Unfehlbar? Eine Grundfrage

1. In einem Interview mit „Catholic Family News“ vom 30. April diesen Jahres äußert sich Professor Roberto de Mattei zur Unfehlbarkeit von Heiligsprechungen. Darin entpuppt sich de Mattei als Semi-Anti-Infallibilist und begründet dies erwartungsgemäß mit dem „Sedisvakantismus“. Dieser, so der Professor, würde die päpstliche Unfehlbarkeit übertreiben. „Ihre“ - der „Sedisvakantisten“ - „Argumentation ist zu einfach (bzw. grob vereinfachend, franz.: simpliste): Wenn der Papst unfehlbar ist und etwas Schlechtes tut, bedeutet dies, daß der Heilige Stuhl vakant ist.“ Tatsächlich ist diese Darstellung der „Sedisvakantisten“-Position zu einfach bzw. grob vereinfachend. Doch weiter: „Die Wirklichkeit ist viel komplexer, und die Prämisse, nach welcher jeder Akt des Papstes oder fast jeder Akt unfehlbar ist, ist irrig.“ Das hat auch nie jemand anders behauptet.

Dem Herrn Professor jedoch kommt es auf etwas anderes an. Er will ja aus dieser falschen, wohl bewußt verzeichneten Darstellung des „Sedisvakantismus“ auf die Nicht-Unfehlbarkeit von Heiligsprechungen kommen. Der schein-logische Syllogismus verläuft dabei so: Die „Sedisvakantisten“ behaupten, alle Akte des Papstes seien unfehlbar. Diese Meinung ist irrig. Also sind z.B. Heiligsprechungen nicht unfehlbar. Eine umwerfende Logik, in der Tat! „In Wahrheit ist es so, wenn die jüngsten Kanonisationen Probleme verursachen, so verursacht der Sedisvakantismus viel bedeutendere Gewissensprobleme.“ Es geht also gar nicht um Logik, sondern um „Gewissensprobleme“, und damit sind wir wieder bei der „Sedisphobie“.

2. Doch wie löst unser Professor nun die offensichtlich weitaus geringeren Probleme, die falsche Heiligsprechungen aufwerfen? Erstens weist er darauf hin, daß die Unfehlbarkeit von Heiligsprechungen kein Glaubensdogma sei. Damit gehört sie nach der Logik der Anti-Infallibilisten und Semi-Anti-Infallibilisten bekanntlich bereits in den Bereich der freien Meinung. Nun würde zwar eine Mehrzahl der Theologen die Unfehlbarkeit von Kanonisationen bejahen, doch gerade die führenden Vertreter der aktuellen „Römischen Schule“, allen voran Mgr. Brunero Gherardini, seien anderer Auffassung. Sie sähen in den Kanonisationen nicht die Bedingungen gegeben, welche das I. Vatikanum für das Eintreten der päpstlichen Unfehlbarkeit fordere. Insbesondere habe eine Heiligsprechung nicht eine Wahrheit des Glaubens oder der Moral, welche in der Offenbarung enthalten ist, als ihr direktes Objekt, sondern sei nur indirekt mit dem Dogma verbunden, ohne eigentlich ein „dogmatisches Faktum“ zu sein. Die Päpste könnten lediglich Inhalte definieren, die in der Schrift oder Tradition enthalten seien, nur dann liege ein Akt der Unfehlbarkeit vor; dies sei aber bei Kanonisationen nicht der Fall. Nicht umsonst werde daher weder in den Rechtskodizes von 1917 oder 1983 noch in den Katechismen, alt oder neu, der katholischen Kirche die Lehre der Kirche über Kanonisationen dargelegt.

Nun, immerhin findet sich diese Lehre wenigstens im Volkskatechismus von Spirago, der allerdings etwas vorsichtig formuliert: „Mit größter Wahrscheinlichkeit läßt sich annehmen, daß die Kirche auch unfehlbar sei bei der Entscheidung, ob eine Meinung der geoffenbarten Lehre widerspreche; ferner bei der Selig- und Heiligsprechung.“ Die Dogmatiker Scheeben und Heinrich sind da weniger vorsichtig. Sie sind auch ganz anderer Meinung als die aktuellen Theologen der „Römischen Schule“. Scheeben etwa schreibt in seiner Dogmatik: „Es wäre aber durchaus irrig, ja nach der Meinung vieler Theologen sogar häretisch, wenn man das Gebiet der kirchlichen Unfehlbarkeit auf die formell geoffenbarten Wahrheiten beschränken würde. Es muß vielmehr mindestens als theologisch sichere Lehre festgehalten werden, daß sekundäres (oder indirektes) Objekt der Unfehlbarkeit das ganze Gebiet jener Wahrheiten ist, welche als Glaubensdepositum im weitern Sinne bezeichnet werden können, welche zwar an sich und formell nicht geoffenbart sind, aber mit den geoffenbarten Wahrheiten so innig zusammenhängen, daß ohne sie die Offenbarung selbst entweder gar nicht oder doch nur ungenügend bewahrt und erklärt, geltend gemacht oder verteidigt werden könnte. … Im einzelnen gehören zum sekundären und indirekten Objekte der kirchlichen Unfehlbarkeit besonders folgende Punkte: … die Feststellung und Würdigung von Tatsachen, ohne deren richtige Kenntnis das religiöse Leben, besonders der Cultus, nicht würdig geordnet werden könnte, so namentlich die Canonisation der Heiligen…“ Und Heinrich: „Die Heiligkeit und Seligkeit eines einzelnen Heiligen ist zwar nicht eine Wahrheit der Glaubens- oder Sittenlehre, aber auch nicht ein gewöhnliches partikuläres Factum, bezüglich dessen die Kirche ihrer Wahrheit und Heiligkeit unbeschadet irren kann; sondern es ist ein Factum, das zu den allgemeinen und höchsten Interessen der Religion, insbesondere zu der Verehrung der Heiligen überhaupt, in einem so wesentlichen Zusammenhange steht, daß ein Irrtum der höchsten kirchlichen Autorität in dieser Sache, wenn auch nicht die Reinheit des Glaubens- und Sittenlehre unmittelbar verletzen, doch mittelbar dieselben beeinträchtigen würde.... Man kann daher mit Recht mit dem heil. Thomas sagen, daß das Factum der Heiligkeit und Seligkeit eines canonisirten Heiligen zwischen gewöhnlichen particularen Thatsachen und der Glaubens- und Sittenlehre gewissermaßen in der Mitte stehe. Das ist denn wohl auch der Sinn jener Theologen, welche die Canonisation mit der Entscheidung bezüglich eines factum dogmaticum vergleichen“ (vgl. Von Heiligen). Wir dürfen auch noch einmal Melchior Cano anführen: „Es ist nicht möglich, daß der Oberste Pontifex die gesamte Kirche in Dingen, welche die Moral und den Glauben betreffen, in die Irre führt. Das jedoch würde geschehen, wenn er sich in den Heiligsprechungen täuschen könnte. Den Menschen einen Verdammten zur Verehrung vorzustellen, würde das nicht im letzten heißen, dem Teufel selbst einen Altar zu errichten?“ Vermutlich handelte es sich bei Scheeben, Heinrich und Cano allesamt um heimliche „Sedisvakantisten“, die meinten, der Papst sei eben immer und überall unfehlbar.

Aber auch die Theologen des I. Vatikanums waren offensichtlich bereits solchem „Sedisvakantismus“ verfallen. Denn einer von ihnen, Gasser, behauptete doch ganz im Gegensatz zu unseren modernen Theologen der „Römischen Schule“, daß „mit den geoffenbarten Wahrheiten ... auch andere Wahrheiten mehr oder weniger eng zusammenhängen, die, wenn sie auch nicht in sich geoffenbart sind, dennoch erforderlich sind, um das Offenbarungsgut unversehrt zu bewahren, ordnungsgemäß zu erklären und wirksam zu definieren; derartige Wahrheiten, zu denen jedenfalls an und für sich (per se) die dogmatischen Fakten gehören, sofern ohne sie das Glaubensgut nicht bewahrt und dargelegt werden könnte, derartige Wahrheiten - sage ich - beziehen sich zwar nicht an und für sich zum Glaubensgut, aber doch auf die Bewahrung des Glaubensgutes. Daher sind sich denn auch überhaupt alle katholischen Theologen darüber einig, daß die Kirche in der authentischen Vorlage und Definition solcher Wahrheiten unfehlbar ist, sodaß die Leugnung dieser Unfehlbarkeit ein überaus schwerwiegender Irrtum wäre.“ Zwar wäre einer, welcher hier die Unfehlbarkeit leugne, „nicht offen Häretiker“, aber er beginge doch „einen sehr schweren Irrtum und durch solchen Irrtum eine sehr schwere Sünde“. Tatsache ist auch, daß zumindest die Päpste Pius XI. und Pius XII. bei ihren Heiligsprechungen explizit den Anspruch der Unfehlbarkeit erhoben (vgl. Die Unfehlbarkeit von Heiligsprechungen). Wahrscheinlich gehörten auch sie zu den „Sedisvakantisten“.

3. Die pseudo-anti-infallibilistische These des „exzellenten Theologen“ (di Mattei) Gleize (vgl. Drohende Unfehlbarkeit), wonach die Unfehlbarkeit von Heiligsprechungen seit 1983 nicht mehr gegeben ist, hauptsächlich wegen Verfahrensfehlern, möchte der Herr Professor so nicht unterstützen. Er weist darauf hin, daß die Kirche früher Heilige ohne jedes Verfahren und ohne jede Kanonisation verehrt hat (und bisweilen auch heute noch tut), daß diese Prozedur erst allmählich eingeführt und die Regeln nach und nach festgelegt wurden. Somit ließe eine Lockerung bei den Verfahrensregeln, wie wir sie seit 1983 beobachten, noch nicht auf einen Unterschied in der Unfehlbarkeit schließen.

Was den heiligen Thomas anbelangt, welcher die These aufgestellt hat, ein Papst, welcher bei einer Kanonisation nicht unfehlbar sei, führe womöglich sich selbst und die Kirche in die Irre, so antwortet der Herr Professor zunächst mit einer Unterscheidung. Ein nicht unfehlbarer Akt sei nicht automatisch ein irriger Akt, der notwendig täusche, sondern nur ein möglicherweise irriger Akt. De facto könne es sein, daß ein solcher Irrtum höchst selten oder gar nicht vorkomme. Der heilige Thomas sei stets sehr ausgewogen und gewiß kein übertriebener Infallibilist (also kein „Sedisvakantist“!), daher könne sein Argument „im weiten Sinn“ verstanden werden, also mit der Möglichkeit von Ausnahmen. „Ich bin mit ihm einverstanden, daß die Kirche in ihrer Gesamtheit sich nicht täuschen kann, wenn sie kanonisiert. Das bedeutet nicht, daß jeder Akt der Kirche, wie der Akt der Heiligsprechung, in sich selbst notwendig unfehlbar ist. Die Zustimmung zu einem Akt der Kanonisation ist kirchlichen Glaubens, nicht göttlichen. Das bedeutet, daß der Gläubige glaubt, weil er das Prinzip annimmt, wonach die Kirche sich normalerweise nicht täuscht. Die Ausnahme beseitigt nicht die Regel. Ein deutscher theologischer Autor, Bartmann, vergleicht in seinem Handbuch der Theologischen Dogmatik (1962) den einem falschen Heiligen erwiesenen Kult mit der Ehre, die dem falschen Botschafter eines Königs erwiesen wird. Der Irrtum beseitigt nicht das Prinzip, nach welchem der König wahre Botschafter hat und die Kirche wahre Heilige kanonisiert.“

Eieieiei! Wenn also die Päpste sich auch manchmal bei Heiligsprechungen irren, so macht das gar nichts. Das Prinzip bleibt ja erhalten, weil doch etliche Heilige wirklich heilig sind, und das genügt schon für die Unfehlbarkeit! Donnerwetter! Man darf wohl annehmen, daß in diesem sehr „weiten Sinn“ der heilige Thomas seine Aussage bestimmt nicht verstanden hat. Unfehlbar bedeutet nach allen Regeln der Logik nichts anderes, als daß keine Ausnahme möglich ist. Alles andere wäre eben nicht unfehlbar, sondern fehlbar. Dazu genügt bereits die Möglichkeit des Irrtums, nicht die Notwendigkeit und nicht einmal die Tatsächlichkeit. Und gerade diese Möglichkeit wollte der heilige Thomas ausschließen (war er also vielleicht doch ein „Sedisvakantist“?). Es ist unglaublich, wohin man gelangt, wenn man die Quadratur des Kreises versucht und die Unfehlbarkeit mit dem Irrtum vermählen möchte. Da gibt es dann plötzlich eine im allgemeinen unfehlbare Kirche, die sich zwar in ihrer Gesamtheit nicht täuschen kann und es daher normalerweise auch nicht tut, aber in Ausnahmefällen dann doch, was aber nicht das Prinzip ändert oder die Regel beseitigt, weshalb wir getrost weiter an die Pseudo-Unfehlbarkeit einer solchen Pseudo-Kirche glauben dürfen. Das Credo werden wir daher demnächst umschreiben: „Ich glaube an die normalerweise (oder: in ihrer Gesamtheit) heilige … katholische Kirche“. Da sind uns dann doch die „Gewissensprobleme“ der „Sedisvaktantisten“ lieber.

4. Auf die Frage, wie man sich denn nun die Unfehlbarkeit der Kirche bei Heiligsprechungen vorzustellen habe, antwortet unser Professor mit der Unterscheidung zwischen dem außerordentlichen und dem ordentlichen Lehramt. Das Lehramt, so sagt er, könne auf unfehlbare Weise lehren entweder durch eine definitive Entscheidung des Papstes oder durch eine nicht definitive Handlung des ordentlichen Lehramts, wenn nämlich die betreffende Lehre ununterbrochen von der Tradition bewahrt und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt weitergegeben wurde. Analog verhalte es sich mit den dogmatischen Fakten und auch mit dem Kult der Heiligen. Die Kirche könne sich nicht täuschen, wenn sie ununterbrochen dogmatische Fakten oder liturgische Gewohnheiten oder eben Heiligenkult bestätige. So könne man etwa sicher sein, daß Hildegard von Bingen sich in der Glorie der Heiligen befinde und uns als Beispiel der Heiligkeit dienen könne, nicht weil sie von einem Papst feierlich kanonisiert worden ist, sondern weil ihr Kult ununterbrochen seit ihrem Tod von der Kirche anerkannt wurde. „Die Kirche täuscht sich nicht in ihrem universellen Lehramt, aber man kann einen begrenzten Irrtum der kirchlichen Autoritäten in Zeit und Raum zugeben...“

Wir unsererseits werden hier einen „begrenzten Irrtum“ des Herrn Professors feststellen müssen, der uns sehr an die Irrtümer der Gallikaner und Altkatholiken erinnert. Heinrich: „Bossuet und die ihm folgenden Gallikaner stellten die Behauptung auf, daß der apostolische Stuhl, das Papsttum oder, wie man dieses näher erklärte, die Reihenfolge der Päpste unfehlbar sei, nicht aber irgend ein einzelner Papst. Dieser könne eine irrige Lehrentscheidung erlassen, aber der apostolische Stuhl könne bei einem solchen Irrtum nicht verharren, vielmehr werde dieser Irrtum durch einen Nachfolger des irrenden Papstes verbessert werden.“ Eben ein „begrenzter Irrtum in Zeit und Raum“. „Diese zunächst bezüglich des Papstes aufgestellte Theorie wurde von den neuesten Häretikern (den Altkatholiken) auch auf den Episkopat mit Einschluß des Papstes ausgedehnt. Nachdem man nämlich die Vatikanische Lehrentscheidung über das unfehlbare Magisterium des Papstes, selbst nachdem der gesamte Episkopat zugestimmt, verworfen hatte, schritt man mit innerer Notwendigkeit zur Behauptung fort, daß mit dem jeweiligen Papst der gesamte jeweilige Episkopat in glaubenswidrigen Irrtum fallen könne; allein, meinte man in Anwendung der Bossuet’schen Theorie auf die Gesamtkirche, dieser Irrtum könne kein bleibender sein und eben darin bestehe die Unfehlbarkeit der Kirche, daß dieselbe über kurz oder lang sich wieder zurecht finde und durch ein künftiges Konzil oder einen künftigen Papst und Episkopat den Fehltritt verbessere“ (vgl. „Traditionalisten“ in Gefahr).

Der Herr Professor will uns hier ein „universelles Lehramt“ vorspiegeln, das irgendwie in der „Gesamtheit“ der Kirche liegt. Hingegen gilt: „In der Kirche steht die Lehr- und Richtergewalt in Glaubenssachen nur dem von Christus in Petrus und den Aposteln eingesetzten Lehramt zu; also weder der Gesamtheit noch irgendwelchen einzelnen, mit diesem Lehramt nicht betrauten Gläubigen … Nur durch diese infallible Lehramt ist die gesamte Kirche indefektibel im Glauben und nur dieses Lehramt ist nach göttlicher Einsetzung und nach der Natur der Dinge nächste Glaubensregel“ (Heinrich, Dogmatik Bd. II S. 176). Also auch wenn einige Heilige, die in der Kirche verehrt werden, nicht ausdrücklich vom Papst kanonisiert wurden, auch wenn manche jahrhundertealte liturgische Praxis nicht ausdrücklich vom Heiligen Stuhl promulgiert wurde, auch wenn einige ununterbrochen festgehaltene Lehren nicht ausdrücklich dogmatisiert wurden und einige dogmatische Fakten nicht definiert, so hängen sie in ihrer Unfehlbarkeit doch nicht von den Gläubigen, sondern vom Papst und den mit ihm verbundenen Bischöfen ab, weil diese nämlich in Ausübung ihres Amtes die jeweilige Verehrung, Praxis, Lehre etc. anhaltend gestattet und befördert und nicht verboten und unterdrückt haben. Gewiß muß ein Heiliger nicht erst feierlich kanonisiert worden sein, damit wir seiner Heiligkeit sicher sein können, es genügt zu wissen, daß das unfehlbare Lehramt der Kirche nie eingegriffen und diese Verehrung nie unterbunden hat, was es zweifellos getan hätte, wenn es sich nicht wirklich um eine heilige Person gehandelt hätte.

5. Professor Mattei faßt am Schluß seine Gedanken zusammen wie folgt: „Die Kanonisation von Johannes XXIII. ist ein feierlicher Akt des Obersten Hirten, der aus der höchsten Autorität der Kirche fließt, und der mit allem gehörigen Respekt angenommen werden muß, aber in sich selbst kein unfehlbares Urteil darstellt. Um die theologische Sprache zu verwenden, es ist keine Lehre de tenenda fidei, sonder de pietate fidei. Da eine Kanonisation kein Glaubensdogma ist, besteht für die Katholiken nicht die Pflicht, ihr positiv anzuhangen. Die Einsetzung der Vernunft, verstärkt durch eine sorgfältige Untersuchung der Fakten, zeigt in aller Evidenz, daß das Pontifikat Johannes' XXIII. nicht von Nutzen für die Kirche war. … Im Zweifel halte ich mich an das vom I. Vatikanischen Konzil definierte Dogma, wonach es zwischen Glauben und Vernunft keinen Widerspruch geben kann. Der Glaube übersteigt zwar die Vernunft und erhebt sie, aber er widerspricht ihr nicht... Ich empfinde in meinem Gewissen, daß ich alle meine Vorbehalte gegenüber diesem Akt der Kanonisation beibehalten kann.“

Es freut uns sehr, daß der Herr Professor sich hier das Zeugnis eines so ruhigen Gewissens geben kann. Wir hätten damit offen gesagt ein wenig Probleme, wenn wir etwa seine Aussagen von oben mit denen eines anderen Theologen vergleichen, der sich ganz ähnlich geäußert hat: „Unfehlbarkeit, Untäuschbarkeit in diesem radikalen Sinn, meint also ein fundamentales Verbleiben der Kirche in der Wahrheit, das von individuellen Irrtümern nicht ausgelöscht wird. Aber die Wahrhaftigkeit der Kirche ist nicht absolut abhängig von explizit unfehlbaren Propositionen, sondern von ihrem Verbleiben in der Wahrheit durch alle – sogar irrige – Sätze hindurch.“ „Ein Teil oder ein anderer der Kirche kann irren, sogar die Bischöfe, sogar der Papst. Die Kirche kann sturmgeschüttelt werden, aber am Ende bleibt sie gläubig.“ „Die unverbrüchliche Festigkeit und unbeirrbare Wahrheit der christlichen Lehre hängt nicht ab von einer hierarchischen Ordnung. Sie wird gewahrt durch die Gesamtheit, das gesamte Volk der Kirche, welche der Leib Christi ist.“ Die erste dieser Aussagen stammt von Herrn Hans Küng, ebenfalls Professor, aus seinem berühmt-berüchtigten Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“, das zweite vom „Konzilstheologen“ Yves Congar, das dritte vom russisch-orthodoxen Theologen Alexei Khomiakov (beide ebenfalls zitiert bei Hans Küng a.a.O., hier leider nur in einer Rückübersetzung aus dem Englischen). In solcher Gesellschaft möchten wir uns nicht befinden. Unser Gewissen bleibt wesentlich ruhiger in der Gemeinschaft mit den Päpsten, dem heilgen Thomas und den bewährten katholischen Theologen Scheeben und Heinrich und Cano, auch wenn diese allesamt übertriebene Infallibilisten und damit definitionsgemäß „Sedisvakantisten“ sind.

6. Interessant ist hingegen eine Beobachtung des Herrn Professors Mattei vom Anfang seines Interviews, die uns auf die Fährte einer anderen beachtenswert irrigen Auffassung der Unfehlbarkeit führt. Er stellt fest, daß man heute den Eindruck habe, als wolle man das Prinzip der Unfehlbarkeit der Päpste durch das ihrer Unsündbarkeit ersetzen bzw. auf dieses ausdehnen. „Alle Päpste, oder vielmehr alle letzten Päpste seit dem II. Vatikanischen Konzil, werden als Heilige hingestellt. Es ist kein Zufall, daß die Kanonisationen von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. die Kanonisation von Pius IX. und die Seligsprechung von Pius XII. hintan ließen, während der Prozeß von Paul VI. Fortschritte macht. Es scheint fast, als solle ein Heiligenschein gelegt werden um die Ära des Konzils und Post-Konzils, um eine historische Epoche 'unfehlbar zu machen', welche in der Kirche den Primat der pastoralen Praxis über die Doktrin entstehen sah.“

Tatsächlich ist es ja sehr auffällig, daß sämtliche „konziliaren Päpste“ uns als „Heilige“ präsentiert werden. Roncalli und Wojtyla alias Johannes XXIII. und Johannes Paul II. sind schon „kanonisiert“, die „Anzeichen für ein baldige Seligsprechung des Konzilspapstes Paul VI. (1963-1978) verdichten sich“ nach einer Meldung von KNA vom 7. Mai 2014. „Als möglichen Termin für die Seligsprechung nennt Vatican Insider den 19. Oktober.“ Am einfachsten wäre es freilich gewesen, wenn die „päpstliche Doppelspitze“ Bergoglio und Ratzinger am vergangenen „Barmherzigkeitssonntag“ nicht nur Roncalli und Wojtyla, sondern auch gleich Montini, Luciani und einander gegenseitig „heiliggesprochen“ hätte; dann hätten wir sie in einem Sack und wäre das „Sixpack“ der „Konzilspäpste“ auf einen Schlag vollständig gewesen. Die Sache wäre erledigt und wir hätten sie ein für allemal hinter uns gehabt. So aber werden wir uns wohl oder übel noch einige Male „empören“ und tiefsinnig über die Unfehlbarkeit von Kanonisationen spekulieren müssen.

Was hier jedoch zutage tritt, ist ein anderes, neues Konzept von Unfehlbarkeit. Man behauptet ja auf „Traditionalisten“-Seite gerne, die „konziliaren Päpste“ würden gar nicht mehr an ihre Unfehlbarkeit glauben und diese daher nicht mehr in Anspruch nehmen. Das ist ebenfalls ein beliebtes Argument dieser Kreise, um ihren Widerstand den in ihren Augen legitimen kirchlichen Autoritäten gegenüber zu rechtfertigen. In Wahrheit glauben die „konziliaren Päpste“ sehr wohl an ihre Unfehlbarkeit, und das sogar in einer geradezu absolutistischen Weise. In ihrer Sichtweise ist es tatsächlich so, daß sie mit traumwandlerischer Sicherheit in allen Dingen stets das Rechte tun und treffen, ohne je danebentreten zu können. Insbesondere stehen sie in ständigem Kontakt und unter ständigem inspirativem Einfluß des Himmels. Daher ist jede Idee, die ihnen durch den Kopf schießt, selbstverständlich dem Heiligen Geist selbst zuzuschreiben. Erst recht gilt das für Heiligsprechungen, weshalb sie auf Untersuchungen und Wunder gut und gerne verzichten können.

So war Roncalli bekanntlich überzeugt, daß die Idee zum „II. Vatikanum“ eine Inspiration von oben gewesen ist. „Wahrscheinlich am Montag, dem 19. Januar 1959, bereitete Johannes XXIII. sich auf den Abschluß der Gebetswoche für die Einheit der Kirche vor. Da wurde ihm eine 'plötzliche und unerwartete Erkenntnis' zuteil. Er erfuhr – wie er selbst behauptet durch eine himmlische Stimme -, daß der Weg zur Einheit der Kirche über die Einberufung eines ökumenischen Konzils führe. So hat es jedenfalls der in Rom lebende Theologie-Professor, Pater Daniel Stiernon, berichtet. Johannes XXIII. erklärte aber auch selbst am 24. Januar 1960: 'Als Wir in demütigem Gebet versunken waren, haben Wir in der Intimität und Schlichtheit Unseres Geistes eine göttliche Einladung zur Einberufung eines ökumenischen Konzils gehört.' Und an anderer Stelle sagte er, daß ihn der Konzils-Gedanke wie ein 'tocco' – also wie ein 'Stoß'– getroffen habe, und nochmals an anderer Stelle: 'Wir glauben, es sei der höchste Wink Gottes gewesen, der Uns den Gedanken der Feier eines ökumenischen Konzils eingab wie die Blüte eines unerwarteten Frühlings'“ (Vom Lehramt zum Leeramt). Auch sonst sah er sich gerne als Prophet unter direktem himmlischem Einfluß.

Desgleichen ist von Wojtyla bekannt, daß für ihn „der Heilige Geist auf dem 2. Vatikanum unmittelbar zu den Konzilsvätern gesprochen“ hat. „Ja, diese haben direkt das Wort des Heiligen Geistes vernommen, es in menschliche Worte gefaßt und sodann der Welt kundgetan. Als ein solchermaßen verbürgtes 'Wort des Heiligen Geistes' hat die Botschaft des Konzils unmittelbaren Offenbarungscharakter. Wojtyla verwechselt hier offensichtlich Unfehlbarkeit mit Inspiration und hebt infolgedessen die Konzilstexte auf die Ebene der Heilige Schrift, er macht sie zu einem Wort Gottes!“ Demgemäß kommt er zu einer ganz neuen Auffassung von Lehramt: „Das Lehramt ist für Karol Wojtyla nicht mehr im katholischen Sinne unfehlbar, sondern in einem charismatischen Sinne. Während das unfehlbare Lehramt der Kirche zur Bewahrung des göttlichen Glaubens von Jesus Christus eingesetzt wurde, ist das charismatische Lehramt ein Prophetenamt, das neue Wege auftut, also Offenbarungscharakter hat. Das charismatische Lehramt promulgiert nicht nur einen Text, der von Irrtümern frei ist, sondern einen, der selbst wieder Wort Gottes und Offenbarung ist“ (Vom Lehramt zum Leeramt IV.1).

Auch über Bergoglio, der sich ja in vielem als der direkte Erbe Roncallis sieht und sich beinahe „Johannes XXIV.“ genannt hätte, bezeugt sein Sekretär Alfred Xuereb, er sei „ein Mann mit einer tiefen Spiritualität“, und berichtet: „Er lässt sich von Gott vor allem durch das Gebet inspirieren. Ich denke beispielsweise an die Visite auf Lampedusa. Er kam auf diese Idee, nachdem er oft daran dachte, als er in die Kapelle in Santa Marta hereintrat. Er sprach immer davon, dass er zu den Menschen dort hingehen müsse, damit er die Überlebenden sprechen und die Tote beweinen könne. Als er merkte, dass er oft diese Idee hatte, wusste er, dass dies eine Eingebung Gottes sei. Er tat es, auch wenn er wusste, dass es wenig Vorbereitungszeit dafür gab. Dieselbe Methode benützt er, um Menschen für bestimmte Posten im Vatikan auszuwählen.“ Also selbst in Personalfragen erhält dieser ganz offensichtlich bereits heilige „Konzilspapst“ himmlische Eingebungen und trifft diese Entscheidungen daher unter unfehlbarer Inspiration.

7. Wir fassen zusammen. Während also „traditionell“ gesinnte Professoren und „traditionalistische“ Theologen sich in die alte anti-infallibilistische „Tradition“ der orthodoxen Schismatiker, die „Tradition“ von Bossuet und den Galllikanern, den Altkatholiken oder Alt-Modernisten wie Küng und Congar stellen und die Unfehlbarkeit mehr oder weniger, direkt oder indirekt leugnen, sind die Neo-Modernisten und Post-Modernisten wieder glühende Verfechter der Unfehlbarkeit, allerdings in einem neuen, charismatischen, prophetischen und allumfassenden Sinn, der bis hin zur Unsündbarkeit geht. Während erstere die päpstliche Unfehlbarkeit ganz bestreiten oder bis zur Marginalität reduzieren wollen, führen letztere sie durch Übertreibung und Mystifizierung ad absurdum. Wenn wir nun dem albernen Prinzip anhingen, wonach die Wahrheit stets in der Mitte steht, nun...

Doch wir wissen ohnehin, wo die Wahrheit steht. Wir halten es mit den katholischen Päpsten, den echten Heiligen, den bewährten katholischen Autoren und sind überzeugte „Infallibilisten“. Wir halten dies für eine Ehrensache unter uns Katholiken, mag man uns wie auch immer der „Übertreibung“ oder des „Sedisvakantismus“ zeihen. Zu allen Zeiten hat man den wahren Katholiken solche abwertenden Etiketten verpaßt, denken wir nur an den „Ultramontanismus“. Im Himmel werden es Ehrentitel sein.