Revolution der Sinnlichkeit

Eine ganze Flut von Revolutionen hat unsere Kirche in den letzten Jahrzehnten überschwemmt. Einige dieser Revolutionen wurden von klarsichtigeren Katholiken noch wahrgenommen, einige vollzogen sich jedoch beinahe unbemerkt. Von einer solchen soll im folgenden gehandelt werden.

1. Unbemerkte Revolutionen

Die meisten Revolutionen gehen heutzutage relativ unbemerkt vonstatten, denn es können inzwischen ganz grundlegende Werte in Frage gestellt werden, ohne daß sich noch jemand bemüßigt fühlt, irgendetwas dagegen zu unternehmen, weil letztlich die Gleichgültigkeit in den meisten Herzen festen Fuß gefaßt hat. Aus diesem Grunde tun sich die Revolutionäre immer leichter. Wofür sie früher noch Jahrhunderte gebraucht haben, das erreichen sie heute in wenigen Jahrzehnten.

Eine dieser Revolutionen, die kaum von jemand so recht wahrgenommen worden ist, ist die sog. sexuelle Revolution. Dabei ist die geistige Tragweite gerade dieser Revolution kaum zu überschätzen, denn die Revolution des menschlichen Verhaltens in seinem geschlechtlichen Leben hat tiefgreifende Auswirkungen auf viele andere Lebensbereiche. Denken wir nur beispielsweise an Ehe und Familie. Aber nicht diese, die natürliche Keimzelle allen Lebens verheerende Wirkung der sexuellen Revolution soll uns hier beschäftigen, sondern die Auswirkung dieser Revolution auf die Übernatur, auf den wahren Glauben also.

Stefan Meetschen hat in der Tagespost vom 05.06.2007 zu unserem Thema mit dem Artikel „Glaube und Sinnlichkeit“ Stellung genommen. Darin beschreibt er ganz besonders den ungeheuren Einfluß von Johannes Paul II. bei der Neuinterpretation der Leiblichkeit innerhalb der modernen Kirche. Er stellt fest: „Einer der engagiertesten Förderer eines neuen Sexualverständnisses in der Kirche war zweifellos Papst Johannes Paul II. Gleich zu Beginn seines Pontifikats versuchte der sportliche und gegenüber Frauen völlig unbefangene Pole eine ‚sexuelle Revolution’ zu starten“ - Wir wollen dieser Revolution ein wenig nachspüren.

2. Der katholische Glaube und die Sinnlichkeit

2.1. Die Erbsünde und ihre Folgen für den Menschen

Bevor wir uns jedoch direkt der von Johannes Paul II. vorangetriebenen Revolution zuwenden können, ist es notwendig, zuerst einmal die katholische Lehre hierzu zu erarbeiten. Stefan Meetschen fragt in seinem Artikel: „Beginnt man in der Kirche nicht wieder das Inkarnationsprinzip (Gott wurde Mensch und hat den menschlichen Körper somit bejaht) ernster zu nehmen und damit den Katholizismus als eine der sinnlichsten und sinnenfreudigsten Religionen der Welt wiederzuentdecken?“

Es ist zunächst schon etwas seltsam, wenn man angeblich „in der Kirche … das Inkarnationsprinzip“ wieder anfängt, ernst zu nehmen – immerhin ist es das Zentraldogma unseres hl. Glaubens und ohne dieses löst er sich in nichts auf! – und sodann ist man ebenfalls nicht wenig überrascht, wenn der Katholizismus als eine der sinnlichsten und sinnenfreudigsten Religionen der Welt bezeichnet wird. Ist das wirklich so? Ist der Katholizismus… eine der sinnlichsten und sinnenfreudigsten Religionen der Welt?

Dem heutigen Sprachgebrauch nach zu urteilen sicherlich nicht! Die katholische Religion ist wesentlich eine übernatürliche Religion und im Bereich der Übernatur vermögen die Sinne bekanntlich wenig, um nicht zu sagen nichts. Die menschlichen Sinne sind kein direkter Weg zu Gott und die Sinnlichkeit ist überhaupt keiner. Um in die Welt des Geistes zu gelangen, muß der Mensch bekanntlich die sinnlich erfahrbare Welt hinter sich lassen. Das gilt schon ganz allgemein. Mehr noch gilt dies natürlich von der Welt der Gnade, die nur durch den übernatürlichen Glauben erschlossen werden kann. Die Gnade ist den Sinnen nicht zugänglich, sie ist nicht erfahrbar, spürbar, sichtbar.

Hinzu kommt noch ein Weiteres: Der Mensch hat seit der Sünde der Stammeltern im Paradies eine Erblast zu tragen. Zum Modernismus gehört vor allem auch die Leugnung dieser Erblast, der Erbsünde und ihrer Folgen. Wenn diese auch nicht immer direkt – so ehrlich sind die wenigsten Modernisten – geleugnet wird, so doch immer indirekt. Für den Modernisten ist die Erzählung über den Sündenfall nichts weiter als ein Versucht, das Böse in der Welt zu erklären. Die Erbsünde ist für den Modernisten kein geschichtliches Faktum, sie ist keine konkrete Tat, durch die sich das Leben des Menschen maßgeblich geändert hat. Dabei hat die Leugnung der Erbsünde äußerst weitreichende Auswirkungen auf die ganze Theologie. Wer die Erbsünde leugnet, muß notwendiger Weise ein ganz neues Menschenbild entwickeln, weil man den Menschen, wie er heute lebt, nur unter der Berücksichtigung der Folgen der Erbsünde richtig verstehen kann.

Welches sind nun die Auswirkungen der Erbsünde auf das Leben des Menschen? Vor allem drei Folgen werden von den Theologen gewöhnlich genannt:

  1. Durch die Erbsünde hat der Mensch den Stand der heiligmachenden Gnade verloren.
  2. Durch die Erbsünde kamen Leiden und Tod in die Welt.
  3. Durch die Erbsünde verfiel der Mensch einer ungeordneten Begierlichkeit. Seine Leidenschaften gehorchen nicht mehr der Stimme der Vernunft.

Dabei ist zu beachten: Wenn auch durch das Sakrament der hl. Taufe die erste Folge der Erbsünde aufgehoben wird, so bleiben doch die beiden anderen Folgen bestehen. Für unser Thema ist vor allem der dritte Punkt maßgeblich, die durch die Erbsünde entstandene ungeordnete Begierlichkeit in der Seele des Menschen.

Nach der Erbsünde ist der Mensch zwar nicht vollkommen verdorben, wie Luther mutmaßte, sondern seine Natur ist „nur“ verwundet. Selbst ein schwerer Sünder hat noch gewisse natürliche Vorzüge, natürlich gute Neigungen, er ist durch die Sünde nicht ganz und gar schlecht geworden.

Aber dennoch ist durch die Erbsünde in der Seele des Menschen eine Neigung zum Bösen entstanden, zur bösen Lust, wie man es nennt – d.h. zu einer ungeordneten Lustbefriedigung. Der Mensch strebt seit der Erbsünde nicht mehr zunächst und zuerst nach dem Guten, sondern er strebt nach der Befriedigung des eigenen Begehrens. Dies nennt man böse (= ungeordnete) Begierlichkeit. Und weil der Fortpflanzungstrieb eine solche Macht im Menschenleben hat, wird die böse Lust auch meistens mit der sexuellen Lust in Verbindung gebracht. Ja, manchmal wurde sie mit dieser sogar gleichgesetzt, so daß manche Theologen mutmaßten, die Sünde Adams und Evas sei eine sexuelle Verfehlung gewesen. Für Tertullian etwa ist in seinem montanistischen Schrifttum die Unzucht so sehr die Urform der Sünde überhaupt, daß seiner Meinung nach sogar die Engel durch Unkeuschheit gesündigt hätten. Beides ist nicht wahr, sowohl die Sünde Luzifers, als auch die Sünde Adam und Evas waren eine Sünde des Stolzes. Trotzdem wurde die Wirkung der aus der Erbsünde entstandenen ungeordneten Begierlichkeit besonders im sexuellen Bereich des Lebens spürbar. Ein auch nur ganz flüchtiger Blick in die Geschichte genügt, um jedem diese Tatsache genügend vor Augen zu führen. Der heilige Thomas von Aquin führt dies darauf zurück, daß die Erbsünde durch die Fortpflanzung weitergegeben wird und somit in der Geschlechtlichkeit gewissermaßen ihren Sitz, ihren Krankheitsherd hat.

Von dieser Tatsache der besonderen Gefährdung des Menschen durch die böse Begierlichkeit her ist auch allein das Verhalten der Kirche gegenüber dem sexuellen Bereich des Lebens zu verstehen. Die Kirche hat einerseits immer die Ehe verteidigt und das eheliche Zusammenleben als ein hohes Gut angesehen, das es zu schützen gilt, aber sie hat auch anderseits immer eine äußerst große Zurückhaltung und Vorsicht bezüglich der Geschlechtlichkeit an den Tag gelegt. Ihre Jahrhunderte lange Erfahrung in der Seelenführung hat die Kirche zu einer großen Nüchternheit geführt. Niemand sah die Gefahren für das Seelenleben, die sich aus einer allzu großen Freiheit in diesem Lebensbereich ergeben, klarer als die katholische Kirche. In ihren aszetischen Werken hat sie deswegen entsprechende Vorsichtsmaßregeln formuliert, die notwendig sind, den Menschen vor der eigenen bösen Begierlichkeit zu schützen und mit Hilfe der Gnade zu heilen. Je weniger man die Gefährdung des Menschen durch die böse Begierlichkeit ernst nahm, desto unverständlicher wurde die Vorsicht der Kirche, weshalb man diese nicht selten der Prüderie und der Leibfeindlichkeit bezichtigte.

2.2. Die seelischen Folgen der Sünde der Unzucht

Es ist sicher sehr hilfreich zum tieferen Verständnis der Gefährdung des Menschen durch die Sünde der Unkeuschheit, einen kurzen Blick auf die seelischen Folgen dieser Sünde zu werfen. Der hl. Thomas von Aquin geht so weit zu sagen, die Unzucht zerstöre sogar das Gefüge der Person. Hierzu noch einige ergänzende Sätze des Aquinaten:

Durch Unzucht am meisten wird die Tugend der Klugheit verfälscht und verdorben (II, II, 153,5 ad 1); alles, was der Tugend der Klugheit widerstreitet, entspringt zumeist aus der Unkeuschheit (ebenda); Unkeuschheit gebiert eine Blindheit des Geistes, die nahezu völlig die Erkenntnis der Güter des Geistes ausschließt (II, II, 15,3); Unkeuschheit spaltet die Entscheidungskraft (II, II, 53,6 ad 2). Die Tugend der Keuschheit aber macht den Menschen mehr als alles andere fähig und bereit zur Beschauung (II, II, 180,2 ad 3).

Es ist wohl zu beachten, in all diesen Sätzen des hl. Thomas ist nicht von abgetrennten Wirkungen und Folgen die Rede, sondern diese Blindheit ist das zerstörerische Wesen der Unkeuschheit selbst, nicht bloß eine äußere Wirkung und Folge, sondern die innewohnende Wesenseigentümlichkeit dieser Sünde.

Wie ist das zu verstehen? Thomas von Aquin erklärt: „Das Sein des Menschen im eigentlichen Sinne liegt darin: der Vernunft gemäß zu sein. Wenn darum einer in dem sich hält, was der Vernunft gemäß ist, dann heißt es: er halte sich in sich selbst“ (II, II, 155,1 ad 2). Man müßte sich schon tiefer in die Philosophie des hl. Thomas einarbeiten, um das ganze Gewicht dieser Aussage zu begreifen: Das Sein des Menschen im eigentlichen Sinne liegt darin: der Vernunft gemäß zu sein. Erst dann würde man das unermeßliche Unglück verstehen, das die Sünde der Unkeuschheit darstellt, die auf eine ganz besondere Weise dies Sich-selbst-Besitzen und dies Sich-in-sich-selber-Halten des Menschen zerstört. Die unkeusche Verlorenheit und die damit verbundene Selbstpreisgabe der Seele an die sinnliche Welt lähmt nämlich das Urvermögen der sittlichen Person, schweigend den Ruf des Wirklichen zu vernehmen und aus diesem in sich selbst gesammelten Schweigen die der konkreten Situation entsprechende Entscheidung zu treffen. Das ist der gemeinsame Sinn all jener Sätze, in denen von der Verfälschung und Verderbung der Klugheit, von der Blindheit des Geistes und von der Aufspaltung der Entscheidungskraft die Rede ist.

Dies alles ist nun aber nicht so zu verstehen, als rühre jene verderbliche Wirkung der Unkeuschheit daher, daß sich der Geist dem „Sinnlichen“ und „Niederen“ überhaupt zuwende. Solche Zuwendung ist vielmehr durchaus unumgänglich für jegliche Entscheidung; es gehört gerade zum Wesen der Tugend der Klugheit, sämtlichen konkreten Wirklichkeiten ins Gesicht zu blicken, die das konkrete Tun des Menschen betreffen. Nicht das Hinblicken etwa auf den Bereich des Geschlechtlichen begründet demnach die durch die Unkeuschheit gewirkte Blindheit und Taubheit; eine solche Meinung wäre im Grunde manichäisch, also widerchristlich.

Das Zerstörerische liegt vielmehr darin, daß Unkeuschheit den Menschen zutiefst befangen macht und somit unbereit, zu sehen, was wirklich ist. Ein unkeuscher Mensch will nicht sehen, wie die Wirklichkeit der Dinge ist, sondern er will vor allem etwas für sich selbst haben. Darum ist er stets durch ein unsachliches „Interesse“ abgelenkt; sein stets angespannter Genußwille hindert ihn daran, in jener selbstlosen Gelöstheit vor die Wirklichkeit zu treten, die allein eine echte Erkenntnis ermöglicht. Thomas vergleicht die seelische Verfassung eines in der Sünde der Unkeuschheit Befangenen mit dem Löwen, der beim Anblick eines Hirsches nichts anderes zu gewahren vermag als den Fraß. In einem unkeuschen Herzen ist aber nicht nur die Aufmerksamkeitsrichtung immer schon auf ein bestimmtes Gleis festgelegt, sondern das „Fenster“ der Seele hat an „Durchsichtigkeit“, an Seinsdurchlässigkeit also, im gleichen Maße verloren, als eine selbstische Interessiertheit es, wie mit Staub, bedeckt hat.

Die Verlorenheit eines unkeuschen Herzens an die sinnliche Welt hat somit nichts gemein mit der echten Hingabe des Erkennenden an die Seinswirklichkeit, des Liebenden an die Geliebte. Unkeuschheit gibt sich nicht hin, sie gibt sich preis. Der Unkeusche ist immer selbstisch auf den „Preis“ bedacht, auf das Entgelt seiner erschlichenen Lust. Echte Hingabe dagegen kennt weder einen Preis noch ein Entgelt. „Keusch ist das Herz“, sagt Augustinus, „das Gott liebt, ohne auf das Entgelt zu blicken [gratis amatur Deus](Enarrationes in Psalmos 72,32).

Nun ist weiter zu beachten, daß jene Verkehrung echter Erkenntnishaltung sich umso zerstörerischer auswirkt, je unmittelbarer eine Erkenntnis den Menschen selbst betrifft, je mehr sie das Fundament sittlicher Entscheidungen zu sein vermag. Und nicht nur die Erkenntnishaltung wird durch diese Sünde vergiftet und verkehrt, sondern noch mehr die Entscheidungskraft selbst; „am meisten die Klugheit“, sagt Thomas von Aquin (II, II, 153,5 ad 1). Die Tugend der Klugheit aber ist, als die Vollendung des Gewissens, der innerste Quellbezirk der sittlichen Person. Klugheit besagt die Umformung wahrer Erkenntnisse in wirklichkeitsgerechte Entscheidungen. Diese Umformung vollzieht sich in drei Stufen: Überlegung, Urteil, Beschluß. Und auf jeder dieser drei Stufen erweist sich die zerstörerische Gewalt der Unzucht:

An die Stelle des auf das Sein hinblickenden Mit-sich-zu-Rate-Gehens tritt radikale Unbedachtsamkeit und Unbedenklichkeit [inconsideratio]; ein überstürztes Urteil will nicht warten, bis die Vernunft das Für und Wider abgewogen hat [praecipitatio]; und ein Entschluß, falls es dazu kam, bleibt stets gefährdet durch die Unbeständigkeit eines dem Gewoge der Sinneseindrücke ohne Filter sich preisgebenden Herzens. Das muß so sein: ein Messer, das in einer anderen Ebene als in der des Schnittes bewegt wird, kann nicht schneiden; und ohne den geraden und einfältig-selbstlosen Blick auf die Wirklichkeit kann es keine innere Ordnung der sittlichen Person und keine rechte sittliche Entscheidung geben.

Keuschheit dagegen macht nicht nur zur Wirklichkeitsvernehmung fähig und bereit zu wirklichkeitsgerechter Entscheidung, sondern auch zu jener höchsten Form des Wirklichkeitsverhältnisses, in der ungetrübteste Erkenntnishingabe und selbstloseste Liebeshingabe eins sind: zur Beschauung [contemplatio], in der sich der Mensch dem göttlichen Sein zukehrt und der Wahrheit inne wird, die zugleich das höchste Gut ist.

Offen zu sein für die Wahrheit der wirklichen Dinge und aus der ergriffenen Wahrheit zu leben: das macht das Wesen des sittlichen Menschen aus. Nur wer diesen Sachverhalt sieht und bejaht, vermag auch zu erkennen, wie tief die Zerstörung reicht, die ein unkeusches Herz in sich selbst geschehen läßt.

3. Die Revolution Johannes Pauls II.

Nach dieser Vorarbeit können wir nun zurückkehren zu dem Artikel von Stefan Meetschen, denn nun haben wir das gedankliche Rüstzeug zu einem rechten Urteil.

Zu Beginn seines Artikels geht der Autor auf die Erinnerungen erfolgreicher katholischer Politiker, Künstler oder Unternehmer ein, die oftmals mit Dankbarkeit auf das zurückschauen, was ihnen die Kirche in ihrer Jugend gegeben hat. Eine Ausnahme bilde dabei jedoch die sexuelle Dimension des Lebens. Hier beginnen die ansonsten eifrig um Wahrheit und Aufklärung bemühten Schreiber entweder zu verstummen oder – wenn das Temperament und das öffentliche Bild es zulassen – mit Grandezza auf der Klaviatur der Sündenmystik zu spielen, wie etwa der Schauspieler Maximilian Schell in seinem autobiographischen Roman „Der Rebell“. Mit Blick auf seine jugendlichen Streifzüge durch die Kirchen und Kinos von Zürich stellt Schell fest: „Erotik hatte eine große Rolle gespielt in seinem Leben. Durch den Katholizismus unterdrückt. Zunächst. Und dann, nachdem alles im Körper rebellierte, zahllose Erlebnisse. Aber die waren wie ausgelöscht. Dunkle Erinnerungsfetzen, in Wohlbehagen gehüllt, aber immer mit dem Ausdruck ,Sünde‘ verbunden.“

Man würde erwarten, daß der Autor in der Folge den Ausdruck ,Sünde‘ aufgreifen und klären würde, was denn nun hier genau Sünde sei und was nicht. Denn nur so würde man zu einer Gewißheit darüber kommen, ob es sich nur um den bloßen Ausdruck Sünde handle oder um eine wirkliche Sünde. Aber nein, der Autor unterläßt dies und formuliert stattdessen nur einen allgemeinen Vorwurf, der immer wieder gegen die Kirche erhoben wird: schade nur, daß die Kirche auf diesem Gebiet immer noch so verstockt ist, immer noch mit Strafe und Verdammnis droht.

Wenn Sie den ersten Teil unserer Arbeit aufmerksam gelesen haben und die sittliche Gefährdung des Menschen durch die Sünde der Unkeuschheit ernsthaft bedacht haben, dann würden Sie sicher mit einem solchen Vorwurf nicht so leichtfertig umgehen, denn die Kirche droht nicht einfach nur Strafe und Verdammnis an, sondern sie sieht ganz nüchtern die wirklich drohende Gefahr zur ewigen Verdammnis. Ganz anders unser Autor, der auf den gemachten Vorwurf folgendermaßen antwortet: „Doch tut die Kirche das wirklich? Ist es nicht gerade der katholische Glaube, der von dem Jahrhunderte alten neuplatonischen, manichäerhaften Irrtum befreit, der die Seele als gut und den Körper als böse interpretierte? Beginnt man in der Kirche nicht wieder das Inkarnationsprinzip (Gott wurde Mensch und hat den menschlichen Körper somit bejaht) ernster zu nehmen und damit den Katholizismus als eine der sinnlichsten und sinnenfreudigsten Religionen der Welt wiederzuentdecken? Fernab von all den engen Sünden- und Versuchungsmythen, die schon immer und unabhängig von der Kirche durch skrupellose Köpfe, Körper und Kulturen spukten?“

Der Autor geht also mit keinem Wort auf die Frage der Strafe und Verdammnis ein, die nach ihm viel eher dem Jahrhunderte alten neuplatonischen, manichäerhaften Irrtum zuzuschreiben ist, sondern es geht ihm um eine Neuinterpretation des Katholizismus als eine der sinnlichsten und sinnenfreudigsten Religionen der Welt. Eine derartige Neuinterpretation ist auf dem Hintergrund der erbsündlich geprägten Wirklichkeit zwar vollkommen irreal, nicht aber im Rahmen der neuen Theologie! Denn hören sie weiter:

„Einer der engagiertesten Förderer eines neuen Sexualverständnisses in der Kirche war zweifellos Papst Johannes Paul II. Gleich zu Beginn seines Pontifikats versuchte der sportliche und gegenüber Frauen völlig unbefangene Pole eine 'sexuelle Revolution' zu starten, jede falsche Prüderie abzulegen. Fünf Jahre hindurch, vom September 1979 bis zum November 1984, hielt er mit seltenen Unterbrechungen in jeder Generalaudienz am Mittwoch Ansprachen über die 'Theologie des Leibes'. Seine Hauptthese: 'Mann und Frau werden sich im Geheimnis der Schöpfung gegenseitig zum Geschenk'. Darin zeige sich, daß die Schöpfung überhaupt ein Geschenk sei, ein Werk der göttlichen Güte – der Schlüssel zum Welträtsel liege im Liebesbund. 'Der Leib, und nur er, kann das Unsichtbare sichtbar machen, das Geistliche und Göttliche.' Sexuelle Vereinigung bedeute wechselseitige Hingabe bei voller Wahrung der Identität, das Zu-sich-selbst-Kommen durch den anderen – und sei letztlich ein Abbild des inneren Lebens der Dreifaltigkeit, der Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist.“

Johannes Paul II. begann also eine „sexuelle Revolution“ zu starten und jede falsche Prüderie abzulegen. Und wie geschah das? Durch eine lange Reihe von Ansprachen zu dem Thema „Theologie des Leibes“, welche schließlich zu dem Ergebnis kam, die wechselseitige Hingabe von Mann und Frau sei letztlich ein Abbild des inneren Lebens der Dreifaltigkeit, der Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Man müßte hierzu wohl Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyer konsultieren, um die „theologischen“ Quellen dieser Ansicht zu sichten. In der alten Theologie war man jedenfalls mit solchen Aussagen äußerst zurückhaltend, weil sie doch niemals mehr als eine bloß entfernte, um nicht zu sagen gewagte Analogie sein können und doch wohl mehr Mißverständnisse produzieren als wahre Einsichten zutage fördern.

Johannes Paul II. hat eine neue Offenheit zu unserem Thema an den Tag gelegt, die sich ganz besonders darin zeigt, daß er mit keinem Wort mehr von der Gefährdung des Menschen durch die Erbsünde und ihre Folgen redet. Darin besteht im Wesentlichen auch diese Revolution, daß man die Sache ihres eigentlichen Ernstes beraubt, und das nennt man dann „jede falsche Prüderie ablegen“. Im Hintergrund dieser neuen Konzeption der Sexualität steht letztlich die Sehnsucht des modernen Menschen nach einem lockeren, einfachen Leben, ein Leben ohne Opfer, ohne Tugend und ohne Kreuz. Man könnte es so ausdrücken: Der moderne Katholik will zwar nicht unbedingt den Ehebruch aus der Sündenliste streichen, aber wenigstens den Flirt. Dazu paßt dann auch ganz gut die Neuinterpretierung der Erotik, wie wir noch sehen werden. Jedenfalls wird in einem Satz, wie diesem, „Der Leib, und nur er, kann das Unsichtbare sichtbar machen, das Geistliche und Göttliche“, jene Pseudomystik greifbar, in welcher Gott erlebbar, ja sinnlich erfahrbar werden soll und die immer mehr um sich greift.

Wenn man Stefan Meetschen glauben will, dann ist die von Johannes Paul II. in Gang gesetzte Revolution zunächst mehr oder weniger im Sande verlaufen: „Ein Anspruch, ein Lob der Sexualität, dem viele Menschen in der Kirche zu Beginn der 1980er Jahre möglicherweise noch nicht gewachsen waren. Zu tief steckte damals noch der Stachel des Neuplatonismus im Fleische vieler älterer Gläubiger – zu politisch-aspirituell war die Gesinnung der Jüngeren. Die sexuelle Revolution nach Johannes Paul II. verpuffte ohne Donnerhall, fand einfach nicht statt.“

Da haben wir ihn also noch einmal, den Stachel des Neuplatonismus im Fleische vieler älterer Gläubiger, wohingegen die jüngere Generation angeblich zu politisch-aspirituell war. Wenn die vielen älteren Gläubigen all die Revolutionsjahre hindurch verzweifelt versuchten, die letzten Grenzen gegen die Flut der Schamlosigkeit noch einigermaßen zu verteidigen, dann war das offensichtlich der Stachel des Neuplatonismus. Und die jüngere Generation war nicht zu politisch-aspirituell, sondern sie wurde ganz einfach von der Flut der sexuellen Revolution hinweggespült, weil nun einmal die erbsündliche Verwundung den Willen so sehr geschwächt hat, daß ein junger Mensch gegen eine solch allgegenwärtige Versuchung kaum mehr wirksam Widerstand leisten kann. Das ist doch das eigentliche Thema, das einem auf der Seele brennt, wenn man die heutige Situation betrachtet: Wie kann man der Jugend aus dem moralischen Sumpf wieder heraushelfen? Sicher nicht durch die Predigt einer neuen Sinnlichkeit, sondern allein durch eine beständige Ermutigung zur Übung Tugend der Keuschheit, die ohne eine gewisse Selbstdisziplin letztlich unmöglich ist. Also Nüchternheit anstatt Sinnlichkeit!

Und da meint unser Autor inzwischen glücklicher Weise feststellen zu können: „Heute, fast dreißig Jahre später, scheinen die Menschen aufgeschlossener zu sein: Bücher und Texte zur 'Theologie des Leibes' sind im Internet und in Buchläden auf der ganzen Welt erhältlich und sprechen der 'Generation JP II.', Herzens-Enkel, die es ernst mit der Nachfolge und ernst mit ihrem Im-Körper-Sein meinen, neuen Mut zu. Ein Ja zur Kirche, zu Gott, zu Jesus und zu einer schöpferischen Erotik scheint möglich.“

So sieht also im Rahmen der Revolution JP II. ein Ja zur Kirche, zu Gott, zu Jesus aus – sie ermöglicht schlußendlich eine schöpferische Erotik, die dann alle Probleme lösen soll. Ja, alles, was man früher durch lange Askese, beharrliche Übung der Tugenden erworben und bewahrt hat, das wird heute durch eine schöpferische Erotik wie im Rausch erreicht. Wenn das keine Illusion ist, dann gibt es keine Illusionen mehr in der Welt. Aber wie soll man sich eigentlich eine solche schöpferische Erotik vorstellen? Der Autor belehrt uns auch darin trefflich: „Dabei hatte schon lange vor Johannes Paul II. der Schweizer Arzt und Begründer der Analytischen Psychologie, C. G. Jung, festgestellt, daß mystische Erfahrung ohne Eros, dem Prinzip der Bezogenheit nicht denkbar sei (GW 14, 1, § 238). Und tatsächlich: Wer sich nur ein bißchen mit der Brautmystik oder der Mystik anderer Heiliger beschäftigt, entdeckt dort schnell eine erstaunliche Symbiose aus Erotik und Gottesverehrung. So etwa bei der hl. Katharina von Genua, der Theologin des Fegefeuers, die dem himmlischen Bräutigam anvertraut: '... diese Liebe läßt das Mark meiner Seele und meines Leibes verschmelzen, so daß ich manchmal das Gefühl habe, mein Leib sei aus Teig gemacht.'“

Die Heiligen können einem wirklich Leid tun, da sie immer wieder von Ignoranten für ihre niederen Begehrlichkeiten mißbraucht werden. Aber das ist nun einmal ihr Los, denn je geistiger ein Mensch ist, desto weniger wird er von jenen verstanden, die nur fleischlich denken können. Darum: Wer sich nur ein bißchen mit der Brautmystik oder der Mystik anderer Heiliger beschäftigt, entdeckt dort schnell – nein nicht eine erstaunliche Symbiose aus Erotik und Gottesverehrung – sondern eine solche Höhe des Geistes, die ihn zum Schweigen zwingt, weil er letztlich nicht mitreden kann. Darum die immer wiederkehrende Beteuerung aller echten Mystiker, sie würden nur in äußerst unzulänglichen Bilder sprechen, weil sich jene göttliche Wirklichkeit mit unseren irdischen Begriffen nicht fassen läßt. Wer ein erotisches Erlebnis auf die Stufe einer mystischen Erfahrung hebt, der beweist damit, daß er nicht einmal das ABC der mystischen Theologie beherrscht, und es wäre wirklich besser, wenn er dann auch zu dem Thema ganz schwiege. Daß dem nicht mehr so ist, daß sich auch die größten Ignoranten an höchst geistige Themen heranwagen, beweist, wie sehr der Modernismus in den Köpfen auch sogenannter Katholiken herumspukt. Denn im Rahmen des Modernismus – wenn Religion nur eines unter vielen anderen Gefühlen ist – ist ein solcher Vergleich von Erotik und „Mystik“ durchaus möglich, ja naheliegend. Denn wie soll man noch den fundamentalen Unterschied zwischen einem erotischen und einem mystischen Erlebnis greifen können, wenn man die ganze übernatürliche Welt der Gnade aus dem Blick verloren hat? So wird selbstverständlich alle „Mystik“ in dieser modernen Kirche zum charismatischen Erlebnis degradiert.

Darin liegt auch die ungeheure Gefahr der Revolution JP II. Sie zerstört nicht nur den notwendigen Ernst eines echten Strebens nach Heiligkeit, sondern sie verführt geradezu zu den Scheinlösungen einer solchen Pseudomystik, die letztlich dem Teufel Tür und Tor öffnet, weil sie eine „Mystik“ will, ohne die notwendigen geistlichen Voraussetzungen der Mystik zu besitzen.

Darum ist unser Autor vollkommen auf dem Holzweg, wenn er wähnt: „Wohin die gesellschaftliche Reise tatsächlich gehen wird, hängt entscheidend davon ab, inwieweit die Kirche weiter aus der jahrhundertelangen Sinnlichkeitsdefensive treten kann. Der theologische Weg dafür ist in jedem Fall bereitet, was es noch braucht sind Mut, Geduld und die Unterscheidung der sexuellen Geister.“

Nein, die Richtung der gesellschaftlichen Reise hängt sicher nicht davon ab, inwieweit die Kirche weiter aus der jahrhundertelangen Sinnlichkeitsdefensive treten kann – nochmals: Sie kann es niemals, weil die Folgen der Erbsünde bis zum Ende der Zeiten im Menschen bleiben – sondern sie hängt davon ab, ob die Katholiken noch bereit sind zur Umkehr, zur Nachfolge unseres gekreuzigten Herrn Jesus Christus. Nur eine tiefgreifende Bußgesinnung kann den heutigen Menschen von seinen vielen Illusionen heilen und ihn so vor der Gefahr der ewigen Verdammnis bewahren, die heute ganz besonders auch als sexuelle Befreiung alle Schichten der Gesellschaft bedroht. Eigentlich müßte man nur die Augen aufmachen, um das sehen zu können…

Anm.: Unnötig zu betonen, wie sehr diese Revolution sich seit Johannes Paul II. fest- und fortgesetzt hat, bei Benedikt XVI. durch seine „Erotik“, die bei ihm zur „Gottesliebe“ gehört und darum einen breiten Raum in seiner ersten „Enzyklika Deus Caritas est“ einnimmt, bis hin zum Tango-tanzenden „Franziskus I.“.