitens des Papstes und der auf dem Konzil versammelten Bischöfe wünschte: Maria als Mittlerin der Gnaden“ (S. 352 f).

    Bereits beim marianischen Kongress von 1958 in Lourdes seien, so unser Autor, unter den Mariologen „zwei Richtungen zu Tage getreten, eine maximalistische, die alle göttlichen Privilegien Mariens aus ihrer göttlichen Mutterschaft im Rahmen der hypostatischen Ordnung ableitete“, also letztlich aus dem Mariendogma von Ephesus, „und eine minimalistische, der zufolge die Mariologie ihre Grundlage im Parallelismus von Maria und der Kirche besaß“. „Die erste Richtung wurde als ‘christotypisch’ bezeichnet, weil sie die enge Verbindung von Christus und seiner Mutter in dem einen Heilsgeschehen betonte. Aus dieser Vereinigung rührten die Miterlöserschaft und die Mittlerschaft Mariens her. Die zweite Richtung vertrat hingegen die Ansicht, dass die Rolle Mariens der Rolle der Kirche, welcher der erste Platz nach Christus zukomme und von der Maria nur ein Mitglied sei, untergeordnet sei. Ihre Privilegien wurden auf das Innere der christlichen Gemeinschaft beschränkt, deren ‘Typus’ und Modell sie war. Aus diesem Grund wurde die Richtung ‘ekklesiologisch’ genannt“ (a.a.O. S. 353 f).

    Eine „anti-maximalistische“, in Wahrheit anti-marianische Offensive wurde von den Konzilstheologen Congar, Rahner und Laurentin gestartet. Gegen die Ausführungen des „Mariologen“ Laurentin wandte sich als Verteidiger der Gottesmutter der wahrhaft große Mariologe P. Roschini. In seiner ausführlichen Untersuchung gelangt er zu dem Ergebnis, daß man von einer „maximalistischen Richtung“ eigentlich gar nicht sprechen konnte. Man „kann hingegen mit sachlichem Fundament von einer minimalistischen Richtung sprechen, die die Lehre des ordentlichen Lehramtes komplett übergeht und absolute Wahrheiten nicht nur leugnet und in Zweifel zieht, sondern sogar bis an den Punkt vorgestoßen ist, dem Glauben an die göttliche Mutterschaft ‘vorzuziehen’, um die allerheiligste Maria schließlich mit der Kirche zu identifizieren und sie damit auf das Niveau aller anderen Glieder des mystischen Leibes Christi herabzusetzen, als prima inter pares“ (a.a.O. S. 358).

    In Wahrheit handelte es sich also um eine weitere Schlacht zwischen dem apokalyptischen Weib und ihrem Anhang sowie der Schlange und deren Anhang. Bekanntlich setzten sich die „Minimalisten“ im Namen des „Ökumenismus“ durch und machten so das „II. Vatikanum“ zum „Anti-Ephesus“.

    Anti-Tridentinum

    Am 4. Dezember 1963 wurde die „Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium“ in öffentlicher Sitzung in Anwesenheit von Paul VI. mit 2147 zu 4 Stimmen und somit fast einmütig angenommen.

    „Kard. Noé erwähnt, dass genau vierhundert Jahre zuvor, am 4. Dezember 1563, das Konzil von Trient zu Ende ging, nachdem es dem Papst die Liturgiereform übertragen hatte. ‘Jetzt beendete die Liturgiekonstitution in gewissem Sinn die Geschichte der tridentinischen Liturgie, und es begann die neue Phase der Reform oder ‘erneuerten’ Liturgie.’ Der Kanoniker Aimé-Georges Martimort interpretierte die symbolische Koinzidenz als ‘das Ende des Zeitalters der Gegenreformation’“ (Mattei a.a.O. S. 402). Martimort und andere sahen in dem Dokument den Ausdruck einer „neuen Ekklesiologie“ (ebd.). Die Umkehrung von Trient, das „Anti-Tridentinum“, war damit gelungen.

    Anti-Vatikanum

    Bischof Antonio de Castro-Mayer schrieb in den 1980er Jahren einen Artikel, der folgendes enthüllte:

    "Am 8. Dezember 1869 wurde in Rom das (I.) Vatikanische Konzil eröffnet. Am gleichen Tag eröffnete Ricciardi, ein Abgeordneter aus Savoyen, in Neapel das „Freimaurer-Gegenkonzil“, dem Freimaurer aus ganz Europa angehörten. Unter ihnen stachen hervor Männer wie Victor Hugo, Edgar Quinet, Michelet und Giuseppe Garibaldi, der Zerstörer der weltlichen Macht des Papstes. Papst Pius IX. hatte die Absicht, den Glauben der Katholiken gegen das Einwirken von Rationalismus und Naturalismus zu stärken, die dem katholischen Volk von der Französischen Revolution aufgedrängt worden waren. Das Ziel der Freimaurer war, das Werk Pius’ IX. zu bekämpfen. Ricciardi fasst die Aufgabe des Freimaurerkonzils mit diesem Satz zusammen: „Im Namen des heiligen Grundsatzes der Gewissensfreiheit erklären wir gegen die Verblendung und Lüge in Gestalt der katholischen Kirche, vor allem in Form des Papsttums, einen immerwährenden Krieg.“
    Am 16. Dezember veröffentlichte das Freimaurerkonzil seine Beschlüsse: Selbständigkeit des Staates gegenüber der Religion, Abschaffung der Staatsreligion, religiöse Neutralität im Erziehungswesen, Unabhängigkeit von Sitte und Moral in Bezug auf die Religion. Die italienische Zeitschrift „Chiesa Viva“ berichtet uns folgendes bezüglich des Freimaurerkonzils von 1869 und des „II. Vatikanischen Konzils“, das kaum ein Jahrhundert später stattfand (Novemberausgabe 1984): Wer bei den Dokumenten des Vat. II den § 75 der Konstitution „Gaudium et Spes“ betrachtet und im besonderen die Erklärung „Dignitatis humanae“ über die Religionsfreiheit, dem muss auffallen, dass das Konzil die wichtigsten Grundsätze des Gegenkonzils von 1869 aufgenommen hat und, ob man will oder nicht, die ideale Fortsetzung dessen darstellt, was sich dem Vaticanum I und dem Syllabus widersetzt. Und wieder einmal kann man feststellen, dass Vatikan II im Mittelpunkt der Kirchenkrise steht."

    (Monitor Campista, 10. März 1985; Heri et Hodie, N° 59, November 1988)

    Sollte es also vielleicht sein, daß das „II. Vatikanum“ gar nicht wirklich zur „Tradition des Evangeliums, der Apostel, der ersten Christen und der Väter“ zurückgekehrt ist, sondern eine ganz andere „Kontinuität“ hergestellt hat, daß es nicht die Fortsetzung von Vaticanum I gewesen ist, sondern die des damals parallel dazu abgehaltenen Freimaurer-Konzils? Offensichtlich ist das die wahre „Tradition“ und „Kontinuität“, in welche sich dieses „Konzil“ einordnet, in die Tradition des immerwährenden Krieges der Freimaurer „gegen die Verblendung und Lüge in Gestalt der katholischen Kirche, vor allem in Form des Papsttums“, in die Kontinuität jener falschen, revolutionären und liberalen Prinzipien, die von den Päpsten stets verurteilt worden sind.

    Es wäre also wohl richtiger, statt von „Vatikanum I“ und „Vatikanum II“ lieber vom „Vatikanum“ und dem „Anti-Vatikanum“ zu sprechen.

    Freimaurer-Konzil

    In der Freimaurerzeitschrift „Les échos du Surnaturel“ erschien in der Ausgabe Dezember 1961/Januar 1962 „das Zeugnis eines durch mehrere Bücher bekannten Autors“: „Was das Konzil betrifft, so habe ich Kardinal Roncalli (dem ehemaligen Nuntius in Paris, dessen Berater ich war) am 14. August 1954 geschrieben, um ihm seine künftige Wahl (zum Papst) mitzuteilen und ihn um ein Treffen während der Ferien in seinem Heimatland zu bitten, wobei wir seine erste Aufgabe erörtern könnten … das Konzil. Ich mahnte ihn nachdrücklich: ‘Bitte denken Sie über all dies nach, denn es wird keine Zeit für Ausflüchte geben. Sobald Sie den päpstlichen Thron bestiegen haben, muß der Plan sogleich in Gang gesetzt werden und sämtliche Politiker überraschen’“ (zitiert nach: Die Verfinsterung der Kirche, S. 67).

    Yves Marsaudon, Freimaurer des 33. Grades des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus, schreibt in seinem Buch L'oecuménisme vu par un Franc-Maçon de Tradition: „Wir meinen, daß ein Freimaurer, der diesen Namen verdient, nichts als ungetrübte Freude über die unwiderruflichen Ergebnisse des Konzils [des „II. Vatikanums“] empfinden kann. … Man kann wirklich von einer Revolution sprechen, die von unseren Freimaurerlogen ausgegangen ist“ (zitiert nach: ebd. S. 102f).

6. Das II. „Vatikanum“ war in Wahrheit ein „concilium malignantium“, ein Freimaurer-Konzil, welches alle ökumenischen Konzilien der katholischen Kirche negiert und gleichsam auflöst, ein Anti-Ephesus, Anti-Tridentinum, Anti-Vatikanum. Und dieses „concilium malignantium“ ist also nun von jedem zünftigen „Piusbruder“ zu 95 Prozent anzunehmen. Man wird somit zu 95 Prozent anti-katholisch. Wir sehen, wohin man gelangt, wenn man einmal den Pfad der Ideologie eingeschlagen hat. Wer nun meint, weiterhin bei der „Piusbruderschaft“ bleiben und daher diesem neuen Dogma zustimmen zu können und zu sollen – dem ist wahrhaft nicht mehr zu helfen.