Das Leben ist ein Spiel

1. In der deutschen Pfadfinderversion des tränentreibenden alten schottischen Abschiedsliedes „Auld Lang Syne“ heißt es am Ende: „Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, das Leben ist ein Spiel. Und wer es recht zu spielen weiß, gelangt ans große Ziel.“ Das könne auch nur Pfadfindern einfallen, sagte einst ein greiser Pfarrer, wenn man bedenke, um welches große Ziel es sich in Wahrheit handle, an das wir gelangen sollen – das ewige Leben nämlich in der unmittelbaren Anschauung Gottes – und die Alternative, die uns droht, wenn wir das Ziel verfehlen – die ewige Verdammnis –, bei so viel erhabenem und bitterem Ernst noch von einem „Spiel“ zu reden!

2. Uns scheint dies ein wenig charakteristisch für unsere Zeit überhaupt. Die modernen Menschen wollen und können nichts mehr wirklich ernst nehmen, nicht einmal den Tod. Schon vor etlichen Jahren, im August 1997, stellte der Herausgeber Heiko Ernst in der Zeitung „Psychologie heute“ fest, daß wir uns „auf dem Weg in die infantile Gesellschaft” befinden: „Eine Generation von Ewig-Pubertären ist dabei, die Bundesrepublik in eine infantile Gesellschaft zu verwandeln.” Er zitiert den Kulturphilosophen Johan Huizinga, der eine „Kultur des Puerilismus” heraufziehen sieht: „'Ganze Bereiche der öffentlichen Meinungsbildung werden durch das Temperament heranwachsender Knaben und die Weisheit von Jugendklubs beherrscht'. Und diese Weisheit sagt: Jungsein ist ein Wert an sich. Erwachsenwerden ist [Mist]. Die Zukunft ist unsicher, die Aussichten düster, laßt uns also jetzt Spaß haben. Das Fun-Prinzip duldet keinen Aufschub, keine Mühsal, die sich - vielleicht - in der Zukunft auszahlt.”

Die Wurzeln der infantilen Gesellschaft sieht der Autor „in den 50er Jahren, als die strengen Werte der Kriegsgeneration - Gehorsam, Fleiß, Ordnung - zerbröselten. Schon während der Adenauer-Ära erkannte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich die Umrisse einer neuen Epoche, die er als ‘vaterlose Gesellschaft’ beschrieb: Die Väter haben in der Nazi-Zeit ihre Autorität verspielt. Physisch und emotional sind sie häufig nicht mehr präsent und kaum noch an der Erziehung beteiligt. [...] Mit der ‘Durchmutterung’ der Erziehung und dem Abdanken der Väter begann die Entwicklung der Heranwachsenden zu stagnieren.”

Erwähnt wird auch der amerikanische Mythologe und Dichter Robert Bly, der in seinem Buch „Die kindliche Gesellschaft“ beschreibt, „wie in den 50er Jahren das jahrhundertealte abendländische ‘Triebkontrollsystem’ zusammengebrochen sei. Dieses System hat aus Heranwachsenden Erwachsene gemacht, indem es sie zwang, sich in (sexuellem) Triebverzicht zu üben, die Autorität der Eltern zu respektieren und den Ernst des Lebens zu akzeptieren: Verantwortung übernehmen, Arbeit suchen, eine Familie gründen, die Befriedigung von Wünschen aufschieben und sexuelle oder aggressive Impulse kontrollieren. So lauteten bis dahin die Vorgaben der Kultur, so lautete die Definition von Reife und Erwachsensein.“

Dieses „psychische Kontrollsystem zerbrach nun, und an seine Stelle trat eine permissive ‘Gesellschaft von Geschwistern’: Elternlose, verwirrte und verwöhnte, miteinander rivalisierende Halberwachsene. Bald begann die Unterhaltungsindustrie, vor allem in Gestalt von Pop-Musik und Fernsehen, die Eltern-Lücke auszufüllen. Jugendidole wie James Dean, Elvis Presley und Marlon Brando übernahmen die ‘Erziehung’ und vermittelten ein neues Lebensgefühl: Laß dir bloß Zeit mit dem Erwachsenwerden! [...] Rock’n Roll und Woodstock markierten den Übergang von einem ‘verklemmten’ Zeitalter in eine lustvolle, narzißtische Kultur der Halberwachsenen. In Kommunen und anderen ‘nicht-repressiven’ Lebensformen wurde das neue, libertäre Ideal vorgelebt. Die Lizenz für Lust und Sex und Spaß war unwiderruflich erteilt.”

Eine wichtige Rolle dabei spielte auch der „Wirtschaftsboom”: „Der war jetzt auf ständig steigenden Konsum angewiesen, um die Produktion anzukurbeln und das Wirtschaftswachstum in Gang zu halten. So mußte er Wünsche und Bedürfnisse nach Dingen stimulieren, die man nicht wirklich braucht. Das funktioniert am besten, wenn eines der wichtigsten der tradierten Erziehungsprinzipien außer Kraft gesetzt wird: der Bedürfnisaufschub. Kinder wollen alles sofort haben und müssen erst mühsam lernen, daß dies nur sehr selten geht. Die Werbung hat dieses Erziehungsziel gründlich umgepolt und die psychische Enthemmung betrieben - Wünsche lassen sich sofort erfüllen. Auch in den Erwachsenen wurde die kindliche Gier wieder geweckt - die Gier nach dem jeweils neuesten Spielzeug. Nach kürzester Zeit wandert alles auf Flohmärkte, in die Altkleidersammlung oder auf den Müll, so wie das Plastikspielzeug der Kinder.”

Die größte „Infantilisierungs-Maschine” ist laut Heiko Ernst das Fernsehen: „Es bedient die in jedem Menschen angelegte Neigung zur Regression perfekt: Den Wunsch, sich aus der harten Realität des Alltags zu verabschieden, dem kindlichen Lustprinzip Raum zu geben, sich passiv zurückfallen zu lassen in eine anstrengungslose Trance. Denn am ehesten entkommen wir der komplizierten Gegenwart, wenn wir hemmungslos albern und kindisch sein dürfen.“ Dabei sind es „nicht nur infantile Programminhalte, die eine Abwärtsspirale der Primitivisierung in Gang setzen. Das Medium sorgt als Medium dafür, daß die Gesellschaft als Ganzes und auf lange Sicht auf einer infantilen Stufe festgehalten wird.“

Der Autor zieht ein kulturpessimistisches Fazit: „Größer als die ökonomischen und ökologischen Hypotheken, die wir den nächsten Generationen hinterlassen, ist die intellektuelle Schuld, die wir auf uns laden: Wir geben unsere Kinder der Verblödung anheim, der sprachlichen Verarmung und emotionalen Verflachung. Weil wir selbst infantil und unreif sind, bieten wir ihnen kein brauchbares Modell des Erwachsenseins. Die Kinder und Jugendlichen von heute wollen Eltern, die nicht einer verkitschten Kindheitsromantik anhängen oder einem verlogenen Jugendlichkeitskult frönen, sondern Erwachsene, an denen sie sich orientieren können und die ihnen ein Modell bieten für Reife, Verantwortungsübernahme, vielleicht sogar für Lebensklugheit und Weisheit.“

3. In den gut sechzehn Jahren seither ist es in dieser Hinsicht sicherlich nicht besser geworden, zumal nicht nur die Programmflut im Fernsehen enorm angewachsen ist und dabei nur noch mehr ins Seichte abglitt. Die sog. „Neuen Medien“ wie Computer, Smartphone, Tablet machen eine virtuelle Welt aus Spaß und quasi ohne Verantwortung überall verfügbar, man tummelt sich in deren sozialen Netzwerken und kann so der Realität praktisch immer und überall ausweichen, wozu auch noch alle Arten von Drogen das Ihrige beitragen.

Die Auswirkungen dieser Haltung sehen wir nicht nur in der Gesellschaft, etwa in der stets weiter zunehmenden Zahl von „Singles“, die sich nicht mehr binden wollen, oder im steigenden Alter solcher, die überhaupt noch heiraten und Kinder kriegen, und dann natürlich im „demografischen Wandel“. Wir sehen sie im Gesundheitswesen, wo es zunehmend an Pflegekräften fehlt, weil die Pflege kranker und alter Menschen eben nicht unbedingt „Spaß“ bereitet. Auch die Wirtschaft wird mehr und mehr zum Feld der „Global Player“ (oder sollten wir sie „Global Gamer“ nennen), die diese als eine Art erweitertes virtuelles Roulette ansehen, wo man sich spielerisch bereichern kann. Doch die schlimmsten Folgen mußten sich zeigen, je mehr diese „Infantilität“ sich auch in der Kirche breit machte.

4. Die Kirche hat es ex natura sua mit den ernstesten und wichtigsten Gegenständen zu tun. Da geht es um Tod und Gericht, um Sünde und Erlösung, um das Seelenheil oder ewige Verdammnis, um das bittere Leiden und Sterben Unseres Herrn Jesus Christus. Wenn hier die Haltung der Infantilität einbricht, was bleibt dann übrig von Askese und Tugendübung, vom eigentlichen christlichen Leben? Kann es uns wundern, daß nicht nur die christliche Ehe, sondern auch und vor allem das Priestertum und der heilige Ordensstand darunter leiden? Denn ohne Ernst und Opfer können diese nicht bestehen, ebensowenig die Werke der Caritas, der barmherzigen Liebe, mit welcher die Kirche zu allen Zeiten so unendlich viel Gutes in der ganzen Welt gewirkt hat.

Die Kirche mußte folglich ihr Erscheinungsbild vollständig ändern. Die Liturgie verlor ihren Ernst, Krabbelgottesdienste, liturgische Tanzveranstaltungen und fröhliche Mahlfeiern wurden ihr Ersatz. Die Caritas wich dem Einsatz für ökumenische Bibelkreise, Fastenessen für Nicaragua und Veranstaltung von lustigen Basaren für „wohltätige Zwecke“. Heilsnotwendigkeit des Glaubens, Lehramt der Kirche, der mühsame Weg der Aszese wurden einem fröhlichen Ökumenismus und charismatischer Begeisterung geopfert und durch „Events“ ersetzt. Auf den „Weltjugendtagen“ huldigen die jungen Leute dem Papst wie einem Popstar und haben gleichzeitig ihre Verhütungsmittel im Gepäck. Selbst Katechismus und Gebet müssen jugendträchtig neudeutsch als „Youcat“ und „Night Fever“ verkauft werden.

Ja, auch das christliche Leben ist zu Spiel und Tanz geworden, zumal allen voran auch die Päpste tanzen. „Spaß haben“ ist auch die Lebensmaxime der modernen Christen. In den Klöstern wird „Wellness“ und „spirituelle Erholung“ angeboten, man berauscht sich in wilden „Halleluja“-Gesängen und betäubt sich damit, daß Gott in seiner so übergroßen Barmherzigkeit ohnehin ganz gewiß niemanden verdammen kann. So wird das Begräbnis zur Auferstehungs- und Heiligsprechungsfeier in weißen oder bunten Gewändern, mit Osterkerze und „Halleluja“ und Lobsprüchen auf den Toten, der nun vom Himmel auf uns herabblickt – was immer man sich darunter noch vorstellen mag, vielleicht irgendwelche rosaroten Wolken – oder eben „in unseren Herzen weiterlebt“. Ein Requiem mit seinen düsteren Drohungen von Gericht, Hölle und Fegfeuer wird höchstens aus künstlerischen Erwägungen „aufgeführt“, zumal man sich dabei „so doll gruseln kann“.

5. Leider, wir müssen es sagen, hat dieser Infantilismus auch vor der sog. „Tradition“ nicht haltgemacht. Wie denn auch? Leben wir doch alle als Kinder in dieser Welt. So konnte es nicht ausbleiben, daß man auch in der „Tradition“ die Dinge nicht mehr wirklich ernstnahm – was hier insofern besonders erstaunt, als man ja gerade den Entgleisungen der Konzilskirche entgehen und ihnen entscheidend entgegenarbeiten wollte. Doch da die „Traditionalisten“ ihre „Tradition“ bevorzugt aus den 1950er Jahren beziehen, in welchen unser Autor oben die Wurzeln der „infantilen Gesellschaft“ verortet, kann uns ihr eigenes Entgleisen auch nicht mehr so verwundern.

Da spielt man also „Tradition“: Prächtige und immer prächtigere Pontifikalämter in brokatenen Gewändern, mit viel Weihrauch, Gregorianischem Choral und voller Altarassistenz, eine Priesterweihe vor der imposanten Kulisse der Pariser Kirche St. Nicolas du Chardonnet, ganz im alten Stil, Tradition pur, wobei der Weihekandidat auf seiner damastenen römischen Kasel in prunkvoller Goldstickerei das Wappen des postmodernistischen „Benedikt XVI.“ trägt. Wird hier noch irgendetwas ernstgenommen?

Oder man spielt „Autorität“: Man bekennt einerseits, selbst unter einem „kanonischen Mangel“, ja einer „Irregularität“ zu leiden, und heischt vergeblich nach „kanonischer Anerkennung“, verschickt aber andererseits „kanonische Mahnungen“ und „Ausschlußdekrete“. Es werden „Exkommunikationen“ über mißliebige Gläubige verhängt und „Prozesse“ gegen unbotmäßige Priester veranstaltet, wobei die Betroffenen freilich brav mitspielen müssen, denn ohne Gläubige, die sich „exkommunizieren“ lassen, und ohne Priester, die sich in „Festungshaft“ nehmen und vor ein Kinder-Tribunal stellen lassen, ginge es ja nicht. Man kann nicht „Räuber und Schande“ spielen, wenn nicht einer den Räuber, der andere die „Schande“ gibt, und nicht „Trapper und Indianer“, wenn es nicht auf jeder Seite Mitspieler hat. Wie im Kindergarten eben.

Und man spielt „Papst- und Glaubenstreue“: Man anerkennt voll und ganz den jeweiligen „konziliaren Papst“ als wahrhaft katholischen Papst und verspricht, „für ihn öffentlich zu beten“, verweigert ihm „jedoch die Gefolgschaft in seiner Abwendung von der katholischen Tradition, insbesondere auf dem Gebiet der Religionsfreiheit und des Ökumenismus und in den Reformen, die für die Kirche schädlich sind“. Man anerkennt also und betet öffentlich für einen „Papst“, der sich von der katholischen Tradition abgewendet hat, die Religionsfreiheit und den Ökumenismus befördert und Reformen einführt, „die für die Kirche schädlich sind“, den man also jedenfalls als „Papst“ nicht ernstzunehmen braucht, der eigentlich nur ein Popanz ist. Darum führt man auch Verhandlungen und hochgewichtige „theologische Gespräche“ mit dem „höchsten Lehramt“ über „umstrittene Punkte in der Lehre der Kirche“. Auch das alles wäre nicht möglich, wenn die Gegenseite nicht – wenigstens in gewissen Grenzen – ebenso kindisch mitspielen würde.

6. Es gibt noch viele weitere Spielchen, die in der „Tradition“ sehr beliebt sind. So spielt man etwa „Pfarrei“ oder „Priorat“, man spielt „Orden“ oder „Kloster“, spielt „Kirchbau“ oder „sakrale Kunst“ usw. usw. Besonders gerne spielt man natürlich mit dem Internet. Ja, auch bei den „Traditionalisten“ können – oder müssen – wir heute singen: „Das Leben ist ein Spiel....!“ Und dabei befinden wir uns in einer Zeit, die so bedeutsam, so ernst, so grausam, so schwerwiegend ist wie vielleicht noch keine Zeit zuvor...

„Denn siehe, der Gebieter, der Herr der Heerscharen, nimmt fort von Jerusalem und Juda Stütze und Stab, jede Stütze an Brot, jede Stütze an Wasser, den Held und den Kriegsmann, den Richter und den Propheten, den Wahrsager und den Ältesten, den Oberen über Fünfzig, den Angesehenen und Ratsherrn, den Künstler und Zauberkundigen. Knaben will ich ihnen geben als Fürsten, Buben sollen über sie herrschen“ (Is 3,1-3).