Der hl. Thomas über die vier Kardinaltugenden

Im Brief des hl. Apostels Paulus an die Galater lesen wir: „Als aber die Fülle der Zeit kam, sandte Gott Seinen Sohn, geboren aus einem Weibe und dem Gesetze untertan, um die zu erlösen, die unter dem Gesetze standen, damit wir an Kindes Statt angenommen würden. Weil ihr nun Kinder seid, sandte Gott in eure Herzen den Geist Seines Sohnes, der da ruft: Abba, Vater! So ist also keiner mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, dann auch Erbe durch Gott.“

Durch die Menschwerdung und Erlösung wird unser Leben vollkommen verändert, es wird von Grund auf erneuert. Wir werden aus der Sklaverei der Sünde und Satans befreit und wieder als Kinder Gottes angenommen. Als Kinder Gottes müssen wir aber sodann auch den Geist in unseren Herzen tragen und bewahren, der da ruft: Abba, Vater! Das Vorbild für dieses neue Leben als Sohn ist der menschgewordene Sohn Gottes selbst, von dem es im Evangelium heißt: „Der Knabe aber wuchs heran und erstarkte; Er war voll Weisheit, und die Gnade Gottes ruhte auf Ihm.“ Der Herr konnte und mußte als Mensch wie wir lernen und sich bemühen. Auch wenn Er keinerlei Neigung zur Sünde, zum Unvollkommenen, zum Ungeordneten kannte, konnte er dennoch in Seiner menschlichen Erkenntnis und Tugend wachsen. Was Ihm jedoch ganz „natürlich“ war, das müssen wir uns mit viel Fleiß und Mühe aneignen. Damit unser Menschsein wieder recht ist, wieder ins rechte Lot kommt, müssen wir viele Tugenden üben und viele Fehler ablegen. Dabei ist unser Herr Jesus Christus für uns das vollkommene Vorbild eines rechten Menschenlebens, ER ist „Ursache“ unserer Heiligkeit und zwar im doppelten Sinn des Wortes.

Die vier Kardinaltugenden oder Der gottgemäße Mensch

Zum Rechtsein des Menschen sind die Tugenden notwendig – die göttlichen oder theologischen Tugenden und die Kardinaltugenden. Das Wort der Heiligen Schrift von der Vollkommenheit des Christen – der nicht mehr Knecht ist, sondern Sohn und Erbe! – wird interpretiert durch das siebenfältige Bild der drei göttlichen und der vier Kardinaltugenden. Wir wollen versuchen, anhand eines Textes des hl. Thomas von Aquin über die Kardinaltugenden diese Lehre etwas zu beleuchten. Der hl. Thomas von Aquin schreibt dazu folgendes:

„Es ist zu sagen, daß die Zahl aller Dinge entweder genommen werden kann nach deren Formalprinzip oder nach deren (unmittelbarem) Träger (Subjekt). Und nach beider Weise finden sich vier Kardinaltugenden.
Das Formalprinzip der Tugend, über die wir hier sprechen, ist: Das Gute, wie es der Vernunft entspricht (bonum rationis). Das kann nun zweifach betrachtet werden. Einmal so, wie es sich ergibt aus der Achtung auf die Vernunft selbst. Und da ist dann die Haupt-Tugend: die Klugheit. Dann aber kann das Gute noch betrachtet werden, insofern auf irgendeinem Gebiet die Ordnung der Vernunft verwirklicht wird. Und das geschieht in bezug auf die Tätigkeit (des Menschen) — und da haben wir die Gerechtigkeit; oder es geschieht in bezug auf die Passionen (Leidenschaften) — und da sind noch zwei Tugenden nötig. Denn die Ordnung der Vernunft ist zu verwirklichen gegenüber jenen Leidenschaften, die sich auflehnen gegen die Vernunft. Das aber kann in zweifacher Weise geschehen: auf die eine, indem die Leidenschaft anreizt zu etwas, was der Vernunft entgegen ist. Und dann ist es notwendig, daß die Leidenschaft unterdrückt wird — das nennt man Mäßigung. Auf die andere Weise aber kann die Leidenschaft auch abhalten von dem, was die Vernunft (als gut und recht) befiehlt, wie z.B. die Furcht vor Gefahren oder Scheu vor Arbeiten und Mühen. Und so ist es nötig, daß der Mensch gefestigt wird in dem, was der Vernunft gemäß ist, damit er eben nicht abweiche. Das aber nennt man Tapferkeit (Starkmut).
Auf ähnliche Weise findet man dieselbe Zahl, wenn man auf den unmittelbaren Träger (das Subjekt dieser Tugenden) schaut. Vierfältig ist der Träger dieser Tugend, von der wir hier sprechen: zunächst das Vernünftige (Rationale) seinem eigentlichen Wesen nach, das vollendet die Tugend der Klugheit; dann das Vernünftige durch Teilhabe (an der Vernunft). Das verteilt sich auf drei; nämlich: 1. auf den Willen, und dieser ist das Subjekt der Gerechtigkeit; 2. auf das Begehrliche (concupiscibile), und das ist der Träger der Zucht (Mäßigung); 3. endlich auf das Widerstrebende (Zornmütige: irascibile) — und das ist der Träger der Tapferkeit.“
(Summa Theologica I. IIae qu. 61, a. 2)

Diese Lehre über die Kardinaltugenden hat der heilige Thomas aus einer uralten Tradition übernommen. Diese Tradition reicht über die Kirchenväter bis hinauf zu den griechischen Philosophen, darunter vor allem Aristoteles. Er gibt in seiner sehr kurzen, allerdings nicht ganz leicht verständlichen Sprache eine so einfache Darstellung dieser vier Tugenden, daß es an sich genügt, seine Lehre aufmerksam zu hören.

Die vier Kardinaltugenden sind nach dem hl. Thomas von Aquin eine glückliche Zusammenfassung aller jener Möglichkeiten, die der Mensch auf dem Weg seiner sittlichen Vollendung hat — und zwar wenn man den Menschen einerseits auf sich gestellt und anderseits in seiner Beziehung zu den anderen Menschen ins Auge faßt. Man kann jedoch nicht sagen, daß damit auch schon die Beziehungen des Menschen zu Gott zum Ausdruck gebracht werden, die Kardinaltugenden sind natürliche Tugenden, die auf die göttlichen Tugenden hingeordnet sind. Dennoch stehen diese vier Tugenden selbstverständlich auch schon als natürliche Tugenden insofern zu Gott in Beziehung, als sie klar zusammenfassen, was Gottes Wille für das Streben des Menschen nach sittlicher Vollendung ist. Geht man dem Gesagten etwas tiefer auf den Grund, dann wird man auch in diesen vier Grundhaltungen der Menschenseele die Ansätze entdecken, wie der Mensch sich Gott gegenüber zu verhalten hat. Ja, wenn man das Gesamt des erlösten Menschen, das doch die Voraussetzung für die vollkommene Übung der Kardinaltugenden ist, erwägt, dann wird der Zusammenhang dieser Tugenden mit Gott und Seiner helfenden Gnade unmittelbar einleuchtend.

Wir wollen nun versuchen, ein wenig nachzuzeichnen, wie der heilige Thomas die innerliche Befähigung des Menschen zum sittlichen Streben und Handeln durch die vier Kardinaltugenden sieht.

Alles Handeln des Menschen beginnt mit der Erkenntnis. Ohne eine Erkenntnis ist der Mensch vollkommen unfähig, etwas zu tun. Wenn ich nämlich nicht weiß, was ich tun soll, dann kann und werde ich auch nichts tun. Selbst ein sog. plan- und zielloses Umherirren ist noch an eine gewisse, wenn auch unklare Erkenntnis des jetzt und hier zu Tuenden gebunden – außer der Mensch hat ganz seinen Verstand verloren und ist nicht mehr zurechnungsfähig und damit nicht mehr verantwortlich für sein Tun, weshalb auch nicht mehr plan- und ziellos umhergeht, sondern hilflos umherirrt. Der Mensch muß also zunächst das Gute, das er tun soll, jeweils zuerst recht erkennen, um es sodann in seinem Tun und Handeln verwirklichen zu können, bzw. sein Tun und Handeln danach ausrichten zu können. Die Erkenntnis des sittlich Guten ist jedoch ein ganz besonderer Fall. Diese Erkenntnis ist wesentlich anders als die Erkenntnis irgendeiner anderen, man könnte sagen „neutralen“ Wahrheit, wie etwa die Wahrheit, daß sieben plus vier gleich elf ist. Gleiches gilt für alle mathematischen oder naturwissenschaftlichen Wahrheiten, die an sich ganz nüchtern für sich betrachtet werden können, ohne eine Konsequenz im menschlichen Handeln zu fordern. Das Gute jedoch stellt immer zugleich mit der Erkenntnis die konkrete Forderung: Du mußt dein Denken, Reden und Handeln der erkannten Wahrheit gemäß einrichten. Deswegen erfordert schon die bloße Erkenntnis des Guten eine innere Bereitschaft des Herzens, sich von dem erkannten Guten auch leiten zu lassen. Infolgedessen ist bereits das Annehmen oder Zulassen einer solchen Erkenntnis wiederum eine sittlich gute Tat, weil dem Menschen nicht unschwer auch vielerlei Gründe einfallen — es handelt sich natürlich nur um vorgeschobene Gründe, Scheingründe! — die ihm ein gegenteiliges Handeln als vorteilhafter erscheinen lassen. Darum braucht es auch eine längere Zeit der Übung, bis der Mensch es fertigbringt, mit einer gewissen Raschheit und Leichtigkeit jeweils das zu erkennen, was für den Augenblick wirklich und richtigerweise zu tun oder zu lassen ist. Dies wird dem Menschen in der Regel erst dann gelingen, wenn er nicht nur das Erkennen über längere Zeit hinweg immer wieder geübt hat, sondern sich auch praktisch im Tun nach dieser erkannten Erkenntnis gerichtet hat. — Jeder kann doch auch nur bei geringer Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber ganz klar einsehen, daß sich zwischen dem Erkennen einer Sache und dem Tun derselben noch manches in den Weg stellen kann, bzw. in den Weg stellen möchte. Und je öfter sich jemand gegen sein besseres Wissen und Gewissen zum schlechteren Tun oder Unterlassen verleiten läßt und entscheidet, desto schwieriger wird ihm mit der Zeit auch schon das Erkennen des Guten, geschweige denn das Tun.

All das ist zu bedenken und zu berücksichtigen, wenn man verstehen will, warum der heilige Thomas durchaus mit Recht — übrigens in Übereinstimmung mit allen großen Lehrern der Menschheit — schon die Fähigkeit, das Gute richtig und schnell zu erkennen, das gerade zu tun ist, als eine sittliche Tugend ansieht. Diese Tugend nennt er die Klugheit.

Nun wird die Art jeder Tugend nach der Art des Guten bestimmt, wonach sie streben soll. Das nennt der hl. Thomas das Formal-Prinzip der Tugend. Man kann also ganz allgemein gesprochen sagen: das, wonach sich jegliche Tugend des Menschen zu richten hat, ist das Gute im Gesamtumfang, wie es der Vernunft des Menschen erkennbar ist. Des Menschen erste und wichtigste Aufgabe ist es, das Gute zu verwirklichen, also das zunächst nur in seiner Erkenntnis seiende Gut durch sein Handeln in Wirklichkeit zu wandeln. Aufgrund dieser Erwägung kommt der heilige Thomas zu dem kurzen Satz: das Formalprinzip der Tugend überhaupt ist das „bonum rationis“, also das Gute, das der Vernunft gemäß ist, denn das Gute ist immer vernünftig. Gutsein und Vernünftigsein sind nämlich dasselbe, alles Gute ist vernünftig und alles Vernünftige ist gut. Infolgedessen ist es sofort einleuchtend, daß jene Tugend die Haupttugend schlechthin (virtus principalis) genannt werden muß, welche auf die Vernunft selbst achtet; d. h. das richtige und schnelle Erkennen des Guten als Gutem übt. Denn solange etwas nicht als „gut“ erkannt ist, kann überhaupt keine gute Fähigkeit des Menschen in Aktion treten, wüßte sie ja gar nicht, wohin sie sich eigentlich wenden oder was sie denn in Angriff nehmen soll. Es ist eine überaus wichtige Erkenntnis der Alten überhaupt, daß die Klugheit allen anderen Tugenden vorangehen muß, denn ein unkluges Handeln verdirbt alles. Ja, die Klugheit ist nicht nur die erste unter im übrigen gleichrangigen Tugenden, sondern sie „gebiert“ alle sittliche Tugend überhaupt, wie sich der hl. Thomas ausdrückt. Wenn man also die ganze Lehre des heiligen Thomas von den Tugenden beachtet, dann ist eines festzuhalten: bei allen anderen Tugenden kann immer nur insoweit von einer Tugend gesprochen werden, als Klugheit vorhanden ist. Man kann dem Menschen letztlich nur solche Handlungen voll anrechnen, die er vorher auch klar und sicher erkannt hat und die er gerade deswegen tun wollte, wie er sie als gut und richtig erkannt hatte. (Das gilt im Guten wie im Bösen). Deswegen kann man ihm auch nicht gleich irgendeine gute natürliche Veranlagung als Tugend anrechnen. Solange also jemand nur aufgrund seiner glücklichen Charakteranlage, ohne zu überlegen und zu denken einfach „blindlings“ so oder so handelt, ist das noch keine Tugend. Zuerst muß die Überlegung und Erkenntnis, daß dies gut ist, vorausgegangen sein.

Sobald man das einigermaßen verstanden hat, wird man weiterhin einsehen: je vielfältiger die Pflichten eines Menschen sind, desto weiter und reicher müssen auch seine Erkenntnisse in bezug auf das Gute sein. Darum ist die Klugheit ganz sicher keine leichte Tugend, die einem schon bei geringem Bemühen einfach in den Schoß fällt. Klugheit erfordert manch harte und beharrliche Arbeit des Geistes (des Verstandes, der Vernunft), sie erfordert zudem die Fähigkeit, fremden Ratschlägen gegenüber offen zu sein und schließlich noch die Bescheidenheit, in schwierigen Fragen andere um Rat und Belehrung zu bitten.

Gehen wir nun zum Zweiten über: Bei jeder Handlung geht es darum, daß etwas Gutes geschieht, Wirklichkeit wird durch die Tat. Beim hl. Thomas heißt das ganz prägnant: daß die Ordnung der Vernunft sich durchsetzt, daß sie verwirklicht werde. Thomas unterscheidet zwei große Bereiche, auf denen der Mensch diese Ordnung der Vernunft zu verwirklichen hat. Der eine Bereich sind seine Tätigkeiten, gemeint ist sein aktives Tun, der andere Bereich ist der des Erleidens. Wir wollen das lateinische Wort (passiones), das Thomas hierbei gebraucht, zunächst ganz wörtlich belassen. Zu den Passionen des Menschen gehören all jene Handlungen, die der Mensch duldend, ertragend, erleidend bewältigen muß. Wir sagen dafür im Deutschen „Leidenschaften“. Das deutsche Wort trifft den Sachverhalt ganz gut, denn es kommt vom „Leiden“. Entsprechend kann man durchaus richtig sagen: Leidenschaft ist das, was Leiden schafft. Dennoch meint der heilige Thomas mit dem Wort „passiones“ etwas anderes, spezielleres. Er meint: das erste Regen dieser Leidenschaften im Menschen kommt zunächst nicht aus dem freien Willen des Menschen, sondern die Leidenschaften überfallen den Menschen wie ein Leiden. Er verhält sich diesen Begierlichkeiten oder Widerstreblichkeiten gegenüber zunächst „passiv“, erleidend. Er kann nichts dafür — zunächst — daß z. B. das Ansehen einer leckeren Speise seine Begierde darnach weckt oder daß eine drohend erhobene Faust Furcht auslöst. Diese Reaktionen sind zunächst spontan und insofern von der Vernunft noch nicht kontrolliert, d.h. geordnet. Es ist nun die sittliche Aufgabe des Menschen, sein Verhalten so zu lenken und zu leiten, daß er trotz seiner Leidenschaften immer das Vernünftige zu tun imstande ist. Daß er etwa, wenn er am Freitag von einer heftigen Begierde nach einem Braten ergriffen wird, dennoch auf diesen verzichtet, um des Leidens seines göttlichen Erlösers zu gedenken. Oder daß er, wenn er angegriffen wird, die Angst überwindet und sich entsprechend verteidigt oder rechtzeitig flieht, wenn es das Vernünftigere ist. Der Mensch soll also durch die Tugenden lernen, in allen Bereichen seines Lebens die Ordnung der Vernunft durchzusetzen.

Im Bereich des Tuns geht es vor allem darum, die Forderungen der Gerechtigkeit zu erfüllen. Der Mensch lebt gewöhnlich nicht allein, sondern in einem Gemein-Wesen. Jede Gemeinschaft ist letztlich gegründet auf drei Grundregeln: Erstens die Beziehungen der Glieder untereinander; die Rechtmäßigkeit dieser Beziehungen ist der Tauschgerechtigkeit zugeordnet. Zweitens die Beziehungen des Ganzen zu den Gliedern; die Rechtmäßigkeit dieser Beziehungen ist bezogen auf verteilende, die distributive Gerechtigkeit. Drittens die Beziehungen der einzelnen Glieder zum Wir-Ganzen; die Rechtmäßigkeit dieser Beziehungen entspricht der „legalen“ Gerechtigkeit, wie es die Scholastik nennt. Die Gerechtigkeit fordert nun, jedem genau das zu geben, was ihm auch wirklich, gerechterweise zukommt. Die Gerechtigkeit ist somit das, was das Tun des Menschen in der Gemeinschaft bestimmt (das Formalprinzip, wie Thomas es nennt) und folglich gut macht. Hat jemand über lange Zeit sein Tun nach den Forderungen dieser Gerechtigkeit ausgerichtet und sich darin eine gewisse Fertigkeit und Schnelligkeit des Handelns angeeignet, so sagt man, er besitze die Tugend der Gerechtigkeit.

In bezug auf das „Erleiden“ ist eine weitere Unterteilung vonnöten:

Einerseits bestimmt die Ordnung der Vernunft bei den Begehrlichkeiten das entsprechende Bezähmen und Maßhalten. Daher nennt man die diesbezügliche Tugend auch kurz Mäßigung. Josef Piper spricht von „Zucht und Maß“. Das Verständnis der Tugend des Maßes setzt letztlich die Lehre von der Erbsünde voraus, also die Erkenntnis, daß jene zerstörerische und seinswidrige Auflehnung der Sinne gegen den Geist möglich ist und als möglich anerkannt wird. Daraus ergibt sich erst die sittliche Forderung, dieser Auflehnung entgegenzutreten und durch die Übung der Zucht und des Maßes diese Leidenschaften zur von der Vernunft bestimmten Ruhe und Gefaßtheit zurückzuführen, wobei gewöhnlich ein Zuviel und ein Zuwenig zu meiden ist.

Andererseits gebietet die Ordnung der Vernunft in bezug auf die widerstrebenden Leidenschaften (z. B. Furcht und Scheu vor den Schwierigkeiten des Guten oder Zorn dagegen usw.) das Überwinden dieser Gefühle, das „Trotzdem“— und das ist Starkmut oder Tapferkeit. Wobei immer zu bedenken ist, was der hl. Thomas sagt: „Das Lob der Tapferkeit hängt von der Gerechtigkeit ab.“ Man kann also jemand nur wegen seiner Tapferkeit loben, wenn man ihn zugleich auch wegen seiner Gerechtigkeit loben kann. Damit wird unmittelbar greifbar, daß Tapferkeit nichts mit Tollkühnheit zu tun hat. Tapferkeit ist auch nicht einfach Furchtlosigkeit. Es gibt vielmehr eine Ordnung der Furcht, also wahrhaft und mehr und weniger zu fürchtende Dinge. Die Sorge des Tapferen ist, daß er nicht etwa Dinge fürchte, die gar nicht wirklich und endgültig furchtbar sind, und daß er nicht etwa das endgültig Furchtbare für harmlos halte. Das eigentlich Furchtbare aber ist nichts anderes als die Möglichkeit, daß der Mensch sein eigentliches, letztes Ziel verfehle. Das vor Gott Schuldigwerdenkönnen ist die äußerste Existenz-Gefährdung des Menschen, also das Furchtbarste, das der Tapfere mit dem ganzem Mut seiner Seele zu meiden sucht.

Aus dem Gesagten ergibt sich auch das Verständnis für die andere, vom hl. Thomas erwähnte, Betrachtungsweise. Er empfiehlt als zweite Art, die Kardinaltugenden einzuteilen, den Blick auf den unmittelbaren Träger der Tugend zu lenken, der im Menschen ist. Hiermit wendet man den Blick in das Innere des Menschen selbst, kommt jedoch zu demselben Ergebnis. Es ergeben sich dieselben Tugenden und die Klarheit der Erkenntnis über sie wächst dadurch nur noch mehr.

Der Mensch hat in sich drei Fähigkeiten: Erkennen, Wollen, Fühlen. Mit diesen drei Fähigkeiten soll und muß er sich in bezug auf das Gute in Bewegung setzen.

Das Erkennen des Guten vervollkommnet sich in der Klugheit, was jeder nach dem oben Dargelegten ohne weiteres einzusehen wird. Wobei Klugheit hier durchaus nicht ein bloßes Sich-Auskennen etwa in allen möglichen Wissensgebieten ist, eine Vielwisserei, sondern vielmehr das rasche und leichte Erkennen der Möglichkeiten und Pflichten des Guten. Je klüger jemand ist, desto wirksamer wird sein Erkennen im Tun des Guten.

Dem Wollen zugeordnet ist die Gerechtigkeit. Wenn das Wollen eines Menschen ganz und gar gerecht ist, wenn er also sowohl Gott als auch jedem Menschen immer das gibt, was ihm gerechterweise zukommt, so nennt man diesen Menschen gerecht, was nichts anderes ist als heilig. Es ist durchaus nicht zufällig, daß die Heilige Schrift und die Liturgie der Kirche den begnadeten Menschen überhaupt als „den Gerechten“ bezeichnet. Der große Philosoph Aristoteles meint sogar: „Die höchste unter allen Tugenden ist die Gerechtigkeit; nicht der Morgenstern ist solcher Bewunderung wert wie sie, noch der Abendstern.“

Das Fühlen des Menschen hat eine zweifache Tugend nötig. Das Fühlen kann sich nämlich dem Unguten gegenüber oft heftig begehrlich äußern kann, wohingegen es sich dem Guten gegenüber widerstrebend und ablehnend zeigt. Darum muß das begehrliche Fühlen gedämpft und zurückgehalten werden durch die Zucht und Mäßigung. Das widerstrebende Fühlen aber muß unterdrückt werden durch Starkmut oder Tapferkeit.

Wir wollen jetzt noch kurz darauf schauen, wie der hl. Thomas von Aquin von der Verteilung der Seligpreisungen auf diese Seelenvermögen des Menschen spricht, wobei er besonders darauf hinweist, daß die Tugenden erst durch die Gnadengaben vollendet werden:

„Zum zweiten aber besteht das Genußleben (voluptuosa vita) darin, daß man den eigenen Leidenschaften folgt, sei es den begehrlichen, sei es den widerstrebenden. Von der Nachgie­bigkeit gegenüber den widerstrebenden (zornmütigen) Leidenschaften hält den Menschen ab jene Tugend, die ein Überschäumen nach den Regeln der Vernunft verhindert. Die Gnadengabe aber bewirkt dies in noch vollkommenerer Art, so nämlich, daß der Mensch gänzlich davon befreit und ruhig wird; deshalb wird als zweite Seligkeit vorgesetzt: selig die Sanftmütigen; von der Nachgiebigkeit der begehrlichen Leidenschaften aber hält den Menschen zurück jene Tugend, die bewirkt, daß er diese begehrlichen Triebe mit Maß und Zucht benützt; die Gnadengabe aber bewirkt, daß er diese, wenn es nötig ist, total verwirft; ja daß er, wenn es nötig ist, freiwillige Trauer auf sich nimmt. Daher die dritte Seligkeit: Selig die Trauernden.“
(I, IIae qu. 69, a. 3)

Diese Erwägungen des hl. Thomas zu den Seligpreisungen bringen die Wahrheit zum Ausdruck, daß die Kardinaltugenden in den theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe) verwurzelt sind. Diese Verwurzelung – also die Art und Weise des Zusammenhangs von natürlichen und übernatürlichen Tugenden – wird ausgesprochen in dem bekannten Grundsatz, daß die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern voraussetzt und vollendet. So vollenden auch erst die theologischen Tugenden alle anderen Tugenden des Menschen und machen den Menschen zu dem, was er vor Gott sein soll und auch wieder durch die Gnaden der Erlösung sein kann: Ein Heiliger!