Der heilige Thomas und der Urknall

Kannte denn der heilige Thomas von Aquin bereits den „Urknall“? Dieser wurde doch erst im 20. Jahrhundert entdeckt, während der heilige Thomas bereits 1274 verstorben ist! 

Das Zeitalter des heiligen Thomas war noch kein „naturwissenschaftliches“, welches den ganzen Kosmos auf Materie und diese auf immer kleinere Teilchen reduziert. Sein Weltbild war noch ein hoch-geistiges, und so war auch die Materie für ihn vom Geist bestimmt und nicht umgekehrt. Als „Doctor universalis“ umfaßte er das gesamte Universum nicht mit dem Fernrohr, sondern mit seinem von göttlicher Weisheit erleuchteten Verstand und fand so bereits damals spielend die Lösungen für Probleme, denen die heutige Wissenschaft mit all ihren Teleskopen, Raumsonden und Computern vergeblich hinterherjagt. Darunter befindet sich auch der „Urknall“.

Beim Aquinaten ist natürlich noch nicht von einem „Big Bang“ die Rede. Für ihn stellt sich die Frage nicht physikalisch von irgendeiner mehr oder weniger knallenden Materie her, sondern philosophisch vom Begriff her. Darum gelangt er auch zu einer wahren und endgültigen Lösung, denn die Materie ist nur vom Geist her zu erfassen, von den metaphysischen Prinzipien aus, welche das gesamte Universum tragen und die ehern gelten und unerschütterlich sind, nicht von irgendwelchen kleinsten Teilchen her, die sich als vollkommen unberechenbar erweisen und schließlich im Nichts verflüchtigen.

Seine Fragestellung lautet also nicht: „Gab es einen Urknall?“, sondern: Ging der geformten Materie eine ungeformte der Zeit nach voraus (Sth I q.66 a.1)? Also: Gab es einen Zeitpunkt, an dem unser Universum noch nicht seine Form und Gestalt hatte, sondern als ungeformter „Urnebel“ (Kant-Laplace) oder eben „Urknall“ anfing? Er weiß dafür sogar einige Argumente anzuführen, die nicht der modernen Physik, sondern der Heiligen Schrift, dem heiligen Augustinus und der erleuchteten Vernunft entnommen, also wesentlich schwerwiegender sind. Das erste bezieht sich auf die Aussage der Heiligen Schrift (Gen. 1,2): „Die Erde aber war wüst und leer“, was der heilige Augustinus unter Bezug auf die Septuaginta als eine ursprüngliche Formlosigkeit der Materie interpretiert. Das zweite Argument ist jenes, das im wesentlichen von katholischen „Urknall“-Befürwortern gerne angeführt wird, nur hier in der Summa einiges intelligenter. Diese gutmeinenden Katholiken, die sich bemühen, den katholischen Glauben mit der modernen agnostischen Naturwissenschaft zu versöhnen, weisen gerne auf die Zweitursachen hin, durch welche Gott zu wirken pflegt, und als solche Zweitursache gilt ihnen auch der „Urknall“. Beim heiligen Thomas lautet das Argument so: Die Zweitursachen ahmen in ihrem Wirken das Wirken Gottes nach; nun sehen wir jedoch im Wirken der Natur, wie der Formung eine ungeformte Materie der Zeit nach vorausgeht; also ist es auch beim Wirken Gottes so. Gott fängt eben immer erst mit Kleinem an und läßt es dann wachsen, wie die Keimzelle zum Baum, so wieder unsere gutmeinenden Versöhnungs-Katholiken.

Der Aquinate stellt nun auch einige Gegenargumente auf, deren eines für uns besonders interessant ist, weil es noch den natürlichen Abscheu offenbart, den zur damaligen Zeit die Vorstellung eines „Urknall“-Universums hervorrief. Es lautet so: Die Formung der körperlichen Schöpfung vollzog sich durch (Unter-)Scheidung; dieser Unterscheidung ist jedoch die Konfusion, das Durcheinander entgegengesetzt, wie der Formung die Formlosigkeit; wäre also am Anfang die Materie nicht geformt gewesen, so hätte Unordnung geherrscht in der körperlichen Schöpfung, das, was die Antiken „Chaos“ nannten. Dies war für die Zeitgenossen des hl. Thomas wohl noch so unvorstellbar, weil unvereinbar mit der Weisheit des Schöpfers wie auch der Ordnung des Kosmos, daß er weiter nichts hinzufügen mußte.

Bevor wir nun an die Lösung des Problems gehen, wie sie uns der Engelgleiche Lehrer darstellt, müssen wir ein klein wenig die philosophischen Begriffe klären. In der Körperwelt besteht philosophisch gesehen alles aus Form und Materie. Dabei kommt, anders als wir uns das gewöhnlich vorstellen, das Sein nicht von der Materie, sondern von der Form. Wir sehen hier bereits, wie weit sich das Weltbild seit der Zeit der Scholastik in unserem naturwissenschaftlichen Zeitalter geradezu ins Gegenteil verkehrt hat. Für uns ist es heute selbstverständlich, daß sich alle Formen sozusagen von unten herauf aus der Materie aufbauen, also ihr Sein von der Materie haben. Das ist das Grunddogma des „Urknalls“.

Ganz anders in der philosophia perennis des hl. Thomas. Hier bietet die Materie nur die Möglichkeit, die Potenz, der die Form als Akt das tatsächliche Sein verleiht. Natürlich kann die Form alleine, ohne Materie, nicht existieren (es sei denn, sie sei selbst eine Substanz wie die menschliche Seele – aber das ist ein anderes Thema), aber sie ist es erst, die einer Sache ihr Sein gibt. Nehmen wir ein einfaches, wenn auch sehr unzureichendes Beispiel: das Haus. Was macht ein Haus zum Haus? Sind es die Ziegelsteine? Nein, denn wenn wir nach dem Einsturz eines Hauses nur noch einen Haufen Steine vor uns haben, wird niemand sagen, dies sei das Haus. Das Haus ist eben nicht mehr, auch wenn seine Materie noch da ist, es ist nicht mehr, weil die Form nicht mehr da ist. Die Form macht das Haus zum Haus, nicht die Materie.

Wenn wir hier von Form sprechen, meinen wir nicht die äußere Form, sondern die Wesensform. Form ist in unserem Beispiel das, was das Haus zum Haus macht, aber nicht das, was es zu einem kleinen oder großen, weißen oder grünen Haus macht. Letzteres wäre die akzidentelle Form, weil sie unwesentliche, zufällige Eigenschaften betrifft, die an der Sache selbst nichts ändern, während ersteres die substanzielle Form genannt wird, weil es der Materie die wesentlichen Eigenschaften mitteilt und so mit dieser zusammen die Substanz des Dinges bildet.

Wir haben oben das Haus als Beispiel erwähnt. Wenn wir nun das Haus zerlegen, wie oben durch den angenommenen Einsturz, dann hat es zwar seine Form als Haus verloren, aber es bleibt noch Materie übrig, geformte Materie: Ziegelsteine, Holz, Glas usw. Zerlegen wir diese wieder, gelangen wir zu weiteren, niedrigeren Formen der Materie, zu Lehm etwa, dann zu seinen Bestandteilen, endlich zu Molekülen, Atomen etc. Denkerisch kann man nun fortschreiten bis zu einer allerersten, völlig ungeformten Materie, der „materia prima“, die letztlich allem zugrunde liegt.

Hier sind wir schon bei der ersten Antwort, die uns der Aquinate gibt. Er sagt nämlich, eine solche völlig ungeformte oder formlose Materie könne zwar gedacht werden und sei natürlich auch vorhanden, sie könne aber nicht als solche, d.h. als ungeformte, in der Zeit existieren. Denn es ist ja gerade die Form, die einem Ding das Sein gibt. Hat etwas keine Form, dann auch kein Sein. Eine völlig ungeformte und unbestimmte Materie als solche kann es nicht geben, also auch am Anfang nicht gegeben haben. Darum stoßen auch heutige Physiker immer wieder buchstäblich auf nichts, je weiter sie die Formen der Dinge auflösen.

Doch nun kommen unsere gutmeinenden katholischen Physiker und sagen, natürlich war am Anfang nicht irgendeine völlig ungeformte und unbestimmte Materie, sondern es war hochkochende Materie, bestehend aus lauter Urteilchen, den sogenannten „Quarks“, aus denen sich dann durch Auskühlung, Ausdehnung, Kondensierung etc. kraft der ihnen innewohnenden Ladungen und Kräfte Zeit und Raum und das ganze Universum gebildet haben.

Auch auf diese Theorie hat der heilige Thomas bereits geantwortet. Er sagt, es könne auch nicht sein, daß mit dieser ungeformten ersten Materie eine erste allgemeine Form gemeint sei, über welche dann neue Formen gestülpt wurden, um sie zu verschiedenen Dingen zu bilden. Dann, so der Aquinate, hieße „werden“ nur soviel wie „verändert werden“ - was der Irrtum mancher alter Naturphilosophen sei. Dann aber würde es sich bei den verschiedenen Dingen lediglich um akzidentelle Formen ein und derselben Materie handeln, so wie wenn man aus einem Plätzchenteig verschiedene Formen aussticht, einen Stern oder einen Mond, die doch beide ganz die gleichen Plätzchen sind, nur in verschiedener äußerer Form. So wären alle Körperdinge in Wahrheit ein und dieselbe Substanz, nur in verschiedenen Ausprägungen. „Daher muß man sagen, daß die erste Materie“, also bei ihrer ersten Hervorbringung durch Gott, „weder gänzlich ohne Form erschaffen wurde noch unter einer einzigen allgemeinen Form, sondern unter verschiedenen Formen“, so die letzte Antwort des Aquinaten. Wie eben die Heilige Schrift berichtet: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“

So gab es also von allem Anfang an kein Chaos, sondern bereits vor dem in der Heiligen Schrift berichteten „opus distinctionis“, dem Werk der Unterscheidung, eine klare Distinktion der Dinge. „Zunächst nämlich gab es die Unterscheidung zwischen Himmel und Erde […]. Zweitens die Unterscheidung der Elemente nach ihren Formen [Erde und Wasser].“ Die dritte Unterscheidung bestand in bezug auf die Lage der verschiedenen Dinge, so etwa war das Wasser über der Erde, und was noch zu unterscheiden war, vollzog sich sodann im Sechstage-Werk.

Sehen wir kurz, was der heilige Thomas auf die eingangs angeführten Argumente zugunsten einer anfangs ungeformten Materie antwortet. Der heilige Augustinus, so sagt er, nimmt sowieso eine Sonderstellung ein. Zwar behauptet dieser tatsächlich eine anfangs ganz und gar ungeformte Materie, meint dies jedoch nicht zeitlich, weil nach seiner rein geistigen Auslegung des Schöpfungsberichts die Schöpfung ohnehin nicht in zeitlichen Abschnitten erfolgte, sondern ein einziger Schöpfungsakt lediglich in verschiedene Momente gedanklich zerlegt wird (gemäß der Erkenntnis der Engel). Die übrigen Kirchenväter jedoch meinen, wenn sie von einer anfänglich noch ungeformten Körperwelt sprechen, nicht eine Formlosigkeit, die jede Form ausschließt, sondern eine Ungestaltheit, die noch jener Schönheit und jenes Schmuckes entbehrt, wie wir sie jetzt in der Schöpfung finden. Denn es fehlte noch das Licht, das Land lag unter Wasser und war noch nicht von Pflanzen und Kräutern bewachsen. „Denn Finsternis lag über dem Abgrund und die Erde war wüst und leer.“

Auf das zweite Argument, das mit den Sekundärursachen, die ja auch vom Ungeformten zum Geformten voranschreiten, sagt uns der Heilige, daß die Natur zum Wirken immer schon etwas Seiendes voraussetzt, an dem sie wirken kann. Gott aber bringt das Sein aus dem Nichts hervor. So kann er sogleich das vollkommene Ding hervorbringen, gemäß der Größe Seiner Allmacht. Er braucht also nicht, so wie wir, zuerst Zement anrühren, Ziegelsteine brennen, Holz zu Brettern sägen etc. Er ist der Schöpfer und nicht der „Große Baumeister aller Dinge“. So hatte Er auch nicht nötig, anfangs einen „Quarks“-Brei anzurühren, um dann daraus die Sonnen, Sterne, Planeten und Galaxien zu formen. Er hat das Weltall erschaffen, also aus dem Nichts hervorgebracht, nicht aus Plätzchenteig gestochen. Am Schöpfungsakt aber können Sekundärursachen in keiner Weise beteiligt sein, wie der Aquinate an anderer Stelle darlegt (q.45 a.5).

Ein Argument, so sagt man uns nun freilich, gibt es, auf das der heilige Thomas nicht antworten konnte, und zwar ein Autoritätsargument. Georges Lemaître, der Begründer der „Urknalltheorie“, war nämlich katholischer Priester und wurde 1940 von Pius XII. in die päpstliche Akademie der Wissenschaften berufen, deren Präsident er dann von 1960 bis zu seinem Tod gewesen ist. Und bei einer Tagung dieser Akademie im November 1951 führte Papst Pius XII. in einem Vortrag aus, daß die „Urknalltheorie“ ein sicherer Beweis für die Erschaffung der Welt und somit für Gott als Schöpfer sei.

Wir müssen gestehen, auf so eine Idee wäre der heilige Thomas sicherlich nicht gekommen, eine naturwissenschaftliche Theorie als Beweis und noch dazu als Gottesbeweis zu betrachten. In der Quaestio 46 Artikel 2 führt er aus, daß der zeitliche Anfang der Welt nicht bewiesen werden kann, sondern nur aus der Offenbarung bekannt ist. Ein Beweis ist für ihn nämlich immer nur ein philosophischer Beweis. Ein solcher aber geht stets vom Begriff aus, „quod quid est“, was etwas ist. Nun sind aber die Begriffe unabhängig von Ort und Zeit, sie gelten immer und überall. Gerade das macht ja auch ihre Beweiskraft aus. Damit läßt sich aber nicht beweisen, daß es nicht schon immer den Menschen, den Himmel, den Stein usw. gegeben hat. Von der Welt her kann also nicht bewiesen werden, daß sie nicht schon immer gewesen ist.

Aber auch von ihrem Schöpfer her ist dieses Faktum nicht beweisbar, wie der Aquinate zeigt, da die Schöpfung vom freien Willen Gottes abhängt und dieser für uns nicht erkennbar ist außer durch die Offenbarung. Darum kann ein zeitlicher Anfang der Welt zwar Glaubensartikel sein, nicht aber bewiesen oder gewußt werden. „Und es ist nützlich, dies zu beachten“, so der heilige Thomas, „damit nicht jemand in der Verstiegenheit, Glaubensdinge beweisen zu wollen, nicht notwendige Gründe anführt, die den Ungläubigen Anlaß zum Spott liefern, weil sie meinen, daß wir um solcher Gründe willen das glauben, was zur Offenbarung gehört.“

Eine Welt ohne zeitlichen Anfang wäre nämlich an sich nicht unverträglich mit ihrem Geschaffensein. Gerade wenn Gott der Schöpfer der Welt ist, hat die Zeitdauer nichts zu sagen, denn Gott schafft ja kraft Seiner Allmacht in einem Augenblick. „Es folgt nicht notwendig, daß, wenn Gott die handelnde Ursache der Welt ist, er in der Zeitdauer vor der Welt gewesen sein muß; denn die Schöpfung, wodurch Er die Welt hervorbrachte, ist keine aufeinander folgende Veränderung, wie oben bereits gesagt wurde“ (q. 46 a.2 ad1). Somit wäre die „Urknalltheorie“ eigentlich gerade das Gegenteil eines Gottesbeweises.